karriereführer handel/e-commerce 2023.2024 – Inspiration und Nachhaltigkeit gewünscht: Social Commerce verändert stationären Handel

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Cover naturwissenschaften 2015.2016

Inspiration und Nachhaltigkeit gewünscht: Social Commerce verändert stationären Handel

Wer behauptet, der stationäre Handel stehe vor dem Aus, irrt. Vielmehr gilt: Läden, die sich behaupten wollen, müssen klug mit der Zeit gehen und haben dann alle Chancen. Trends wie Social Commerce in digitalen Räumen zeigen, dass Kunden ein großes Bedürfnis nach Inspiration haben. Was das für den klassischen Handel heißt und auch für unsere Innenstädte, in denen dieser meist stattfindet, erklären wir in der vorliegenden karriereführer-Ausgabe.

Inspiration und Nachhaltigkeit gewünscht

Social Commerce in digitalen Räumen oder der Trend zu Reparatur und-Recycling: Der stationäre Handel in der City trifft auf Trends, die ihm Probleme bereiten. Aber nur dann, wenn er nur konventionell und nicht innovativ denkt. Denn hinter diesen Dingen steckt der Wunsch der Kundschaft nach Inspiration und Nachhaltigkeit. Und hier können die Innenstädte punkten – wenn sie an der richtigen Stelle investieren, nämlich ins Raumerlebnis und menschliche Kompetenz. Ein Essay von André Boße

Als der Autor dieses Textes noch sehr jung war, litt er unter einer Unternehmung, die er als Kind nie ganz verstanden hat: den Schaufensterbummel am Sonntag. Die Läden hatten zu, dennoch ging es mit der Familie in die City, um sich die Schaufenster anzuschauen. „Inspirieren zu lassen“, wie die Oma immer sagte. Unser Autor empfand diese Ausflüge als eine sinnlose Veranstaltung, aber wie sagt man so schön: Man hatte ja damals nichts anderes. Vor allem hatte man noch kein Online-Shopping.
„Die emotionale Ansprache aller Menschen in einer Stadt und derjenigen, die sie besuchen, ist unerlässlich für eine lebendige und lebenswerte Stadt.“

Die City als „Dritter Ort“

So antiquiert das Wort vom Schaufensterbummel auch klingen mag – hinter dem Umstand, dass an Sonntagen die Menschen in der Stadt flanierten, ohne etwas kaufen zu können, steckt mehr als nur eine Anekdote aus Vor-digitalen-Zeiten. Dahinter stecken Motiv und Sinn. Die Leute zog es damals deshalb in die Stadt, weil sie diese als inspirierenden Ort empfanden. Es gab nicht nur etwas zu sehen, nämlich dekorierte Schaufenster, auch ergab sich die Gelegenheit, anderen Menschen zu begegnen, in einem Café einen Kaffee zu trinken oder ein Eis zu genießen. Die City am Sonntag war ein attraktiver sozialer Raum. Und sie ist es im besten Fall auch heute noch. Man spricht von ihr als einem „Dritten Ort“, geprägt hat diesen Begriff der US-Soziologe Ray Oldenburg. Er meint damit einen Raum, der weder die Arbeit noch das Zuhause ist. „Dritte Orte“ sind Plätze, zu denen man sich freiwillig bewegt. Damit das passiert, müssen sie eine Anziehungskraft besitzen. Diese kann sehr verschieden definiert werden: Ein verlassener Spielplatz, der für eine Jugendgruppe attraktiv ist, könnte auf andere abstoßend wirken. Wichtig ist, dass der „Dritte Ort“ einer Zielgruppe das Angebot macht, sich mit ihm identifizieren zu können. Nicht ohne Grund spricht man bei Lieblings-„Dritten-Orten“ von „meiner Bar“, „meinem Bäcker“, „meinem Buchladen“.

„Dritter Ort“ braucht Raum

Die Idee, den Verkehr, das Einkaufen und das Wohnen räumlich zu trennen, entstand in Deutschland in den 1970er-Jahren. Weil die Vorstädte wuchsen, sollten die Zentren attraktiver werden. Dies gelang durch die Option, von Autos ungestört einkaufen zu gehen. Entsprechend reihte sich in der City Geschäft an Geschäft – unterbrochen nur von der Gastronomie. Ein „Dritter Ort“ braucht aber mehr, sagt die Architektin und Stadtplanerin Prof. Yasemin Utku in einem Interview für das Online-Portal der TH Köln: „Es braucht Räume, in denen man einfach so Zeit verbringen kann, konsumfrei. Räume, die Lust darauf machen, spazieren zu gehen, die aber vielleicht auch irgendeine Form von Erlebnischarakter haben und die für individuelle Aktivitäten angeeignet werden können.“ Auch plädiert sie für eine Mischnutzung: Es gelte, die City als „als Wohnumfeld attraktiver“ zu machen, denn dort, wo „aktive und vitale Nachbarschaften“ anzutreffen seien, entstehe auch eine Attraktivität.
In der Zeit vor der Digitalisierung gab es solche „Dritten Orte“ nur draußen, in der echten Welt. Heute finden sie sich auch im Netz, allen voran in den Sozialen Medien. Eine Innenstadt kann aber auch weiterhin ein „Dritter Ort“ sein. Wobei es nicht mehr reicht, sich einfach nur die Bezeichnung City zu geben. Das Zentrum muss etwas zu bieten haben, mit dem sich Zielgruppen identifizieren können. „Hierzu gehört es, dass eine Stadt Ambiente hat, Geschichten erzählen und Menschen begeistern kann. Die emotionale Ansprache aller Menschen in einer Stadt und derjenigen, die sie besuchen, ist unerlässlich für eine lebendige und lebenswerte Stadt“, heißt es auf dem Online-Portal „Zukunft des Einkaufens“, einem Think-Tank, das Shopping-Visionen der nahen Zukunft entwirft.

Der Feed wird zum Schaufenster

Wie eine solche „emotionale Ansprache“ funktionieren kann, zeigt ein Trend aus der Onlinewelt: Social Commerce. „Der Social-Media-Feed ist das neue Schaufenster – und die Nutzer machen mehr als nur einen Schaufensterbummel“, heißt es in einem Fachartikel der Unternehmensberatung Deloitte, veröffentlicht Ende 2022 auf dem Portal „Deloitte Insights“, verfasst von vier internationalen Deloitte-Retail-Expert*innen. Diese prognostizieren, dass der „Markt für Social Commerce im Jahr 2023 weltweit die Marke von 1 Billion US-Dollar überschreiten wird“. Das entspreche einem Jahreswachstum von 25 Prozent – was nicht übertrieben sei, „bedenkt man die mehr als zwei Milliarden Menschen, die im Jahr 2023 voraussichtlich auf einer Social-Media-Plattform einkaufen werden. Was genau hinter Social Commerce steckt? „Eine Kundenerfahrung auf einer sozialen Plattform, die Inspiration und Kauferfahrung miteinander verbindet“, definieren die Deloitte-Expert*innen.

Know your customer

Wissen über die Kunden zu vermarkten, ist für Händler ein Geschäftsmodell der Zukunft. In Frage kommt es vor allem für Anbieter mit einem breiten Sortiment. So hat in den USA Walmart die Tochter „Walmart Connect“ gegründet, ein Unternehmen, das Verbindungen herstellt: zwischen dem Anbieter eines Produkts und seinen potenziellen Kunden. Der Online-Riese Amazon geht den Weg über Inhalte: Er zeigt exklusiv große Sportereignisse und verkauft dafür auf der Plattform zielgruppengerechte Werbeinseln, mit direkter Kaufoption über Amazon. Wie der stationäre Handel hier mithalten kann? Zum Beispiel mit anlassbezogenen Angeboten und dem Verkauf von Werbeflächen im eigenen Store. Dafür muss der Handel altes Konkurrenzdenken ablegen und bestimmte andere Händler als Wettbewerber und Partner begreifen.
Ein typischer Ablauf von Social Commerce funktioniert so: Ein Produkt wird mehr oder weniger „zufällig“ entdeckt, über einen Influencer wird eine persönliche Verbindung hergestellt, eine Emotion für das Produkt. Wird dieses daraufhin gekauft, kann es mühelos digital bezahlt werden. Auf diese Art und Weise entstehen „Einkaufsmöglichkeiten, denen viele nur schwer widerstehen können“, heißt es im Deloitte-Artikel. Ein typisches Beispiel: Eine Influencerin oder ein Influencer zeigt sich in einem neuen Outfit. Das Shirt begeistert? Der virtuelle Einkaufswagen, in den man es legen kann, ist nur wenige Clicks entfernt, an der digitalen Kasse stehen mehrere Pay-Dienstleister zur Auswahl, einige wie Klarna bieten sogar an, erst in 30 Tagen zahlen zu müssen. Das Shirt dagegen wird schon am nächsten oder übernächsten Tag geliefert. Zu schön, um wahr zu sein? Nein, das ist der neue Standard: Ein Social-Media-Bummel mit super einfacher Konsumfunktion.

Influencer triggern Wünsche

Angetrieben wurde der Social-Commerce-Markt zunächst durch einen Popularitätsschub während der Corona-Pandemie, schreiben die Autor*innen vom Deloitte-Expertenteam. Und der Trend hat sich verfestigt, eng verbunden mit dem Aufstieg einer „Creator Economy“, in der Millionen Influencer oder Creators Einfluss auf ihre Follower nehmen, indem sie für Produkte werben und diese mehr oder weniger direkt an ihr Publikum verkaufen. „Diese Online-Persönlichkeiten besitzen eine globale Reichweite“, heißt es im Deloitte-Text. In vielen Ländern, darunter auch Deutschland, gäben rund 60 Prozent der Menschen an, Influencern zu folgen. „Um diese treuen Fans in Stammkunden umzuwandeln – und damit ihre Online-Inhalte zu monetarisieren – bauen Influencer Beziehungen zu ihren Followern auf, fördern die Gemeinschaft unter ihren Anhängern und verkaufen ihren Lifestyle mit jedem neuen Snapshot und Selfie.“
Ein typischer Ablauf von Social Commerce funktioniert so: Ein Produkt wird mehr oder weniger „zufällig“ entdeckt, über einen Influencer wird eine persönliche Verbindung hergestellt, eine Emotion
Das Phänomen, sich von einem Sozialen Netzwerk zum Konsum verleiten zu lassen, hat sogar einen eigenen Hashtag: „TikTok made me buy it“. In Ländern wie den USA und Großbritannien gibt es bereits einen TikTok-Shop, über den man die Produkte direkt kaufen kann – es geht also nahtlos von der Community in den Konsumvorgang. Bei uns gibt es diese Funktionen noch nicht, „vermutlich kommen diese auch früher oder später nach Deutschland“, prognostiziert Florian Treiß, Gründer von LocationInsider, einem News-Fachdienst für Themen zur Digitalisierung des Handels. Und er nennt noch einen weiteren Trend: „Live Shopping“. „Dabei präsentieren Verkäufer ihre Produkte in Echtzeit, und Kunden können diese direkt kaufen.“ Auch wenn das Prinzip an eine Mischung aus Modenschau und Verkaufsfernsehen erinnert, sei es doch ein neuer Weg, ein interaktives und unterhaltsames Einkaufserlebnis zu erschaffen, schreibt Treiß: Je nach Plattform könnten die Zuschauer des Livestreams kommentieren und Fragen stellen. „Das setzt genau an einem Punkt an, den viele Kunden bislang beim Onlineshopping vermissen: das persönliche Gespräch und die individuelle Beratung.“

Stationärer Handel ist das Original

Ein Produkt haben zu wollen, von dem man eben noch gar nicht wusste, dass es existiert – und dabei individuell beraten zu werden: Was im Social Commerce zum globalen Wachstum führt, ist den stationären Händlern in der City nicht fremd. Auch sie können Bedürfnisse entstehen lassen und Konsumenten triggern. Und bei der individuellen Beratung sind sie das Original – mit dem Vorteil, sich am selben Ort zu befinden wie die Kunden: Augenkontakt statt ChatBot. Der Retail in den Innenstädten steht damit vor der Aufgabe, seine Kernkompetenzen neu zu entdecken und mit innovativer Kraft wiederzubeleben. Das bedeutet: Die Verkaufsfläche wird zum Showroom, das Personal zu Berater*innen, die ihre Kundschaft kennen, ihre Sprache sprechen, im Idealfall das ausstrahlen, was auch Influencer zu bieten haben: eine als authentisch wahrgenommene Überzeugung für das Produkt.
„Reparatur, Recycling, Wiederverwendung und Sparsamkeit werden zunehmen. Einfach ausgedrückt: Die Verbraucher werden weniger Dinge kaufen und sich mehr mit dem Lebenszyklus von Produkten befassen.“
Daher kommt es für den stationären Handel darauf an, in Menschen und Raumkonzepte zu investieren. Mit dem Ziel, im Laden eine „Retail-Atmosphäre“ entstehen zu lassen, die es in Sachen Attraktivität mit den Social-Media-Communitys aufnehmen kann. Was wiederum nicht bedeutet, den Showroom zu „TikTok-isieren“, sondern eigene Wege zu finden – mit Hilfe von motivierten und innovativen Talenten, die sich nicht nur auf den Verkauf verstehen, sondern auch auf die Ansprache. Wichtig ist dabei, das anschließende Bezahlen nicht zu einer Hürde werden zu lassen. Lange Schlagen an den Kassen sind heute im Grunde ein No-Go – das Tempo geben die Pay-Dienstleister im Netz vor, mit ihren schnellen, unkomplizierten und kundenfreundlichen Bezahlmöglichkeiten.

Positive Konsumerfahrungen generieren

Der stationäre Handel muss seine Scheuklappen ablegen und das Geschäft neu denken – und zwar nicht am Reißbrett oder als Online-Kopie, sondern auf Basis von Wissen über die Kunden und die gesellschaftlichen Veränderungen. Eine solche nennt die amerikanische Retail-Expertin Shelley E. Kohan in ihrem Meinungsbeitrag „The 5 Biggest Retail Trends For 2023“, erschienen im US-Wirtschaftsmagazin Forbes und dort auf der Homepage abrufbar: „Reparatur, Recycling, Wiederverwendung und Sparsamkeit werden zunehmen. Einfach ausgedrückt: Die Verbraucher werden weniger Dinge kaufen und sich mehr mit dem Lebenszyklus von Produkten befassen.“

Eine Frage des Designs

Size matters? Glaubt man der Autorin Katelijn Quartier, war das einmal so, ist es heute aber anders. Worauf es im Jahr 2023 im stationären Handel ankomme, sei ein passendes Store-Design – ein Design, dass erstens den Sinn des Stores deutlich macht und zweitens für den Kunden attraktiv ist. „The Big Book of Retail Design: Everything You Need to Know About Designing a Store“, erschienen im September 2023 bislang nur in englischer Sprache, ist ein reich illustriertes und praxisnahes Buch mit Ideen für ein zeitgemäßes Store-Design. Katelijn Quariter: The Big Book of Retail Design: Everything You Need to Know About Designing a Store. Lannoo Publishers 2023. 34,99 Euro.
Wer konservativ denkt, erkennt hier einen negativen Trend. Die Stärke des Handels muss es aber sein, die Potenziale zu nutzen: „Einzelhändler haben bereits damit begonnen, diesen Bereich anzusprechen, indem sie gebrauchte Artikel in ihr Sortiment aufnehmen“, schreibt Shelley E. Kohan. Auch Reparatur- oder Tauschangebote sind mögliche Reaktionen auf den „Reparatur und Recycling“-Trend. Retail entwickelt sich damit zum Teil einer Kreislaufwirtschaft: „Gebrauchte Produkte, Recycling und Wiederverwendung werden immer mehr zum Mainstream und von den Verbrauchern zunehmend erwartet“, schreibt die Handelsexpertin. So kann es sein, dass nicht mehr der Kauf eines neuen Produkts im Fokus steht, sondern der Tausch oder die Reparatur. Was das dem Händler bringt? Mindestens so viel wie das schön dekorierte Schaufenster am Sonntag. Der Autor dieses Textes hat an einem dieser Sonntage den Besitzer des Spielwarenladens in seiner Heimatstadt gefragt, warum das Schaufenster an den Sonntagen besonders schön und üppig dekoriert sei. „Weil die Kinder beim Bummeln am Sonntag die Zeit haben, sich alles anzuschauen, und ihre Eltern dann so lange mit ihren Wünschen nerven, dass die am Montag zum Kaufen kommen.“

Der Oberhändler Alexander von Preen im Interview

Als CEO von Intersport Deutschland hat Dr. Alexander von Preen das Sport-Handelsunternehmen auf einen erfolgreichen Omni-Channel-Weg geführt. Im November 2022 ist er darüber hinaus zum Präsidenten des Handelsverbandes Deutschland (HDE) gewählt worden. Die Zukunft des Handels? Sieht er auch im digitalen Raum – aber nicht nur. Er sagt, die City stehe für die Zukunft und der Handel müsse mit dem Leben der Menschen verankert sein. Was zu tun ist, damit der Handel diese Versprechen einhält – auch darum geht es im Gespräch. Das Interview führte André Boße.

Zur Person

Als CEO von Intersport Deutschland verantwortet Dr. Alexander von Preen die Bereiche der Unternehmensstrategie und -kommunikation, Human Resources sowie das Business Partnering des Sportartikelhändlers. Der promovierte Forstwissenschaftler war mehr als 20 Jahre für die internationale Managementberatung Kienbaum Consultants tätig, zuletzt als Geschäftsführer und Equity Partner. Dabei betreute er zahlreiche Unternehmen im Handelsumfeld zu ausgewählten Themen der Corporate Governance sowie zur strategischen und operativen Unternehmensführung und Change. 2022 wählte ihn der Handelsverband Deutschland (HDE) zum neuen Präsidenten, als Nachfolger von Josef Sanktjohanser, der das Amt 16 Jahre lang ausfüllte.
Herr Dr. von Preen, die Digitalisierung hat den Handel verändert und verändert ihn weiter. Wie beurteilen Sie den Status quo der digitalen Transformation? Die Digitalisierung ist im Einzelhandel längst angekommen. Vor allem in Zeiten pandemiebedingt vorübergehend geschlossener Ladentüren haben viele Händlerinnen und Händler alternative, digitale Kanäle genutzt, um den Kontakt zu ihrer Kundschaft zu halten. Das hat der Digitalisierung in der Branche einen weiteren Schub verliehen und das Bewusstsein für die Bedeutung innovativer Technologien für das eigene Unternehmen geschärft. Denn eine zusätzliche Online-Präsenz, die Digitalisierung von Geschäftsprozessen oder auch die Einbindung digitaler Tools in den Point of Sale bedeuten einen echten Mehrwert für Handelsunternehmen. Die Digitalisierung kann die Kundenkommunikation auf ein neues Niveau heben und Unternehmensabläufe optimieren. Wo liegen die Herausforderungen bei der Umsetzung dieser sinnvollen Digitalstrategie? Händlerinnen und Händlern steht oftmals eine finanzielle Hürde im Weg. Viele Unternehmen sind krisenbedingt angeschlagen, haben ihre Rücklagen in die Unternehmen zur Krisenbewältigung investiert und können die Kosten für eine umfassende Digitalisierung nicht allein stemmen. Daher ist die Branche auf politische Unterstützung zur Zukunftsgestaltung angewiesen, um sich erfolgreich für ein nachhaltiges Wachstum aufstellen zu können. Mit Blick auf die Innenstädte: Wie groß ist die Bedeutung der Citys noch für den Handel? Sind sie weiterhin im wahrsten Sinne des Wortes das „Zentrum“ oder nur noch ein Standbein von vielen? Die Innenstadt ist die Zukunft. Unsere Stadtzentren stehen zwar vor großen Herausforderungen. Sie abzuschreiben, wäre aber vollkommen falsch. Attraktive und  lebendige Innenstädte ziehen die Menschen an und sind als Treffpunkt von gesellschaftlicher Bedeutung. Gleichzeitig sind sie Handelsstandorte, die ein persönliches Einkaufserlebnis erst möglich machen. Produkte vor Ort anzuprobieren und anfassen zu können, sich im persönlichen Gespräch beraten zu lassen oder ganz einfach zu stöbern, ist eine nicht ersetzbare Einkaufserfahrung. Vielmehr geht es darum, die stationären und digitalen Angebote des Handels verschmelzen zu lassen und das Beste aus beiden Welten zusammenzuführen. Die Zukunft muss kanalübergreifend gedacht werden. Und hierbei ist die Innenstadt ein entscheidendes Standbein. Was können Innenstädte tun, um für die Kunden attraktiver zu sein? Attraktive Innenstädte sind Orte mit hoher Aufenthaltsqualität. Um sie zu gestalten, müssen alle innerstädtischen Akteure an einem Strang ziehen und zukunftsfähige Konzepte entwickeln. Zu berücksichtigen sind Elemente wie Grün- und Wasserflächen, die richtige Mischung aus Handel, Gastronomie, Kultur und Verwaltung sowie die Verkehrsplanung. Ein Patentrezept gibt es nicht. Doch es gibt viele Städte, die schon heute mit tollen Projekten und Aktionen vorangehen. Nicht vergessen dürfen wir, dass der Klimawandel unsere Innenstädte vor eine zusätzliche Herausforderung stellt. Städte müssen sich an die veränderten klimatischen Bedingungen anpassen – und der Handel mit ihnen.
Attraktive Innenstädte sind Orte mit hoher Aufenthaltsqualität. Um sie zu gestalten, müssen alle innerstädtischen Akteure an einem Strang ziehen und zukunftsfähige Konzepte entwickeln.
Wie sehen Sie den Handel in Deutschland aufgestellt, wenn es darum geht, Maßnahmen für mehr Klimaschutz zu ergreifen? Dem Handel kommt an der Schnittstelle zu den Verbraucherinnen und Verbrauchern auch im Klimaschutz eine besondere Rolle zu. Dieser Verantwortung sind sich die Handelsunternehmen bewusst. Nachhaltigkeit in den Sortimenten und in den Lieferketten wird immer wichtiger, Gleiches gilt für die Energieeffizienz des eigenen Unternehmens. Daher leisten Händlerinnen und Händler schon heute einen bedeutenden Beitrag zum Ausbau von Photovoltaik und E-Ladeinfrastruktur in Deutschland. Da ist der Handel auf einem guten Weg. Sie haben einmal gesagt, der Handel müsse „im Leben verankert“ sein. Was meinen Sie konkret mit diesem Bild? Der Einzelhandel ist ein Ort der Begegnung, der nicht aus dem Alltag der Menschen wegzudenken ist. Als Versorger, Arbeitgeber und Treffpunkt ist der Handel fester Teil der Gemeinschaft vor Ort. Ihm kommt eine gesellschaftliche Rolle zu. Geschäfte sind Anziehungspunkte, die Städte und Regionen beleben. Zudem unterstützen Händlerinnen und Händler örtliche Veranstaltungen und fördern Vereine. Sie prägen das Miteinander und verbinden Menschen. Wenn ein Betrieb seine Türen für immer schließt, verliert eine Stadt daher nicht einfach ein Geschäft. Jede Geschäftsaufgabe hinterlässt eine Lücke in der Gesellschaft. Da geht ein Stück Heimat verloren. Umso wichtiger ist es, sich für einen starken, vitalen und vor Ort verankerten Handel einzusetzen.
Für erfolgreiche Veränderungsprozesse muss man Überzeugungsarbeit leisten, zuhören können und als Vorbild vorneweg gehen.
Der Handel ist schon immer von Veränderungen geprägt worden, Sie sind damit ein Experte für den Wandel? Intersport ist eine erfolgreiche Transformation in Richtung E-Commerce gelungen. Wie begeistert man Menschen für Veränderungen? Für erfolgreiche Veränderungsprozesse muss man Überzeugungsarbeit leisten, zuhören können und als Vorbild vorneweg gehen. Wichtig ist, den Mehrwert einer Veränderung greifbar zu machen. Wenn jeder Einzelne seine Rolle im Prozess kennt, sich dieser Aufgabe aus Überzeugung annimmt und sich mit dem Vorhaben identifiziert, lässt sich das Ziel der Veränderung gemeinsam erreichen. Doch es kommt auch darauf an, zuzuhören. Um alle Beteiligten an Bord zu holen, braucht es einen engen und persönlichen Austausch. Hier geht es vor allem darum, sich mögliche Bedenken anzuhören, diese auszuräumen oder die Anregungen im Veränderungsprozess zu berücksichtigen. Alle Akteure sollten sich einbringen können. Dadurch wächst meist die Begeisterung für Veränderungen. Bei der Transformation von Intersport Deutschland habe ich erlebt, wie wichtig das persönliche Vorleben und auch das Vertrauen des Führungsteams sind. Wenn alle an einem Strang ziehen und klare Ziele gemeinsam verfolgen, gelingt auch scheinbar sehr Herausforderndes. In welchen Momenten merken Sie immer wieder: „Ja, der Handel ist genau die richtige Branche für mich“? Das sind viele Momente und vor allem die persönlichen Begegnungen mit unseren Händlerinnen und Händlern in ganz Deutschland und mit meinem Team in Heilbronn. In jedem Austausch mit unseren Händlerinnen und Händlern erlebe ich, welche Leidenschaft sie für Sport und unsere Produkte mitbringen. Der gemeinsame Spirit, aus Liebe zum Sport, Menschen zu einem besseren Leben zu verhelfen, eint uns. Das ist eine große Triebfeder – es ist unser Purpose. Angenommen, Sie hätten die Möglichkeit, für eine Gruppe junger Absolvent*innen, die sich für einen Einstieg im Handel interessieren, ein Tagesprogramm zu organisieren, um einen Tag lang möglichst viel über den Handel zu lernen. Was würden Sie mit der Gruppe unternehmen? Mein Ziel wäre es, den Absolventinnen und Absolventen im Laufe des Tages die gesamte Vielfalt und Breite des Einzelhandels zu zeigen. Der Tag wäre ein abwechslungsreicher, der uns durch Warenlager, Büros in Unternehmenszentralen sowie insbesondere auf die Verkaufsfläche führen würde, um den wertvollen Kontakt zu unseren Kunden erleben zu können, und natürlich in die Innenstadt. So erhalten die jungen Menschen einen Einblick in die vielen Facetten des Einzelhandels. Als Ausklang am Abend gäbe es ein Treffen mit Führungskräften, die ihre Karriere mit einer Ausbildung im Einzelhandel begonnen haben.

„Unsere Stadtimpulse“

Wie bleiben Innenstädte attraktiv, auch gegen den Konkurrenten Internet und durch den Klimawandel immer heißere Temperaturen? Und können sie selbst zu mehr Klimaschutz beitragen, zum Beispiel, indem sie die Mobilitätswände fördern? In vielen deutschen Städten entstehen gute Ideen – damit sich andere von diesen inspirieren lassen können, hat der HDE gemeinsam mit dem Deutschen Städte- und Gemeindebund und dem Deutschen Städtetag den Best-Practice-Datenpool „Stadtimpulse“ ins Leben gerufen. Unter unsere-stadtimpulse.de sind gelungene Beispiele für innerstädtische Projekte online abrufbar, die zeigen, wie es gehen kann.

telegramm – Neues aus der Welt der Nachhaltigkeit

Lebensmittel drucken

Jährlich landen rund ein Drittel aller produzierten Lebensmittel auf dem Müll. Dagegen will die niederländische Industriedesignerin und Lebensmitteltechnologin Elzelinde van Doleweerd vorgehen. Sie hat einen 3D-Drucker entwickelt, mit dem aus Lebensmittelresten neue Produkte zum Verzehr entstehen. Altes Brot, Gemüse, Schalen oder gekochter Reis werden zu einer Masse verarbeitet. Der 3D-Drucker macht daraus, zusammen mit Kräutern und Gewürzen, neues ansehnliches Essen. Elzelinde van Doleweerd berät mit ihrem Start-up Upprinting Food Restaurantmanager und Köche, welche Lebensmittelabfälle in ihrer Küche wiederaufbereitet werden können.

Hanfleder statt Tierleder

Wer kein Leder will, greift oft zu Kunstleder. Dies besteht allerdings aus Plastik und ist daher schädlich für die Umwelt. Das Darmstädter Start-up Revoltec, eine Ausgründung der TU Darmstadt, hat nun eine Alternative entwickelt: Lovr sieht aus wie Leder, fühlt sich an wie Leder, wird aber aus übriggebliebenen Materialien aus der Hanfproduktion hergestellt. Es ist recycelbar und biologisch abbaubar. Lovr ist die Abkürzung für „lederähnlich, ohne Plastik, vegan, reststoffbasiert“. Noch ist das Produkt nicht auf dem Markt. Die Gründer planen derzeit den Schritt vom Labor in die Industrie.

Mineralölfreie Hydraulikflüssigkeiten

Die Stahl-, Aluminium- und Kupferindustrie setzt häufig Hydraulikanlagen ein, die mit umweltschädlichem Hydrauliköl laufen. Der Kamener Mittelständler„Fluid Competence“ hat eine umweltfreundliche Alternative entwickelt: Seine mineralölfreien Hydraulikflüssigkeiten sind in 28 Tagen bis zu 99 Prozent biologisch abgebaut. Die Mischung der Flüssigkeiten ist ein Betriebsgeheimnis, Wasser und Polymere sind auf jeden Fall enthalten. Die neuen Hydraulikflüssigkeiten sind auch besser für die Maschinen, so dass sie länger wartungsfrei laufen. Auch das belastet die Umwelt weniger.

Whisky im Tank

Die schottische Whiskybrennerei Glenfiddich nutzt seit einiger Zeit Destillerie-Abfälle als Treibstoff für ihre Lkw. Das Getreide, das im Mälzprozess übrigbleibt, wird zur Herstellung von Kraftstoff verwendet. Die Brennerei hat bereits drei Lkw umgerüstet. Sie fahren nun statt mit Flüssigerdgas mit dem auf Whiskyabfällen basierenden Biogas. Die gesamte schottische Whisky-Industrie will bis 2040 emissionsfrei werden.

Warenkorb – Kultur-, Buch- und Linktipps

FILMTIPP: „ALLES, WAS MAN BRAUCHT“

Cover Alles was man braucht
Cover Alles was man braucht
Zwei Jahre lang ist Filmemacherin Antje Hubert mit ihrem Team durch nord- und ostdeutsche Dörfer gereist und erzählt nun in ihrem Film „Alles, was man braucht“ von Menschen, die im Vakuum fast verloren gegangener Traditionen etwas Neues wagen: Eine ehemalige Verkaufsstellenleiterin rettet ihren alten „Konsum“ durch die Zeit, ein weitgereister Koch wird Leiter eines kleinen Lebensmittelmarktes, eine Höfegemeinschaft mit Bioladen entwickelt auf einer alten LPG Lösungen für eine nachhaltige und gerechte Welt, ein Bürgermeister baut einen Verkaufsautomaten und ein Supermarktbesitzer übernimmt die aufwändige Versorgung der Halligleute im Wattenmeer. www.antjehubert.de/film/alles-was-man-braucht/

NETZWERK DER FOODBRANCHE

Das Frauenforum Foodservice findet jährlich statt und bringt seit neun Jahren hochkarätige Speakerinnen aus der Food- und Gastronomiebranche auf die Bühne und gilt als eines der wichtigsten Networking-Events der Branche. Initiator ist der Verein Frauennetzwerk  Foodservice e. V. www.frauennetzwerk-foodservice.de

FAIRE WOCHE

Foto: Fotolia/Ian 2010
Foto: Fotolia/Ian 2010
Im September jeden Jahres findet seit 2001 die Faire Woche statt: 2023 drehte sich unter dem Motto „Fair. Und kein Grad mehr!“ alles um das Thema Klimagerechtigkeit und Fairer Handel. Veranstalter der fairen Woche sind das Forum Fairer Handel e. V. in Kooperation mit Fairtrade Deutschland e. V. und dem Weltladen-Dachverband e. V. www.faire-woche.de

„NATURSCHUTZ AUF DEM TELLER“

Cover Naturschutz auf dem TellerWeiden und Wiesen sind nicht nur attraktive Kulturlandschaften, sie sind auch von unschätzbarem Wert für den Arten-, Natur- und Klimaschutz. Um sie zu erhalten, braucht es nicht nur engagierte Naturschützer und nachhaltig produzierende Landwirte, sondern auch aufgeklärte Konsumenten. Denn nur wenn wir um die Zusammenhänge wissen und die Erzeugnisse der Grünlandwirtschaft nachfragen, bleiben Weidetiere wie Kühe oder Schafe Teil unserer Landschaft – bunte Wiesen mit Schmetterlingen und Bienen inklusive. Ein eindringliches Plädoyer für artgerechte Tierhaltung und Fleisch- und Milchproduktion vor Ort. Gereon Janzing: Naturschutz auf dem Teller. Oekom 2023. 20 Euro.

FOOD REPORT 2024

Cover FoodreportDer Wandel der Esskultur hat weitreichende Auswirkungen auf die Produktentwicklung, auf Marketingstrategien und das Supply-Chain-Management von Unternehmen in der Lebensmittelbranche. Sein Einfluss reicht aber auch tief in angrenzende Branchen hinein – bis in die Politik: in die Gestaltung von Verbraucherschutzgesetzen, Agrarpolitik und Umweltrichtlinien. Die Treiber des Wandels sind dabei vielfältig, denn Essen ist emotional, im Essen manifestieren sich Veränderungen von ethischen und ökologischen Werten der Konsumierenden ebenso wie ihre geschmacklichen Ansprüche. Der Food Report 2024 beleuchtet die Esskultur von morgen aus verschiedenen Perspektiven und stellt Lösungsansätze für die Herausforderungen der Food- und Beverage-Branche in den Fokus. www.futurefoodstudio.at

TIPPS VOM BUNDESUMWELTAMT

Fast ein Drittel der produzierten Lebensmittel landen im Müll. Lebenswichtige Ressourcen wie Ackerflächen und Wasser werden unnötig verschwendet, vermeidbare Treibhausgase entstehen. Dabei ist vieles, was auf dem Müll landet, eigentlich noch genießbar. Das Bundesumweltamt gibt Tipps, um Lebensmittelabfälle zu vermeiden: vom gut geplanten Einkauf über die kreative Verwertung von Resten bis zur richtigen Lagerung. www.umweltbundesamt.de

SICHT IM LABEL-DSCHUNGEL

Foto: AdobeStock/Aquir
Foto: AdobeStock/Aquir
Labels dienen Verbraucherinnen und Verbrauchern als praktischer Rat beim Einkauf. Unter „Label“ oder auch „Siegel“ mal allerdings verschiedene Informationssysteme und Managementinstrumente. Die Plattform „label-online“ stellt Label-Arten, von Regionallabels über Gütezeichen bis zu Prüflabels und Clean Labels vor. www.label-online.de

karriereführer bauingenieure 2023.2024 – Bau braucht das Hybrid-Office

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Cover karriereführer bauingenieure 2023.2024

Bau braucht das Hybrid-Office

Digital! BIM! Automatisierung! In der Bauindustrie werden Leute mit digitalem Know-how benötigt. Diese zu finden, ist eine Hardcoreaufgabe, da der Bau in Konkurrenz zu den coolen digitalen Branchen steht. Das beste Mittel gegen die Überforderung im Zeitalter der Polykrisen: Raus auf die Baustelle. Dabei sein, wenn der Bau entsteht. Planen. Diskutieren. Anpacken.

Die 3 Trends: Fachkräftemangel, Nachhaltigkeit, Digitalisierung

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3 Trends – 3 Fragen an Peter Hübner, Präsident der BAUINDUSTRIE

Der Fachkräftemangel gilt schon seit Jahren als Risiko für die Bauindustrie. Was hat die Branche für Einsteiger*innen zu bieten?
Ganz einfach: Wir bieten für jede und jeden das Richtige. Ob als Bauzeichner oder Gleisbauerin, Bauingenieurin oder Baugeräteführer – die Branche bietet eine Vielzahl von Ein- und Aufstiegsoptionen für Interessierte aller Bildungsstufen, Fähigkeiten und Talente. Technisches Verständnis, Spaß an der Arbeit im Freien, planerisches Geschick oder kreatives Können – für jede Veranlagung bietet der Bau spannende Möglichkeiten zur Verwirklichung.

Es stimmt aber auch die finanzielle Seite. Unsere Auszubildenden profitieren von den besten Ausbildungsvergütungen bundesweit. Dazu kommen sichere, tariflich festgelegte Löhne mit Zuschlägen, ein verlässlicher Arbeitsschutz und eine Sozialkasse, die eine hohe Sicherheit auch in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten gewährt. Und, nicht zu vergessen, viele Möglichkeiten zur beruflichen Weiterentwicklung bis in hohe Leitungsfunktionen.

Was uns im Kern aber ausmacht ist der enge Bezug zur Praxis. Wer bei uns arbeitet, schafft Werte mit den Händen, mit klugen Ideen, mit modernster Technik. Und was er oder sie heute erbaut, wird im besten Fall gebaute Umwelt für Generationen nach uns. Bau ist damit nicht nur ein Job – Bau ist Identifikation.

Nachhaltigkeit ist das Gebot der Stunde – auch für die Bauindustrie. Was sind die wichtigsten Stellschrauben, um klima- und umweltfreundlich zu bauen?
Heute und in Zukunft noch viel mehr hängt die Antwort auf diese Frage davon ab, ob und wie das Bauwerk und sein Entstehungsprozess dem Klimaschutz dienen. Darin liegt eine gigantische Herausforderung, der wir uns als Bauindustrie stellen wollen – und müssen. All die Modernisierungsmaßnahmen unserer gebauten Umwelt, unserer Städte und Infrastrukturen gilt es so zu konzipieren, dass sie den Anforderungen des Klimawandels und der Nachhaltigkeit standhalten können. Hiermit sind enorme Bauaufgaben verbunden.

Last, but not least darf das Bauen nicht selbst zum Problem werden. Die gesamte Branche arbeitet unter Hochdruck daran, sich zu dekarbonisieren. Das betrifft vor allem die Baustoffe, aber auch Bauverfahren, Maschineneinsatz, Transport, Logistik und so weiter. Die vermehrte Nutzung von Recyclingmaterial und der Ausbau der Kreislaufwirtschaft rücken dabei mehr und mehr in den Fokus. „Bauen für mehr Klimaschutz“ heißt, neue Wege zu beschreiten. Das ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, die glücklich macht und damit sind wir wohl die wichtigste Branche unserer Zeit. In unseren Händen liegt es, Bauwerke heute schon so zu bauen, dass für die nächsten Generationen die lebenswerte Welt erhalten wird.

Die Digitalisierung hat auch auf die Baubranche weitreichende Auswirkungen. Welche Kompetenzen sollten junge Bauingenieur*innen mitbringen?
Neben unseren zahlreichen Aufgaben im Klimaschutz brauchen wir die Digitalisierung auch aus einem anderen Grund: Sie wird uns helfen, unsere Produktivität zu steigern. Das ist dringend erforderlich, um die immensen Bauaufgaben zu lösen. Die Digitalisierung ist sowohl im Studium als auch in der Berufsausbildung selbstverständlicher Bestandteil. Denn sie macht den Bau nicht nur effizienter, sondern auch uns als Arbeitgeber attraktiver.

Das Bauen der Zukunft wird also durch eine gemeinsame Arbeitsweise geprägt sein – viele Akteure arbeiten in unterschiedlichen Phasen zusammen auf ein Ziel hin: ein optimales Bauwerk. Neben einer Affinität zu digitalen Anwendungen und Prozessen sollten junge Bauingenieurinnen und Bauingenieure daher vor allem ein flexibles Mindset mitbringen, um die Möglichkeiten der Digitalisierung und das Potenzial einer vernetzten Zusammenarbeit im Job auch nutzen zu können.

Infos zu allen Themen, die die Branche bewegen:

www.bauindustrie.de

Bau braucht das Hybrid-Office

Auf der Baustelle passiert’s, das ist so und das wird auch so bleiben. Klar ist aber auch, dass die Branche digitaler wird. Nur so lassen sich steigende Kosten und wachsende Ansprüche in den Griff bekommen. Der Bau muss daher attraktiv für digitale Talente sein. Was heißt, dass New Work ein Thema wird und die Akteure der Bauindustrie ein digitales Mindset entwickeln müssen. Nur dann gelingt der Quantensprung, den die Branche braucht. Ein Essay von André Boße In einem Gastbeitrag in der Ausgabe 3/2023 des Verbandsmagazins „vm“ des VdW Rheinland Westfalen, dem Interessenverband der Wohnungswirtwirtschaft im Westen, weist Dr. Volker Wiegel, COO des Wohnungsunternehmens LEG Immobilien, auf eine interessante Beobachtung hin. Er habe sich, schreibt er, von Besuchern Bilder von der Autoproduktion aus der Vergangenheit, konkret den 30er-Jahren, sowie aus der Gegenwart zeigen lassen. Die Bilder zeigten zwei Welten, aus einem Manufakturbetreib habe sich eine Roboterstraße entwickelt. Dann zeigten ihm Besucher Bilder von Baustellen aus den jeweiligen Jahren. „Hier mussten wir den technologischen Fortschritt eher suchen, als dass er uns ansprang.“

Digitalisierter Bau? Funktioniert auch in der Praxis

Volker Wiegel stellte sich daraufhin die Frage: „Warum sollte es nicht möglich sein, Baustellen ähnlich radikal umzuorganisieren?“ Weg von der Manufaktur, wo jede Sanierung und jedes Gewerk individuell geplant werde, hin zu einem „digitalen Baukasten, wo das Gebäude zur Lösung passen muss, wo die Individualität sich in der Kombination von verschiedenen vordefinierten Lösungsmöglichkeiten erschöpft – dafür aber blitzschnell gewerkeübergreifend ganzheitlich geplant wird, möglichst wenig Handarbeit notwendig ist, die Baustelle ruckzuck fertig, das Gebäude vollständig dekarbonisiert ist.“ Um das hinzubekommen, sei ein „Quantensprung“ nötig. Was wiederum schwieriger klinge, als es zu verwirklichen ist, wie Wiegel schreibt. Im Bereich der Sanierung, dem Kerngeschäft von LEG Immobilien und dem auf Innovationen spezialisierten Tochterunternehmen Renowate, habe man bereits Erfahrungen gesammelt. Erste Erkenntnis: „Abläufe sind tatsächlich massiv verbesserbar – beim ersten Projekt hat es noch Wochen gedauert, bis aus der digital vermessenen Punktwolke die Planung für die Module und Technik stand, inzwischen sind es dank algorithmusbasiertem Vorgehen wenige Tage.“ Zweite Erkenntnis: „Gewerke so zu kombinieren, dass möglichst viele Bauteile aus einem Guss installiert werden können, ist Tüftelei und Teil ständiger Fortentwicklung.“ Was die ersten Projekte gezeigt hätten: „Eine Bausanierung, die dem Stand der Digitalisierung im Jahr 2023 gerecht wird, „ist nicht nur Theorie, sondern funktioniert auch in der Praxis.“

Digitalisierung macht Bau attraktiver

Für die Bauindustrie kommt es darauf an, schnell und dynamisch in die Umsetzung zu kommen. Die im Mai 2023 veröffentlichte Studie „Digitalisierung der Baubranche“, erstellt von der RPTU Kaiserslautern, Innovations-Think- Tanks sowie den Fraunhofer Instituten für Experimentelles Software Engineering und Techno- und Wirtschaftsmathematik, basiert auf Interviews mit Verantwortlichen aus dem deutschen Bauwesen. Gefragt wurde unter anderem nach den positiven Effekten, die sich die Branche von digitalen Prozessen verspricht.

BIM-Portal der Bundesregierung

Das Ende 2022 gestartete BIM-Portal des Bundes bietet allen am Bau Beteiligten eine Plattform, die einen einheitlichen Datenaustausch ermöglicht – zentral verfügbar und kostenlos. Das Portal stellt Informationen, Anwendungen und einheitliche Daten bereit. Dazu zählen unter anderem interaktive und webbasierte Werkzeuge, Datenbibliotheken sowie herstellerneutrale Bauteile-Informationen, die Auftraggeber, Auftragnehmer und Bauprodukthersteller bei der Erstellung von Projekt- und Produktdaten unterstützen sollen. „Von dem Portal erhoffe ich mir einen Anstoß für einen echten Kulturwandel beim Bauen und die konsequente Digitalisierung von Planungs- und Genehmigungsverfahren. Bis 2025 wird es bei öffentlichen Bauvorhaben bundesweit heißen: Digital ist besser“, wird Bundesverkehrsminister Dr. Volker Wissing auf der Homepage der Bundesregierung zitiert. www.bimdeutschland.de
Laut Studie seien die primären Hoffnungen, durch optimierte Prozesse effizienter zu bauen und direkter mit allen Beteiligten zu kommunizieren. Diese beiden Aspekte berühren das Feld der Produktivität: Die Digitalisierung soll Abläufe verbessern, dadurch die Effizienz steigern und somit auch Kosten reduzieren. Hier sind digitale Methoden also ein Tool, um trotz steigender Kosten und wachsender Ansprüche günstig zu bauen. Interessant ist ein dritter häufig genannter Punkt: Die Teilnehmenden versprechen sich von der Digitalisierung der Branche „eine Steigerung der Attraktivität des Berufsbilds sowie der Branche selbst“. Den Verantwortlichen aus dem Bauwesen ist also bewusst, dass der Fachkräftemangel in erster Linie dadurch bekämpft werden kann, dass Prozesse digitalisiert werden. Anders gesagt: Eine Branche, die bei dieser technischen Transformation nicht ins Tempo kommt, verliert mehr als nur ihre Produktivität – sie verliert auch den Bezug zur jungen Generation, die digitale Prozesse längst als Selbstverständlichkeit begreift. Zum Problem wird der Fachkräftemangel schon deshalb, weil er das Vorhaben, durch mehr Dynamik bei der Digitalisierung an Attraktivität zu gewinnen, bremst: So „hake“ die Digitalisierung zumeist nicht wegen technischer Probleme, sondern, weil Leute fehlten oder die Belegschaft nicht die notwenige Akzeptanz zeige. Hinzu kommen finanzielle Belastungen, die dann entstehen, wenn Mitarbeitende für Weiterbildungen freigestellt werden müssten. Entsprechend nennen die für die Studie befragten Bauunternehmen in erster Linie einen Lösungsansatz, der nichts mit Technik oder Regulierungen zu tun hat, sondern mit Menschen: Eine große Bedeutung erhielten laut der Studie Vorbilder in den Unternehmen, die wie Pioniere denken – und damit dazu beitragen, dass diese Unternehmen zu Vorreitern in der Branche werden.

Gesucht sind Pioniere

Gesucht sind also Pioniere und Leuchttürme – und zwar innerhalb des Bauwesens, aber auch in den Unternehmen selbst. Für die junge Generation, die sich jetzt für einen Einstieg interessiert, bedeutet das: Wer digitale Kompetenzen mitbringt und die Ambition besitzt, diese mit viel Dynamik ins Unternehmen einzubringen, der wird sich dort sehr schnell ein ausgezeichnetes Standing erarbeiten können. Wobei es dabei auch darauf ankommt, die Mitarbeitenden, die digitalen Prozessen kritisch gegenüberstehen, von der Transformation zu überzeugen.
61 Prozent der Befragten gaben an bislang weder ein BIM-Projekt durchgeführt zu haben, noch befinde sich ein solches in der Planung. Das Ergebnis ist deutlich: BIM ist noch weit davon entfernt, eine Standardmethode zu sein.
Die besondere Herausforderung bei der digitalen Transformation ist die Vielzahl der Akteure, die an großen Projekten beteiligt sind. Diese spielen verschiedene Rollen, einige von ihnen sind nur in bestimmten Stadien des Vorhabens involviert, andere – und zu dieser Gruppe zählen in der Regel auch die Bauingenieur*innen – stehen vor der Aufgabe, den gesamten Prozess zu überblicken und zu steuern. Hinzu kommt, dass der Grad der Digitalisierung, aber auch die Ambition, den Wandel anzunehmen, von Akteur zu Akteur sehr verschieden sein können. Was nicht dazu führen darf, dass der am wenigsten digitalisierte Beteiligte alle anderen auf sein Niveau runterzieht. Die gute Nachricht: Mit dem Building Information Modell (BIM) gibt es eine Methode, diese digitale Diversität zu managen.

Studie: 61 Prozent der Verantwortlichen am Bau noch ohne BIM-Erfahrung

Gesprochen wird über BIM bereits einige Jahre. Es gibt die Software, es gibt die nötigen Standardisierungen. Und auch der Gesetzgeber forciert die Nutzung der Methode. Da stellt sich die Frage: Wie wird BIM eigentlich in der Praxis angenommen? Das auf das Bauwesen spezialisierte Softwareunternehmen Orca führt seit einigen Jahren Studien durch, um die Akzeptanz von BIM auf dem Bau zu analysieren. Die Studie fragte in erster Linie Bauingenieur*innen und Fachplaner*innen sowie Architekt*innen nach ihren Erfahrungen; Anfang 2023 veröffentlichte das Unternehmen die neuesten Ergebnisse. Eines davon: 61 Prozent der Befragten gaben an bislang weder ein BIM-Projekt durchgeführt zu haben, noch befinde sich ein solches in der Planung. Das Ergebnis ist deutlich: BIM ist noch weit davon entfernt, eine Standardmethode zu sein.

Der Markt für BIM-Spezialisten

Die BIM-Studie des digitalen Baudienstleisters Bimondis aus dem Jahr 2022 geht der Frage nach, aus welchen Gründen Fachkräfte einen Wechsel des Arbeitgebers anstreben. Mit deutlichem Abstand am häufigsten genannt wird dabei eine fehlende BIM-Strategie (60 Prozent). Auch der am zweithäufigsten genannte Grund hat etwas mit BIM zu tun: 33 Prozent nennen fehlende BIM-Experten im Team als Grund eines Wechsels. Der Grund „bessere Bezahlung“ folgt auf Rang drei mit 32 Prozent. Auf Platz vier folgt der „Wunsch nach Sinnhaftigkeit“ der Tätigkeit mit 25 Prozent. Dass kaum oder keine Remote-Arbeit möglich ist, nennen 18 Prozent als Grund, den Job zu wechseln. Eine zu hohe Arbeitsbelastung lediglich 16 Prozent.
Haben Projektverantwortliche jedoch schon einmal mit der Methode gearbeitet, sind die Reaktionen darauf laut Studie überwiegend positiv: 48 Prozent der Befragten bewerten die Erfahrungen bei einem BIM-Projekt als positiv, zusätzliche zwölf Prozent sogar als sehr positiv. Während 35 Prozent der Teilnehmenden das Urteil „neutral“ abgeben, ist die Bewertung nur bei drei Prozent negativ, lediglich bei einem Prozent sehr negativ. Auch hier zeigt die Studie eine deutliche Erkenntnis: Wenn ein Projekt mit BIM arbeitet, sind die Beteiligten damit größtenteils zufrieden oder sogar sehr zufrieden. Was also bremst die Methode?

Mangel an BIM-Kräften bremst die Transformation

Ein Aspekt ist auch hier der Mangel an qualifizierten Köpfen. Die Studie „Der Markt für BIM-Spezialisten in Deutschland 2022: Hohe Nachfrage und neue Arbeitsmodelle“ des digitalen Baudienstleisters Bimondis von Ende 2022 zeigt, dass zu diesem Zeitpunkt 4400 BIM-Stellen ausgeschrieben waren. Eine Analyse dieser Ausschreibungen offenbarte, dass es dabei eine klare Präferenz für Vollzeitstellen gab, „alternative Arbeitsmodelle wie Remote Only oder Hybrid haben sich noch nicht flächendeckend durchgesetzt“, heißt es in der Zusammenfassung der Ergebnisse. Der Anteil der BIM-Stel len, die Remote-Only zu besetzen waren, lag bei unter einem Prozent. Dabei ergibt sich zwischen den Wünschen der BIM-Expert*innen und dem, was die Arbeitgeber zu bieten haben, ein Widerspruch: Laut Studie haben „angestellte BIM-Experten großes Interesse freiberuflich zu arbeiten und finden eine Kombination aus Teilzeit-Festanstellung und freiberuflichen Aktivitäten interessant.“ Kurz: New Work und freies, projektbezogenes Arbeiten sind ein großes Thema. Jedoch stehe die Zusammenarbeit mit Freelancern in der Baubranche noch ganz am Anfang. Die befragten BIM-Profis gaben an, häufig neue Job-Angebote zu erhalten – kein Wunder, wenn der Bedarf hoch ist. Jedoch unterscheide sich das, was die Unternehmen mit Fokus auf den Inhalt der Arbeit oder die Aufstiegschancen zu bieten haben, kaum – und wenn, dann in erster Linie beim Gehalt.

Gehalt? Weniger wichtig als Inhalte und digitale Durchdringung

Doch in diesem jungen und dynamischen Berufsfeld des BIM-Managements ist Geld nicht alles, im Gegenteil, die Bimondis-Studie kommt zu dem Ergebnis: Attraktiv seien in erster Linie Unternehmen, die eine erfolgreiche und konsequente Umsetzung einer BIM-Strategie vorzuweisen haben. „Für BIM-Experten sind Inhalte und Aufgabe ein wesentlich wichtigeres Kriterium bei der Wahl des Arbeitgebers als das Gehalt.“ Die Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb des Unternehmens schätzen die BIM-Expert*innen überwiegend als „schlecht“ ein.

Nachhaltigkeit: es geht voran

So schleppend der Fortschritt bei der Digitalisierung voran geht, so erkennbar seien die Fortschritte beim Thema Nachhaltiges Bauen, heißt es in der PwC-Studie von Ende 2022 „Die Bauindustrie in anspruchsvollen Zeiten: Geopolitik, Digitalisierung und Nachhaltigkeit“. 83 Prozent der befragten Verantwortlichen in den Bauunternehmen hielten das Thema Nachhaltigkeit in der Bauindustrie für wichtig – „ein Plus von 15 Prozentpunkten im Vergleich zum Vorjahr“, heißt es in der Studie. Gut die Hälfte der Unternehmen habe mittlerweile Nachhaltigkeitsstrategien verabschiedet. Auch bei diesem Thema stellten fehlendes fachliches Know-how und zu geringe Umsetzungskompetenz die größten Hürden dar, wenn es darum geht, Nachhaltigkeitsstrategien erfolgreich zu etablieren.
Treffen in der Baubranche beim zentralen Thema Digitalisierung also zwei Welten aufeinander, die kaum vereinbar sind? Die Bimondis-Studie zeigt, dass Wandel möglich ist. So habe die große Mehrheit der befragten BIM-Expert*innen beschrieben, dass ihr Arbeitgeber sich für hybride Arbeitsmodelle offen zeige. „Auch die Unternehmen, die bislang ein klassisches Modell mit Präsenzpflicht vor Ort verfolgen, haben mittlerweile verstanden, dass sie sich damit als Arbeitgeber immer mehr disqualifizieren.“ Bei den Unternehmen, die ihre eigene digitale Transformation seit vielen Jahren konsequent vorantreiben und konsequent auf die BIM-Methode setzen würden, liege der Home-Office Anteil laut Studie bei 20 bis 40 Prozent.

Hybrider Bau: Jede Baustelle braucht einen digitalen Projektraum

Klar, bei einem Bauprojekt spielt die Präsenz eine andere Rolle als bei Projekten anderer Branchen. Die Baustelle ist und bleibt der zentrale Ort. Hier passiert der Bau. Hier realisieren sich die Planungen – und zwar mit Steinen, Beton und Stahl oder mit Lehm, Holz, Naturfasern. Richtig ist aber auch, dass es neben der Baustelle heute eben auch digitale Plattformen gibt, mit BIM als zentraler Methode. Auch hier passiert der Bau, indem Planungen entwickelt, Gewerke koordiniert, Abläufe kontrolliert, Prozesse gemanagt werden. Um den notwendigen Schritt in die digitale Zukunft zu machen, benötigt die Baubranche dringend digitale Expert*innen. Und weil die junge Generation Arbeit anders definiert – nämlich freier und flexibler –, brauchen die Bauunternehmen einen Zugang zu New Work. Schließlich kennt der hybride Bau zwei Orte, die Baustelle selbst, dazu den digitalen Projektraum. Es mag so sein, dass Baustellen auch in zehn Jahren mehr oder weniger denjenigen ähneln, die es vor 50 oder 100 Jahren gab. Ein Gerüst bleibt ein Gerüst – es lässt sich nicht digitalisieren. Entscheidend für die Zukunft des Bauwesens ist jedoch ein Meta-Office, in dem mit Hilfe digitaler Tools auf Basis von BIM die Fäden zusammenlaufen. Damit dieses Meta-Office optimal besetzt wird, benötigt die Branche die Generation der Digitale Natives – und ist gut beraten, besser heute als morgen für diese Talente attraktive Arbeitsfelder zu gestalten.

Der Baumeister Tim-Oliver Müller im Interview

Die Lage ist verzwickt und paradox. Einerseits ist es offensichtlich, dass Deutschland bauen muss: Wohnungen, Straßen, Trassen, Brücken. Hinzu kommen umfangreiche Sanierungen, nicht zuletzt im Sinne des Klimaschutzes. Andererseits klagen vor allem die Wohnungsbauunternehmen über leere Auftragsbücher. Woran liegt’s? Was lässt sich dagegen tun? Und welche Rolle bei der Lösung spielen talentierte Bauingenieurinnen und Bauingenieure? Tim-Oliver Müller, 37, seit Juli 2021 Hauptgeschäftsführer des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie (HDB), nimmt sich Zeit für Antworten. Ein Gespräch, das vom modularen und seriellen Bauen über Automatik und Robotik bis hin zum Mindset einiger Akteurinnen und Akteure in der Bauindustrie führt, das sich – glaubt Müller – dringend ändern müsse. Um innovativ zu bleiben und nicht den Anschluss zu verpassen. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Tim-Oliver Müller ist seit Juli 2021 Hauptgeschäftsführer des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie (HDB). Davor war er von April 2020 bis Juli 2021 Leiter Business Development bei Vinci Deutschland. Bereits von 2011 bis 2020 hat Tim-Oliver Müller Tätigkeiten in verschiedenen Positionen beim HDB übernommen, zunächst als Referent im Geschäftsbereich Wirtschaft und Recht, ab 2012 als Leiter Infrastruktur und Partnerschaftsmodelle. 2016 übernahm er die Position als stellvertretender Geschäftsbereichsleiter, ab 2018 war er als Geschäftsbereichsleiter für Wirtschaft, Recht und Digitalisierung verantwortlich. Tim-Oliver Müller studierte in Berlin strategisches Management mit der Spezialisierung auf Vertrags-, Risiko- und Netzwerkmanagement. Mit 37 Jahren ist er der jüngste Hauptgeschäftsführer in der Geschichte des HDB.
Herr Müller, ein Bau-Gipfel beim Kanzler, Thema in vielen Talkshows: Der Bau steht im Fokus, produziert Schlagzeilen. Bewerten Sie das als Krisensymptom oder als gutes Zeichen, weil Sie als Branche gehört werden? Ich gebe Ihnen leider Recht, vor allem der Wohnungsbau bereitet uns derzeit Sorgen. Das haben mittlerweile auch viele Menschen außerhalb der Branche registriert, denn die Wohnungsnot ist allgegenwärtig und kann jede oder jeden treffen. Um Ihre Frage aber zu beantworten: Schlagzeilen zu verursachen ist kein Selbstzweck. Wir wollen auf negative Entwicklungen aufmerksam machen, warnen davor, dass es im kommenden Jahr zu einer Krise kommen kann, wenn die Auftragsbücher der Bau-Unternehmen leer sind. Sie können mir glauben: Wir würden lieber mit positiven Meldungen auffallen, etwa, was die Branche an Innovation und Ingenieurskunst leistet und welche Chancen wir jungen Menschen bieten können. An welche positiven Nachrichten denken Sie konkret? Es gibt in Deutschland einen riesigen Bedarf an Bauleistungen. Im Sommer dieses Jahres hatte die Tagesschau unsere neuste Studie im Programm, die zeigt, wie kaputt die Verkehrsinfrastrukturen in diesem Land sind. Allein für die Sanierung des Verkehrsnetzes sind 372 Milliarden Euro notwendig. Das zeigt, wie gigantisch die Perspektive für den Straßenbau ist. Doch damit nicht genug: Das Institut für Demoskopie Allensbach hat die Bürgerinnen und Bürger gefragt, welche Branchen für sie die besten Zukunftsaussichten bieten. Da stand die Bauindustrie ganz weit oben. Übrigens auch, wenn es um die Erreichung der Klimaschutzziele geht. Vor sieben Jahren, bei der Vorgängerstudie, war das Ergebnis noch ein anderes, damals lagen wir deutlich hinter den digitalen Branchen zurück, das hat sich geändert: Wir haben uns deutlich verbessert. Der Bedarf an neuen Bauten und an Sanierungen ist offensichtlich groß, im Hoch- und im Tiefbau. Trotzdem fehlt es den Bauunternehmen an Aufträgen. Wo liegt der Fehler? Die einfache Antwort haben Sie bereits selbst gegeben: Es gibt keinen Auftrag. Und wenn es keinen Auftrag gibt, dann können wir nicht bauen. Was bremst die Aufträge? Hier kommen vier Gründe zusammen, die zusammen eine historische Gemengelage ergeben. Die Zinsen sind zuletzt deutlich gestiegen und liegen auf einem hohen Niveau. Dort standen sie früher schon mal, aber mit einem Unterschied: Damals waren die Baukosten niedriger, heute sind auch diese sehr hoch. Hinzu kommt, dass sehr kurzfristig und für alle überraschend die Förderkulisse weggebrochen ist – bei steigenden Ansprüchen an die Qualität und immer höheren Standards, die wir erfüllen müssen, wodurch erneut zusätzliche Kosten entstehen. Nimmt man diese vier Entwicklungen zusammen, also hohe Zinsen, hohe Kosten, hohe Standards, weniger Förderungen, dann geht für viele, die bauen wollen, die betriebs- oder hauswirtschaftliche Rechnung nicht mehr auf. So kommt es zu dem paradoxen Zustand: Unser Produkt ist heiß begehrt, der Bedarf ist riesig. Aber die Rechnung, dieses Produkt wirtschaftlich an den Markt zu bringen, geht für Bauherren, Investoren oder Kommunen unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen nicht auf. Was kann die Baubranche dazu beitragen, dass diese Rechnung wieder aufgeht? Wir stehen vor der Herausforderung, unsere Produktivität zu erhöhen, müssen hier aber neue Wege gehen. Im Wohnungsbau hat zum Beispiel das modulare und serielle Bauen ein großes Potenzial. Wir sind an dem Thema seit einigen Jahren dran, wurden zu Beginn regelrecht angefeindet: „Was ihr da macht, sind Plattenbauten, da fehlt die architektonische Qualität, ihr wollt ein Wohnen zweiter Klasse.“ Das waren die Reaktionen.
Die oberen Management-Ebenen unserer Unternehmen müssen sich dafür einsetzen, dass kreative Menschen aller Disziplinen die Gelegenheit bekommen, innovativ zu arbeiten.
Ihre Reaktion darauf? Alles Quatsch! Das Gegenteil ist der Fall. Von Beginn an stand die Bundesarchitektenkammer an unserer Seite, was das Argument fehlender architektonischer Qualität aushebelt. Vor allem aber schaffen wir durch modulares und serielles Bauen eine Kostenreduktion von 20 bis 30 Prozent. Eine Ersparnis in dieser Größenordnung gibt es auch bei der Bauzeit, was noch einmal Kosten spart. Hinzu kommt, dass wir unseren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ganz neue Arbeitsplätze bieten: witterungsunabhängig, mit planbaren Zeiten an einem planbaren Ort. Klar, die Montageteams sind dann auf der Baustelle, aber das ist weitaus weniger Einsatz vor Ort, als wir es heute sehen. Ganz wichtig ist: Das modulare und serielle Bauen wird das konventionelle und klassische Bauen nicht ersetzen, es ist einfach eine neue Möglichkeit, günstiger und schneller zu bauen. Welches Potenzial sehen Sie in der Automatisierung von Prozessen? Die Robotik ist ein wichtiger Aspekt zur Produktivitätssteigerung. In der Vergangenheit hat die Branche versucht, ihre Produktivität zu steigern, indem sie mehr Menschen angeworben hat. Diese Methode stößt an ihre Grenzen. Schon allein deshalb, weil es einen Mangel an Fachkräften gibt. Deshalb ist es wichtig, die Produktivität in Zukunft vor allem dadurch zu erhöhen, indem wir die Prozesse verbessern, digitaler werden und auch dem Thema Robotik und Automatisierung mehr Raum geben. Welche konkreten Einsatzfelder sehen Sie denn im Bereich Robotik? Zunächst einmal in einzelnen Gewerken. Beispielsweise bei Maurern, Malern und Lackierern sowie im Innenausbau, wenn es zum Beispiel darum geht, sehr präzise bestimmte Bohrungen für Beleuchtung oder Lüftung in einer häufigen Wiederholung in die Wand zu bringen. Hier kommt dann auch die Methode des Building Information Modeling (BIM) ins Spiel: Die Weichen für die digitale Kooperation auf einer BIM-Plattform sind gestellt. Wir können das, wir haben die Fähigkeiten und die Tools.
Wir müssen in Zukunft mit weniger Menschen mehr bauen. Und das funktioniert nur mit neuer Technik. Was wiederum dazu führt, dass die Arbeit interessanter wird, gerade auch für die junge Generation.
Was fehlt noch? Das Mindset ist an einigen Stellen in der Branche noch nicht so weit, dass die Akteurinnen und Akteure Themen wie BIM oder die Robotik als große Chance begreifen. Viele denken weiterhin: „Mein Arbeitsplatz geht dadurch verloren.“ Ich sage: Nein, er wird nicht verloren gehen, im Gegenteil, er wird sich weiterentwickeln, wird zukunftsfähig werden, mit zusätzlichen Qualifikationen. Zumal eines sowieso klar ist: Wir müssen in Zukunft mit weniger Menschen mehr bauen. Und das funktioniert nur mit neuer Technik. Was wiederum dazu führt, dass die Arbeit interessanter wird, gerade auch für die junge Generation. Wenn wir künftig im Straßenbau die Maschine nicht mehr im Führerhäuschen, sondern per Joystick steuern, oder wenn wir mit Drohnen Vermessungen machen und den Baufortschritt dokumentieren, dann ergeben sich daraus sehr attraktive Jobprofile. Das Gleiche gilt für den Hochbau, wenn wir mit Hilfe digitaler Modelle eine Prozessanalyse von der Herstellung des Baustoffes über den digitalen Lieferschein bis hin zum Endprodukt machen. Sie sprachen vom Mindset, das sich ändern müsse. Wie kann das gelingen? Darüber, dass sich das Verhalten verändert. Nehmen Sie ein Smartphone. Das Gerät hat ja nicht das Telefonieren revolutioniert, sondern hat für eine radikale Verhaltensänderung gesorgt: Wie ich einkaufe und meine Bankgeschäfte erledige, wie ich meine Freizeitgestaltung organisiere oder Musik höre – all das wird vom Smartphone geprägt. Solche Verhaltensänderungen müssen wir auch im Bau erzielen. Die Art, wie Arbeit organisiert wird, wie Automation eingesetzt wird, wie Bauunternehmen auf den Wandel reagieren, nämlich nicht mit Angst, sondern mit dem positiven Gefühl, dass sich hier Potenziale ergeben. Wie sehen Sie die Chance, durch die Digitalisierung neue Geschäftsmodelle zu entwickeln? Die Digitalisierung bringt einen enormen Vorteil mit: Wir können mit Hilfe von Daten planen, kommunizieren und die Bauausführung steuern. Aber diese Daten stellen uns auch vor eine Herausforderung: Sie wecken das Interesse anderer Akteurinnen und Akteure. Je mehr Daten verfügbar sind, desto größer ist das Ansinnen anderer, diese Daten zu nutzen. Und wir reden hier von Unternehmen, die sich mit Daten weitaus besser auskennen als die allermeisten Bauunternehmen. Diese Datenspezialisten werden versuchen, in unserer Branche Fuß zu fassen. Und sie werden dabei neue Geschäftsmodelle an den Markt bringen, die unsere Unternehmen noch gar nicht kennen.
Bauen wie heute wird es in fünfzig Jahren nicht mehr geben. Es wird komplett anders sein.
Wie das laufen kann, zeigt der FinTech-Bereich: Die Bankenwelt hat durch die Digitalisierung eine enorme Disruption erlebt. Neue Player sind aufgetaucht, mit neuen Geschäftsmodellen, die dazu geführt haben, dass bestimmte alte Geschäftsmodelle Stück für Stück verschwanden. Und zwar auf Kosten der Finanzunternehmen, die zu spät geschaltet haben. Als Bau müssen wir begreifen, dass es wichtig ist, unsere Portfolios jetzt proaktiv zu erweitern … … bevor es jemand von außen tut. Genau. Bauen wie heute wird es in fünfzig Jahren nicht mehr geben. Es wird komplett anders sein, und der Wandel wird so schnell vonstattengehen, dass uns Bereiche wie Prozesssteuerung, Logistiksteuerung oder digitale Überwachung der Bauausführung von Playern wie den Amazons und Googles dieser Welt aus der Hand genommen werden könnten, wenn wir nicht jetzt beginnen, selbst daran zu arbeiten. Denn machen wir uns nichts vor: Interessant ist unsere Branche schon deshalb, weil wir gigantische Investitionsvolumina bewegen. Das sind Milliardenbeträge – vollkommen logisch, dass da von Seiten der großen digitalen Unternehmen ein großes Abschöpfungsinteresse besteht.  Zumal diese Player erkennen, wie groß das Optimierungspotenzial ist. Haben Sie ein Beispiel für einen dieser neuen Bereiche, dem sich die Bauunternehmen widmen müssen? Es gab im Spätsommer ein schönes Zitat im Handelsblatt: „Wenn die Auto-industrie künftig nur noch Autos verkauft, macht sie sich selbst überflüssig.“ Und das gilt auch für den Bau: Wenn wir als Bau künftig nur noch Bauleistungen verkaufen, machen wir uns überflüssig. Wir müssen in das Design rein, also in die Gestaltung der gesamten Wertschöpfungskette. Dann haben wir die Möglichkeit, durch Massenoptimierungen, den Einsatz alternativer Baustoffe, Verfahrensoptimierungen oder unser ingenieurtechnisches Know-how sehr viel zu bewegen, gerade auch bei zentralen Themen wie Klimaschutz und Ressourceneffizienz.
Wir werden von reinen Ausführenden zu den Co-Designern eines Projekts.
Nehmen Sie die Sanierung einer Straße: Wenn es nötig ist, diese für eine gewisse Zeit von drei auf eine Spur zu verengen, dann müssen wir als Bauunternehmen an der gestalterischen Planung des Vorhabens beteiligt sein, mit dem Ziel, dass die Sanierung möglichst wenig Staus verursacht – was dann CO2 einspart. Wir werden dann von reinen Ausführenden zu den Co-Designern eines Projekts, und das ist kein Thema nur für Großunternehmen, das ist ein Thema für alle Unternehmen unserer Branche. Für die Innovationskraft ist es gut, eine starke junge Generation an Bord zu haben. Was muss die Branche tun, um den Nachwuchs zu begeistern und einzubeziehen? Man denkt häufig, Veränderungen passieren an der Graswurzel, kommen also von unten nach oben. Das reicht aber nicht. Die oberen Management-Ebenen unserer Unternehmen müssen sich dafür einsetzen, dass kreative Menschen aller Disziplinen die Gelegenheit bekommen, innovativ zu arbeiten. Dafür muss das Management begreifen, dass die Ressource Personal nicht nur immer wichtiger wird, sondern eine besondere Art von Förderung braucht. Warum wechseln denn Menschen ihren Job? 80 Prozent tun dies aufgrund von Unzufriedenheit mit den Vorgesetzten. Weil es ihnen zum Beispiel nicht ermöglicht wird, sich zu entfalten, vernetzen, auszutauschen und auszuprobieren. Genau solche Leute brauchen wir aber. Wir benötigen dringend mehr Intrapreneurship in der Branche, also eine Form des unternehmerischen Denkens innerhalb des Betriebs. Es ist die Aufgabe des Managements, dies nicht nur zu ermöglichen, sondern konkret zu fördern. Gelingt dies, steigt unweigerlich die Attraktivität unserer Branche bei der jungen Generation.

Hauptverband der Deutschen Bauindustrie (HDB)

Der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie (HDB) ist als Zusammenschluss der bauindustriellen Landesverbände die Spitzenorganisation der Bauindustrie in Deutschland. Der HDB sieht sich als Stimme des Bauens gegenüber Politik, Verwaltung und Gesellschaft, setzt sich dabei für die Gesamtinteressen der Branche ein. Ein Ziel sind bestmögliche Rahmenbedingungen auf Bundesebene, in Europa und auch international. Mit seinen zehn Landesverbänden repräsentiert der HDB große und mittelständische, häufig familiengeführte Unternehmen der Bauindustrie. Acht Fachverbände kommen als außerordentliche Mitglieder hinzu. www.bauindustrie.de

So bauen wir 2050

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Wie die Menschen doch vor 25 Jahren telefoniert und digital kommuniziert haben! Mit Handys groß wie Milchtüten sowie mit grauen Kisten und Monitoren in der Gewichtsklasse mehrerer Backsteine. Und wie die Leute eingekauft haben! In Läden, die um 18 Uhr schlossen, Bestelllisten für das Fax-Gerät oder bei Telefonhotlines. Wer das damals erlebt hat, der ist: ein Boomer. Aber: Wir werden alle alt. Und rund ums Jahr 2050 wird es die dann junge Generation sein, die sich wundert: Wie die Menschen doch vor 25 Jahren gebaut und gewohnt haben! Mit Heizungen, die man auf- und abdrehen musste, elektrischen Geräten, die ohne Vorwarnung kaputtgingen, und Dächern, die keine Energie erzeugten. Wir haben Expert*innen und angehende Bauingenieur*innen gefragt, wie sie sich ein Smart House in 25 Jahren vorstellen. Von André Boße

Künstliche Intelligenz

AdobeStock 207016864Die KI wird zum Housekeeper. Das System kennt die Routinen der Bewohner. Der Morgenkaffee steht parat, das Bad ist dann perfekt temperiert, wenn die morgendliche Dusche ansteht. Zudem bereitet die KI eigenständig alles vor, wenn ein Fußballspiel bevorsteht oder die neue Staffel einer Serie weggebinged werden kann. Bier oder Cola stehen kalt, Chips sind ausreichend vorhanden, der Raum ist passend klimatisiert, das Licht ist günstig, der Sender eingestellt. Am nächsten Morgen kommen die Eltern zu Besuch? Das System checkt den Kalender und schickt den Saug-Roboter durch die Wohnung, damit alles sauber ist.

Roboter

AdobeStock 621872927 KopieUnd wer backt den Kuchen, den Mama und Papa so gerne mögen? Der Roboter. Hausarbeit ist eine Routinetätigkeit, die automatisiert erledigt werden kann. Wäsche sortieren, waschen und falten, Betten beziehen, Hemden bügeln, Fenster putzen, Geschirrspüler ausräumen und eben standardisierte Kuchen backen – der Roboter übernimmt. Und für einen Smalltalk über das Staffelfinale der Serie von gestern ist er auch zu haben.

Kraftwerk

AdobeStock 25153248Seit Wochen knallt die Sonne vom Himmel – ein Szenario, das sehr wahrscheinlich die Sommer im Jahr 2050 bestimmen wird. Die Energie, die in der Hitze steckt, ist offensichtlich, das Haus nutzt sie auf allen seinen Außenflächen. Photovoltaik-Module auf dem Dach sind selbstverständlich. Transparente Folien sorgen dafür, dass auch die Glasflächen der Fenster oder des Wintergartens Strom generieren. Die Fassade ist mit einer speziellen Farbe gestrichen, die aus Partikeln mit den Eigenschaften von Halbleitern besteht und somit ebenfalls Strom erzeugt. An Sonnentagen ist das Smart Home energieautark.

Sicherheit

AdobeStock 621184568 KopieWer darf wann ins Haus? Ein Schlüsselmanagement ist nicht mehr nötig, auch keine Zahlencodes oder Smart- phone-Apps. Das System erkennt, wer vor der Tür steht. Dabei ist es so programmierbar, dass bestimmte Personen immer Zugang haben, einige nur zu bestimmten Anlässen. Zum Blumengießen in der Ferienzeit. Oder wenn ein Handwerker schnell eine Reparatur durchführen muss. Wobei das Security-System dafür sorgt, dass diese Person nur die Räume betreten kann, in denen sie etwas zu tun hat.

Big Data

Damit das Smart Home die Daten erhält, die es braucht, muss es gefüttert werden. Dies funktioniert über Sensoren, Funkmodule und Kameras, die in einer Big-Data-Zentrale zusammenlaufen und verarbeitet werden.

Home-Office

AdobeStock 110470948Das Büro ist eine New-Work-Erlebniswelt. Meetings finden mit Hologrammen statt, es fühlt sich an, als befände sich das Team im Raum. In allen Zimmern bilden digitale Boards ein Netzwerk für Notizen, Videos oder Mindmaps. Ein Videocall lässt sich auch dann seamless gestalten, wenn man parallel im Haus herumläuft, das Display schaltet sich immer dort ein, wo man sich gerade aufhält.

Garten

Das Grün rund ums Haus passt sich den Gegebenheiten an, erfüllt einen Nutzen und bereitet gleichzeitig Freude. Statt großer Rasenflächen mit hohem Wasserbedarf gibt es ein System, das Regenwasser sammelt und speichert, sowie ein vielfältiges Wechselspiel aus Wildwiesen, Beeten und Chill-out-Plätzen. Der Garten ist dann das, was er sein soll – ein Stück Natur.

Nachbarschaft

Aus benachbarten Häusern werden Communities: Die Häuser sprechen untereinander gemeinsame Einkäufe oder notwendige Anschaffungen ab. Und das Straßenfest? Die Orga regeln die Smart Homes unter sich.

Und die Bauingenieur*innen?

AdobeStock 431475508Stellen in Teams zusammen mit Architekt*innen und IT-Expert*innen die Infrastruktur zur Verfügung. Übrigens nicht nur für Smart Homes, sondern auch für Smart Offices, Smart Shops, Smart Factories und Smart Hotels. Und das nie von der Stange, sondern immer nach den individuellen Wünschen der Auftraggeber – als Gestalter*innen der Zukunft.

Ganzheitliche Modernisierung Bauen im Bestand: Das Behrens-Ufer in Berlin

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Aus einem Industrieareal wird ein Gewerbestadtquartier der Zukunft: Mit dem BE-U | Behrens-Ufer schafft die DIE Deutsche Immobilien Entwicklungs AG (DIEAG) als Bauherr im Südosten von Berlin einen weitestgehend energieautarken Lebens- und Arbeitsraum. Für die nachhaltige Quartiersentwicklung verantwortet ZÜBLIN die Planung, Sanierung und Umbau des zehn Hektar großen Geländes. Das städtebauliche Gesamtkonzept sieht eine Mischung aus denkmalgeschütztem Bestand und modernem Neubau, neuen Durchwegungen und öffentlichen Plätzen sowie eine Uferpromenade entlang der Spree vor. Von Kerstin Neurohr

Wo? Am Behrens-Ufer

Das Behrens-Ufer (BE-U) liegt in Berlin-Schöneweide, zwischen Ostendstraße und der Spree. Der ehemalige Industriebezirk ist in den letzten Jahren zu einem attraktiven Standort für Forschung, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur geworden.

Was? So autark wie möglich

Unter Verwendung neuester Technologien und in enger Partnerschaft mit GASAG Solution Plus entstehen am Behrens-Ufer innovative Lösungen für die Energieversorgung der Zukunft. In konsequent nachhaltiger Produktion wird Energie direkt auf dem Gelände erzeugt. Das BE-U wird so in Zukunft weitestgehend Energieautarkie und Versorgungssicherheit für Produktion, Forschung und Entwicklung bieten. Möglich wird diese zukunftsfähige Energieversorgung auch durch die hocheffiziente Bauweise der Gebäude des BE-U.

EPD

EPD, abgeleitet von der englischen Bezeichnung Environmental Product Declaration, lässt sich grob übersetzen mit Umwelt-Produktdeklaration. Die Dokumente sind sozusagen „Steckbrief“ der deklarierten Produkte – darin werden die umweltrelevanten Eigenschaften abgebildet. Sie beinhalten technische Informationen, Angaben zu gewählten Lebenszyklusmodulen, entsprechende Umweltkennwerte sowie ggfs. Prüfergebnisse für eine Detailbewertung. Die neutralen und objektiven Daten sollen möglichst alle Auswirkungen abdecken, die das Produkt auf seine Umwelt haben kann, wobei der gesamte Lebensweg des Produktes berücksichtigt werden sollte.

Wer? STRABAG

Bei dem Quartiersprojekt arbeiten unterschiedlichste Expert*innen der STRABAG- Gruppe eng zusammen. Neben der Zentralen Technik, der Torkret GmbH und ZÜBLIN Timber ist dabei u. a. das Wasserbau-Team von ZÜBLIN Spezialtiefbau gefragt. Die Methoden von LEAN.Construction vermeiden Verschwendungen in den Arbeitsabläufen und sorgen für eine effiziente und nachhaltige Abstimmung auf der Baustelle.

Wie? Vielfältig nachhaltig

Die Revitalisierung folgt dem Ansatz der Donut-Ökonomie (siehe Kasten), wobei im Hinblick auf Wachstum die ökologischen Grenzen der Erde und sozialen Bedürfnisse der Stadtbevölkerung gleichermaßen berücksichtigt werden und so ein zukunftsfähiges, nachhaltiges Wirtschaften möglich wird. Bei der Errichtung und beim Ausbau der Gebäude kommen nachhaltige Baustoffe, Cradle-to-Cradle-Produkte und innovative, klimaschonende Energietechnik-Lösungen zum Einsatz. Zwei Beispiele:

Nachwachsender Rohstoff Holz

In zwei Neubauten wird der Einbau von insgesamt rund 22.000 Quadratmeter Geschossdecken in Holz-Hybrid-Bauweise geplant. Rund 650 Kubikmeter Holz kommen im Tragwerk der Gebäude zum Einsatz. Auf einer Fläche von rund 2.900 Quadratmeter sind außerdem Holzfassaden in Planung. Holz überzeugt als nachhaltigster Baustoff durch eine Vielzahl positiver Eigenschaften:
  • CO2 -Bindung: Ein Kubikmeter Holz speichert eine Tonne CO2
  • nachwachsender Rohstoff
  • effizientes und kostengünstiges Arbeiten durch hohen Vorfertigungsgrad
  • schafft gesundes Raumklima

Innovative Heiz- und Kühltechnik: Wasserführende Lehmdecken

In den Neubauten werden EPD-verifizierte (siehe Beschreibung r.) Lehmdecken mit wasserführenden Leitungen verbaut – das bringt viele Vorteile:
  • nahezu CO2-neutrale Produktion der Lehmmodule
  • Rückführung in den Wertstoffkreislauf möglich
  • natürliche Luftentfeuchtung durch hohen Tonanteil (hohe Sorptionswerte)
  • natürliche Kühlung dank Verdunstungskälte
  • Decken werden zum Energiespeicher
  • Vorlauftemperatur beim Heizen 35° (im Vergleich: 55° bei statischen Heizkörpern)
  • gesundheitsfördernde Strahlungswärme
  • in der Regel keine mechanische Lüftung nötig
  • schafft gesundes Raumklima

Donut-Ökonomie

Beschreibt eine wirtschaftswissenschaftliche Theorie nach Kate Raworth: Im inneren Kreis des sog. Donuts liegen die gesellschaftlichen und sozialen Bedürfnisse des Menschen (u. a. soziale Gerechtigkeit, Einkommen, Gesundheit), im äußeren Kreis die planetaren Grenzen (Klimawandel, Ozonloch, Verlust biologischer Vielfalt). Der Donut selbst steht für eine regenerative Wirtschaft (Kreislaufwirtschaft), die die Bedürfnisse des Menschen und die planetaren Grenzen in Einklang bringt.