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Der Baumeister Tim-Oliver Müller im Interview

Die Lage ist verzwickt und paradox. Einerseits ist es offensichtlich, dass Deutschland bauen muss: Wohnungen, Straßen, Trassen, Brücken. Hinzu kommen umfangreiche Sanierungen, nicht zuletzt im Sinne des Klimaschutzes. Andererseits klagen vor allem die Wohnungsbauunternehmen über leere Auftragsbücher. Woran liegt’s? Was lässt sich dagegen tun? Und welche Rolle bei der Lösung spielen talentierte Bauingenieurinnen und Bauingenieure? Tim-Oliver Müller, 37, seit Juli 2021 Hauptgeschäftsführer des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie (HDB), nimmt sich Zeit für Antworten. Ein Gespräch, das vom modularen und seriellen Bauen über Automatik und Robotik bis hin zum Mindset einiger Akteurinnen und Akteure in der Bauindustrie führt, das sich – glaubt Müller – dringend ändern müsse. Um innovativ zu bleiben und nicht den Anschluss zu verpassen. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Tim-Oliver Müller ist seit Juli 2021 Hauptgeschäftsführer des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie (HDB). Davor war er von April 2020 bis Juli 2021 Leiter Business Development bei Vinci Deutschland. Bereits von 2011 bis 2020 hat Tim-Oliver Müller Tätigkeiten in verschiedenen Positionen beim HDB übernommen, zunächst als Referent im Geschäftsbereich Wirtschaft und Recht, ab 2012 als Leiter Infrastruktur und Partnerschaftsmodelle. 2016 übernahm er die Position als stellvertretender Geschäftsbereichsleiter, ab 2018 war er als Geschäftsbereichsleiter für Wirtschaft, Recht und Digitalisierung verantwortlich. Tim-Oliver Müller studierte in Berlin strategisches Management mit der Spezialisierung auf Vertrags-, Risiko- und Netzwerkmanagement. Mit 37 Jahren ist er der jüngste Hauptgeschäftsführer in der Geschichte des HDB.

Herr Müller, ein Bau-Gipfel beim Kanzler, Thema in vielen Talkshows: Der Bau steht im Fokus, produziert Schlagzeilen. Bewerten Sie das als Krisensymptom oder als gutes Zeichen, weil Sie als Branche gehört werden?
Ich gebe Ihnen leider Recht, vor allem der Wohnungsbau bereitet uns derzeit Sorgen. Das haben mittlerweile auch viele Menschen außerhalb der Branche registriert, denn die Wohnungsnot ist allgegenwärtig und kann jede oder jeden treffen. Um Ihre Frage aber zu beantworten: Schlagzeilen zu verursachen ist kein Selbstzweck. Wir wollen auf negative Entwicklungen aufmerksam machen, warnen davor, dass es im kommenden Jahr zu einer Krise kommen kann, wenn die Auftragsbücher der Bau-Unternehmen leer sind. Sie können mir glauben: Wir würden lieber mit positiven Meldungen auffallen, etwa, was die Branche an Innovation und Ingenieurskunst leistet und welche Chancen wir jungen Menschen bieten können.

An welche positiven Nachrichten denken Sie konkret?
Es gibt in Deutschland einen riesigen Bedarf an Bauleistungen. Im Sommer dieses Jahres hatte die Tagesschau unsere neuste Studie im Programm, die zeigt, wie kaputt die Verkehrsinfrastrukturen in diesem Land sind. Allein für die Sanierung des Verkehrsnetzes sind 372 Milliarden Euro notwendig. Das zeigt, wie gigantisch die Perspektive für den Straßenbau ist. Doch damit nicht genug: Das Institut für Demoskopie Allensbach hat die Bürgerinnen und Bürger gefragt, welche Branchen für sie die besten Zukunftsaussichten bieten. Da stand die Bauindustrie ganz weit oben. Übrigens auch, wenn es um die Erreichung der Klimaschutzziele geht.

Vor sieben Jahren, bei der Vorgängerstudie, war das Ergebnis noch ein anderes, damals lagen wir deutlich hinter den digitalen Branchen zurück, das hat sich geändert: Wir haben uns deutlich verbessert.

Der Bedarf an neuen Bauten und an Sanierungen ist offensichtlich groß, im Hoch- und im Tiefbau. Trotzdem fehlt es den Bauunternehmen an Aufträgen. Wo liegt der Fehler?
Die einfache Antwort haben Sie bereits selbst gegeben: Es gibt keinen Auftrag. Und wenn es keinen Auftrag gibt, dann können wir nicht bauen.

Was bremst die Aufträge?
Hier kommen vier Gründe zusammen, die zusammen eine historische Gemengelage ergeben. Die Zinsen sind zuletzt deutlich gestiegen und liegen auf einem hohen Niveau. Dort standen sie früher schon mal, aber mit einem Unterschied: Damals waren die Baukosten niedriger, heute sind auch diese sehr hoch. Hinzu kommt, dass sehr kurzfristig und für alle überraschend die Förderkulisse weggebrochen ist – bei steigenden Ansprüchen an die Qualität und immer höheren Standards, die wir erfüllen müssen, wodurch erneut zusätzliche Kosten entstehen.

Nimmt man diese vier Entwicklungen zusammen, also hohe Zinsen, hohe Kosten, hohe Standards, weniger Förderungen, dann geht für viele, die bauen wollen, die betriebs- oder hauswirtschaftliche Rechnung nicht mehr auf. So kommt es zu dem paradoxen Zustand: Unser Produkt ist heiß begehrt, der Bedarf ist riesig. Aber die Rechnung, dieses Produkt wirtschaftlich an den Markt zu bringen, geht für Bauherren, Investoren oder Kommunen unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen nicht auf.

Was kann die Baubranche dazu beitragen, dass diese Rechnung wieder aufgeht?
Wir stehen vor der Herausforderung, unsere Produktivität zu erhöhen, müssen hier aber neue Wege gehen. Im Wohnungsbau hat zum Beispiel das modulare und serielle Bauen ein großes Potenzial. Wir sind an dem Thema seit einigen Jahren dran, wurden zu Beginn regelrecht angefeindet: „Was ihr da macht, sind Plattenbauten, da fehlt die architektonische Qualität, ihr wollt ein Wohnen zweiter Klasse.“ Das waren die Reaktionen.

Die oberen Management-Ebenen unserer Unternehmen müssen sich dafür einsetzen, dass kreative Menschen aller Disziplinen die Gelegenheit bekommen, innovativ zu arbeiten.

Ihre Reaktion darauf?
Alles Quatsch! Das Gegenteil ist der Fall. Von Beginn an stand die Bundesarchitektenkammer an unserer Seite, was das Argument fehlender architektonischer Qualität aushebelt. Vor allem aber schaffen wir durch modulares und serielles Bauen eine Kostenreduktion von 20 bis 30 Prozent. Eine Ersparnis in dieser Größenordnung gibt es auch bei der Bauzeit, was noch einmal Kosten spart. Hinzu kommt, dass wir unseren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ganz neue Arbeitsplätze bieten: witterungsunabhängig, mit planbaren Zeiten an einem planbaren Ort.

Klar, die Montageteams sind dann auf der Baustelle, aber das ist weitaus weniger Einsatz vor Ort, als wir es heute sehen. Ganz wichtig ist: Das modulare und serielle Bauen wird das konventionelle und klassische Bauen nicht ersetzen, es ist einfach eine neue Möglichkeit, günstiger und schneller zu bauen.

Welches Potenzial sehen Sie in der Automatisierung von Prozessen?
Die Robotik ist ein wichtiger Aspekt zur Produktivitätssteigerung. In der Vergangenheit hat die Branche versucht, ihre Produktivität zu steigern, indem sie mehr Menschen angeworben hat. Diese Methode stößt an ihre Grenzen. Schon allein deshalb, weil es einen Mangel an Fachkräften gibt. Deshalb ist es wichtig, die Produktivität in Zukunft vor allem dadurch zu erhöhen, indem wir die Prozesse verbessern, digitaler werden und auch dem Thema Robotik und Automatisierung mehr Raum geben.

Welche konkreten Einsatzfelder sehen Sie denn im Bereich Robotik?
Zunächst einmal in einzelnen Gewerken. Beispielsweise bei Maurern, Malern und Lackierern sowie im Innenausbau, wenn es zum Beispiel darum geht, sehr präzise bestimmte Bohrungen für Beleuchtung oder Lüftung in einer häufigen Wiederholung in die Wand zu bringen. Hier kommt dann auch die Methode des Building Information Modeling (BIM) ins Spiel: Die Weichen für die digitale Kooperation auf einer BIM-Plattform sind gestellt. Wir können das, wir haben die Fähigkeiten und die Tools.

Wir müssen in Zukunft mit weniger Menschen mehr bauen. Und das funktioniert nur mit neuer Technik. Was wiederum dazu führt, dass die Arbeit interessanter wird, gerade auch für die junge Generation.

Was fehlt noch?
Das Mindset ist an einigen Stellen in der Branche noch nicht so weit, dass die Akteurinnen und Akteure Themen wie BIM oder die Robotik als große Chance begreifen. Viele denken weiterhin: „Mein Arbeitsplatz geht dadurch verloren.“ Ich sage: Nein, er wird nicht verloren gehen, im Gegenteil, er wird sich weiterentwickeln, wird zukunftsfähig werden, mit zusätzlichen Qualifikationen. Zumal eines sowieso klar ist: Wir müssen in Zukunft mit weniger Menschen mehr bauen. Und das funktioniert nur mit neuer Technik. Was wiederum dazu führt, dass die Arbeit interessanter wird, gerade auch für die junge Generation.

Wenn wir künftig im Straßenbau die Maschine nicht mehr im Führerhäuschen, sondern per Joystick steuern, oder wenn wir mit Drohnen Vermessungen machen und den Baufortschritt dokumentieren, dann ergeben sich daraus sehr attraktive Jobprofile. Das Gleiche gilt für den Hochbau, wenn wir mit Hilfe digitaler Modelle eine Prozessanalyse von der Herstellung des Baustoffes über den digitalen Lieferschein bis hin zum Endprodukt machen.

Sie sprachen vom Mindset, das sich ändern müsse. Wie kann das gelingen?
Darüber, dass sich das Verhalten verändert. Nehmen Sie ein Smartphone. Das Gerät hat ja nicht das Telefonieren revolutioniert, sondern hat für eine radikale Verhaltensänderung gesorgt: Wie ich einkaufe und meine Bankgeschäfte erledige, wie ich meine Freizeitgestaltung organisiere oder Musik höre – all das wird vom Smartphone geprägt. Solche Verhaltensänderungen müssen wir auch im Bau erzielen. Die Art, wie Arbeit organisiert wird, wie Automation eingesetzt wird, wie Bauunternehmen auf den Wandel reagieren, nämlich nicht mit Angst, sondern mit dem positiven Gefühl, dass sich hier Potenziale ergeben.

Wie sehen Sie die Chance, durch die Digitalisierung neue Geschäftsmodelle zu entwickeln?
Die Digitalisierung bringt einen enormen Vorteil mit: Wir können mit Hilfe von Daten planen, kommunizieren und die Bauausführung steuern. Aber diese Daten stellen uns auch vor eine Herausforderung: Sie wecken das Interesse anderer Akteurinnen und Akteure. Je mehr Daten verfügbar sind, desto größer ist das Ansinnen anderer, diese Daten zu nutzen. Und wir reden hier von Unternehmen, die sich mit Daten weitaus besser auskennen als die allermeisten Bauunternehmen. Diese Datenspezialisten werden versuchen, in unserer Branche Fuß zu fassen. Und sie werden dabei neue Geschäftsmodelle an den Markt bringen, die unsere Unternehmen noch gar nicht kennen.

Bauen wie heute wird es in fünfzig Jahren nicht mehr geben. Es wird komplett anders sein.

Wie das laufen kann, zeigt der FinTech-Bereich: Die Bankenwelt hat durch die Digitalisierung eine enorme Disruption erlebt. Neue Player sind aufgetaucht, mit neuen Geschäftsmodellen, die dazu geführt haben, dass bestimmte alte Geschäftsmodelle Stück für Stück verschwanden. Und zwar auf Kosten der Finanzunternehmen, die zu spät geschaltet haben. Als Bau müssen wir begreifen, dass es wichtig ist, unsere Portfolios jetzt proaktiv zu erweitern …

… bevor es jemand von außen tut.
Genau. Bauen wie heute wird es in fünfzig Jahren nicht mehr geben. Es wird komplett anders sein, und der Wandel wird so schnell vonstattengehen, dass uns Bereiche wie Prozesssteuerung, Logistiksteuerung oder digitale Überwachung der Bauausführung von Playern wie den Amazons und Googles dieser Welt aus der Hand genommen werden könnten, wenn wir nicht jetzt beginnen, selbst daran zu arbeiten. Denn machen wir uns nichts vor: Interessant ist unsere Branche schon deshalb, weil wir gigantische Investitionsvolumina bewegen. Das sind Milliardenbeträge – vollkommen logisch, dass da von Seiten der großen digitalen Unternehmen ein großes Abschöpfungsinteresse besteht.  Zumal diese Player erkennen, wie groß das Optimierungspotenzial ist.

Haben Sie ein Beispiel für einen dieser neuen Bereiche, dem sich die Bauunternehmen widmen müssen?
Es gab im Spätsommer ein schönes Zitat im Handelsblatt: „Wenn die Auto-industrie künftig nur noch Autos verkauft, macht sie sich selbst überflüssig.“ Und das gilt auch für den Bau: Wenn wir als Bau künftig nur noch Bauleistungen verkaufen, machen wir uns überflüssig. Wir müssen in das Design rein, also in die Gestaltung der gesamten Wertschöpfungskette. Dann haben wir die Möglichkeit, durch Massenoptimierungen, den Einsatz alternativer Baustoffe, Verfahrensoptimierungen oder unser ingenieurtechnisches Know-how sehr viel zu bewegen, gerade auch bei zentralen Themen wie Klimaschutz und Ressourceneffizienz.

Wir werden von reinen Ausführenden zu den Co-Designern eines Projekts.

Nehmen Sie die Sanierung einer Straße: Wenn es nötig ist, diese für eine gewisse Zeit von drei auf eine Spur zu verengen, dann müssen wir als Bauunternehmen an der gestalterischen Planung des Vorhabens beteiligt sein, mit dem Ziel, dass die Sanierung möglichst wenig Staus verursacht – was dann CO2 einspart. Wir werden dann von reinen Ausführenden zu den Co-Designern eines Projekts, und das ist kein Thema nur für Großunternehmen, das ist ein Thema für alle Unternehmen unserer Branche.

Für die Innovationskraft ist es gut, eine starke junge Generation an Bord zu haben. Was muss die Branche tun, um den Nachwuchs zu begeistern und einzubeziehen?
Man denkt häufig, Veränderungen passieren an der Graswurzel, kommen also von unten nach oben. Das reicht aber nicht. Die oberen Management-Ebenen unserer Unternehmen müssen sich dafür einsetzen, dass kreative Menschen aller Disziplinen die Gelegenheit bekommen, innovativ zu arbeiten. Dafür muss das Management begreifen, dass die Ressource Personal nicht nur immer wichtiger wird, sondern eine besondere Art von Förderung braucht. Warum wechseln denn Menschen ihren Job?

80 Prozent tun dies aufgrund von Unzufriedenheit mit den Vorgesetzten. Weil es ihnen zum Beispiel nicht ermöglicht wird, sich zu entfalten, vernetzen, auszutauschen und auszuprobieren. Genau solche Leute brauchen wir aber. Wir benötigen dringend mehr Intrapreneurship in der Branche, also eine Form des unternehmerischen Denkens innerhalb des Betriebs. Es ist die Aufgabe des Managements, dies nicht nur zu ermöglichen, sondern konkret zu fördern. Gelingt dies, steigt unweigerlich die Attraktivität unserer Branche bei der jungen Generation.

Hauptverband der Deutschen Bauindustrie (HDB)

Der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie (HDB) ist als Zusammenschluss der bauindustriellen Landesverbände die Spitzenorganisation der Bauindustrie in Deutschland. Der HDB sieht sich als Stimme des Bauens gegenüber Politik, Verwaltung und Gesellschaft, setzt sich dabei für die Gesamtinteressen der Branche ein. Ein Ziel sind bestmögliche Rahmenbedingungen auf Bundesebene, in Europa und auch international. Mit seinen zehn Landesverbänden repräsentiert der HDB große und mittelständische, häufig familiengeführte Unternehmen der Bauindustrie. Acht Fachverbände kommen als außerordentliche Mitglieder hinzu.

www.bauindustrie.de

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