Von New Work zu My Work? Arbeiten, wie es gefällt

New Work krempelt die Arbeitswelt um, aktuell im Gespräch ist vor allem die Vier-Tage-Woche. Doch wie soll das gehen, wenn es doch sowieso zu wenige Ingenieur*innen gibt? Und wenn Talent und Know-how der Fachkräfte gebraucht werden, um politische und gesellschaftliche Projekte zu Klimaschutz und Nachhaltigkeit zu realisieren? Die Lösung könnte sein, als Fachkraft unternehmerisch zu denken: Ingenieur*innen entdecken Intrapreneurship und gestalten ihre Arbeit eigenverantwortlich und selbstbewusst. Aus New Work entwickeln sich Gründe, warum die Arbeit wichtig ist: „My Work“ – da spielt die Zahl der Arbeitstage pro Woche nur noch eine untergeordnete Rolle. Ein Essay von André Boße

Vier gewinnt – das ist zumindest das Ergebnis eines internationalen Pilotprojekts der Initiative „4 Day Week Global“, dessen Ergebnisse im Juli 2023 vorgestellt wurden. Über einen Zeitraum von zwölf Monaten stellten ausgesuchte Unternehmen von einer Fünf- auf die Vier-Tage-Woche um, ohne Lohnkürzung. Eines der Resultate laut Studie: Den Arbeitenden sei es durch höhere Effizienz gelungen, die gleiche Menge von Aufgaben von bislang fünf auf vier Tage zu verteilen. Es wurde also nicht weniger geschafft. Die Teilnehmenden berichteten zudem davon, dass es besser gelungen sei, die bezahlte Arbeit mit ihrem Sozialleben zu verbinden. Das ist wenig überraschend, denn dieser Aspekt ist ja das Hauptargument für eine Vier-Tage-Woche.

Frauen gewinnen – durch Klimaschutz-Technik

Foto: AdobeStock/Deniss/spiral media
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Laut Ingenieurmonitor des VDI ist es für Unternehmen doppelt lohnenswert, bei technischen Entwicklungen auf den Klimaschutz zu achten. Zum einen sorgen die Innovationen dafür, dass die eigenen Klimaziele oder diejenigen der Kunden erreicht werden. Zum zweiten zeigen Studien, dass Unternehmen mit Schwerpunkten im Klimaschutz für weibliche Fachkräfte attraktiv sind: „Gerade beim Klimaschutz zeigt sich, dass junge Frauen für dieses Ziel und Thema besonders sensibilisiert sind“, heißt es im aktuellen Ingenieurmonitor.
Interessant ist der Blick auf den Studienbereich „Business Outcome“, also die Frage, wie die Unternehmen, die an der Studie teilgenommen haben, den Versuch abschließend bewerten. Das Resultat laut Studie: Der Umsatz der beteiligten Unternehmen habe sich um 15 Prozent erhöht. 89 Prozent der Unternehmen gaben an, definitiv weiterhin auf das Modell der Vier-Tage-Woche zu setzen, elf Prozent neigen immerhin dazu – das ist eine Pro-Quote von 100 Prozent.

Island testet Vier-Tage-Woche

Nun sind 100 Prozent immer verdächtig. Zumal sich die Frage stellt, wie repräsentativ eine Studie sein kann, wenn Unternehmen gezielt für die Teilnahme ausgesucht werden. Allerdings ist die oben zitierte Studie der Initiative „4 Day Week Global“ längst nicht die einzige, die zuletzt ein eindeutiges positives Fazit zog, wenn es darum geht, die Vier-Tage-Woche zu bewerten. Bereits seit 2015 experimentiert Island mit diesem Modell, mehr als ein Prozent der arbeitenden Bevölkerung aus diesem Staat hat mittlerweile an der Untersuchung teilgenommen. 2021 zog die Non-Profit-Organisation „Alda – Association for Democracy and Sustainability“, die die Studie durchgeführt hat, eine positive Bilanz: „Die Versuche waren erfolgreich: Die teilnehmenden Arbeitnehmer nahmen weniger Stunden in Anspruch und fühlten sich wohler.“ Die Vier-Tage-Woche habe zu einer besseren Work-Life-Balance und einer besseren Kooperation am Arbeitsplatz geführt – „und das alles unter Beibehaltung der bestehenden Leistungs- und Produktivitätsstandards“. Und so steht das Experiment kurz davor, die isländische Arbeitswelt ganz neu zu organisieren: Die Studie stellt fest, dass – Stand Juni 2021 – „86 Prozent der isländischen Erwerbstätigen entweder zu kürzeren Arbeitszeiten übergegangen sind oder das Recht haben, ihre Arbeitszeit zu verkürzen“.
Die Vier-Tage-Woche ist eine „konsequente Fortsetzung der Arbeitszeitgeschichte.
Taugt das Modell auch für Deutschland? Und taugt es explizit für technische Berufe? Interessant ist, dass die IG Metall im Juni 2023 mit der Forderung an die Öffentlichkeit ging, kürzere Arbeitszeiten durchzusetzen. Die Vier-Tage-Woche – wohlgemerkt bei gleichem Gehalt wie zuvor – sei eine „konsequente Fortsetzung der Arbeitszeitgeschichte“, sprich: Sie ist die Zukunft. Fünf Arbeitstage in der Woche dagegen seien historisch bereits überholt.

Utopie und Träumerei?

Michael Hüther blickt sehr skeptisch auf die Ansichten der Gewerkschaft IG Metall. Der Ökonom ist Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW). In einem auf der Homepage des Instituts veröffentlichen Meinungsbeitrag nennt er das Modell eine „Vier-Tage-Träumerei“ und eine der „langlebigsten und beliebtesten Utopien unserer Zeit“. Schließlich drohe das deutsche Wirtschaftssystem angesichts des Arbeitskräftemangels schon jetzt an seine Grenzen zu stoßen. Seine Gegenposition: „Um den demografischen Wandel abzufedern, müssen wir mehr arbeiten, nicht weniger.“  

Parkinsonsches Gesetz

Foto: AdobeStock/komkun
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Angenommen, eine junge Nachwuchskraft aus dem Ingenieurbereich würde für eine Wochenaufgabe, die ihr eine Führungskraft vorgibt, eigentlich nur vier Tage benötigen, ihre Arbeitswoche hat jedoch fünf Tage. Der britische Soziologe Cyril Northcote Parkinson sagt nun, der in Organisationen tätige Mensch sei so gestrickt, dass er bald für diese Arbeit tatsächlich fünf statt vier Tage benötigen werde. Man spricht vom Parkinsonschen Gesetz. Danach weisen hierarchisch aufgebaute Verwaltungen oder Unternehmen „die Tendenz zur Selbstaufblähung auf, dadurch wächst die Gefahr der Unwirtschaftlichkeit und des Leerlaufs“, definiert es die Bundeszentrale für politische Bildung. Heißt: Die Arbeit, die erledigt werden muss, dehnt sich automatisch so weit aus, wie das Pensum es zulässt. Was bedeutet, dass es laut Parkinson problemlos möglich sein könnte, in vier Tagen zu schaffen, was bislang für fünf Tage anberaumt war.
  Weniger Arbeitszeit bei gleichem Lohn? „Damit das funktioniert, müssten in Deutschland flächendeckend Produktivitätsreserven schlummern, die Arbeitgebern gezielt vorenthalten werden“, heißt es im Meinungsbeitrag des IW-Direktors. „Konkret: Die Arbeitsproduktivität müsste sich ohne Probleme um 25 Prozent steigern lassen. Wer solche Reserven in seinen Arbeitsprozessen versteckt hält, sollte diese lieber in einer Fünf-Tage-Woche heben, das würde mehr Wohlstand bedeuten und zugleich den Fachkräftemangel bekämpfen.“ Aber dass die Studie „4 Day Week Global“ gezeigt habe, dass der Umsatz der teilnehmenden Unternehmen um 15 Prozent steigt? Gehe am Kernaspekt vorbei, schreibt Michael Hüther: „Die Produktivität wurde gar nicht gemessen, sondern lediglich der Umsatz – und auch diese Angabe machte nur jedes zweite Unternehmen. Der Umsatz wiederum ist in diesem Zusammenhang keine aussagekräftige Größe, schließlich lässt sich dieser auch konstant halten, indem externe Leistungen zugekauft werden.“ Und auch an der Auswahl der Unternehmen übt er Kritik: „Die überwiegende Mehrheit der 61 Unternehmen waren Dienstleister mit Bürotätigkeit, lediglich drei Industrieunternehmen waren dabei. Entsprechend wenig aussagekräftig sind die Ergebnisse.“

Mehr oder weniger arbeiten?

Schließlich hält Michael Hüther der „Utopie“, wie er sie nennt, Fakten entgegen: Schon jetzt fehlten Unternehmen Hunderttausende qualifizierte Fachkräfte, Tendenz steigend. „Bis 2030 rechnen wir sogar damit, dass drei Millionen Menschen weniger arbeiten als heute, darunter viele Babyboomer.
Bis 2030 rechnen wir damit, dass drei Millionen Menschen weniger arbeiten als heute, darunter viele Babyboomer.
Damit fehlen uns 4,2 Milliarden Arbeitsstunden.“ Sein Vorschlag: Ein bis zwei Stunden mehr Arbeit pro Woche, das wäre „keine nennenswerte Umstellung“, würde das System „aber zumindest ein wenig entlasten“. Statt nach Island schaut der IW-Direktor dabei nach Schweden und in die Schweiz: „Die einen arbeiten eine Stunde mehr als wir, die anderen sogar zwei Stunden. Beide Nationen haben eine tendenziell sogar etwas höhere Lebenserwartung als Deutschland und sind darüber hinaus auch nicht unglücklicher.“ Was also nun: Island oder Schweden und die Schweiz? Vier oder fünf Tage pro Woche arbeiten? Es gibt in dieser Debatte offensichtlich zwei Lager. Wobei man nicht vergessen darf, wer augenblicklich den Hebel in der Hand hält – denn das sind nicht Politik oder Unternehmen, sondern die qualifizierten Fachkräfte selbst. Denn sie sind begehrte Mangelware. Und das trifft auf Ingenieur*innen im besonderen Maße zu.

Ingenieur*innen sind Mangelware

Der Ingenieurmonitor des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) analysiert quartalsweise den Arbeitsmarkt für Ingenieur*innen in Deutschland. Im ersten Bericht für das Jahr 2023, veröffentlicht im Sommer dieses Jahres, heißt es: „Insgesamt gab es im ersten Quartal 2023 mit rund 175.600 offenen Stellen einen neuen Rekordwert eines Quartals seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2011.“ Das sei ein Zuwachs um 16 Prozent im Vorjahresvergleich. Wobei sich je nach Fachrichtung große Unterschiede ergeben würden, heißt es im VDI-Ingenieurmonitor. So habe die Anzahl der offenen Stellen im Jahresvergleich in den Ingenieurberufen Technische Forschung und Produktionssteuerung um 36,6 Prozent, in den Ingenieurberufen Energie- und Elektrotechnik um 36,4 Prozent und in den Ingenieurberufen Maschinen- und Fahrzeugtechnik um 35 Prozent zugenommen. „Insbesondere bei der Energie- und Elektrotechnik dürfte die zunehmende Geschwindigkeit der Energiewende eine zentrale Bedeutung haben“, so der Report.
Vier-Tage-Woche wird zum Wechselgrund für viele Fachkräfte.
Und dieses Tempo in der Energiewende wird weiter zunehmen. Erstens, weil nur so Deutschland seine im Grundgesetz verankerten Klimaziele erreichen kann. Zweitens, weil ein rascher Erfolg der Energiewende dafür sorgt, dass die Energiepreise in der Bundesrepublik zumindest mittelfristig wieder sinken – was wiederum die Voraussetzung dafür ist, dass Deutschland ein attraktiver Standort für die Industrie bleibt. Der VDI rechnet daher damit, dass in den kommenden Jahren der Bedarf an Beschäftigten in Ingenieurberufen deutlich zunehmen wird. Sorge mache dem VDI, dass die Anzahl der Studienanfänger*innen in den Ingenieurwissenschaften in den vergangenen Jahren stark rückläufig sei. Positiv dagegen bewertet er, „dass bereits in den letzten Jahren eine Zunahme beim Beschäftigungsanteil von Frauen in den Ingenieurberufen zu beobachten ist“.

Angebote zur Vier-Tage-Woche begehrt

Jede Ingenieurin und jeder Ingenieur werden also gebraucht. Das ist eine gute Nachricht für die junge Generation. Hinzu kommt, dass dieser Umstand dem Nachwuchs eine gewisse Macht bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses gibt. Und dieser Macht ist er sich bewusst – gerade beim Thema Vier-Tage-Woche. Das zumindest legt das Ergebnis des Jobwechsel-Kompass nahe, den die Personalmarketingagentur Königsteiner zusammen mit dem Online-Portal stellenanzeigen.de vorlegt: „Die Vier-Tage-Woche wird zum Wechselgrund für viele Fachkräfte“, heißt es im Kompass des zweiten Quartals 2023, der im Juni veröffentlicht wurde. 42 Prozent der Befragten, die offen für einen Wechsel seien, suchten gezielt nach Arbeitgebern, die eine Vier-Tage-Woche anbieten. Wobei nur 35 Prozent derjenigen, die an einer Vier-Tage-Woche interessiert sind, akzeptierten, in diesem Fall auch nur für vier Tage bezahlt zu werden. Heißt im Umkehrschluss: 65 Prozent gehen davon aus, für vier Arbeitstage so entlohnt zu werden wie zuvor für fünf. „Derartige Ansprüche an die Arbeitswelt durch wechselwillige Arbeitnehmer sind allerdings nur deshalb möglich, weil wir mehr freie Stellen als Kandidaten haben“, wird Königsteiner-Geschäftsführer Nils Wagener im Jobkompass zitiert. Diese Fachkräftelücke könnte gerade im Ingenieurbereich durch das Arbeitszeitmodell der Vier-Tage-Woche noch einmal verschärft werden: Die Unternehmen benötigten mehr Mitarbeiter für die gleiche Menge an Arbeit – nur, woher nehmen? Ein Teufelskreis! Und potenziell der Einstieg in problematische Arbeitsverhältnisse, so Nils Wagener: „Eine mögliche Folge sind steigende unternehmerische Kosten, die das Wachstum hemmen, die Preise für die Konsumenten erhöhen und den Spielraum für sonstige Mitarbeiter-Benefits einengen“, wird er zitiert.

Dreifacher Purpose

Ingenieurtalente stehen damit vor einem Dilemma. Ihre Arbeitskraft wird benötigt. In den Unternehmen, aber auch im Einsatz für Politik und Gesellschaft. Schließlich ist Technik einer der bedeutsamsten Schlüssel im Kampf gegen die Klimakrise und in der Gestaltung einer nachhaltigen Welt. Andererseits: Wenn die Vier-Tage-Woche potenziell so produktiv ist wie das Montags-bis-Freitags-Modell – warum dann am alten festhalten? Was hilft, ist Flexibilität. Die Ingenieur*innen der Zukunft sind mehr denn je Gestalter*innen der Zukunft. Es hilft, in dieser Rolle nicht mehr wie Angestellte zu denken, sondern das eigene Intrapreneurship zu entdecken. Gesucht sind Unternehmer*innen innerhalb der Unternehmen. Und Unternehmen, die dieses Denken gezielt fördern. Gelingt dies, besitzt New Work plötzlich einen dreifachen Purpose: Es geht erstens darum, sich selbst weiterzuentwickeln und wohlzufühlen, zweitens, mit dafür zu sorgen, dass das Unternehmen erfolgreich wirtschaftet, und drittens, daran teilzuhaben, die politischen und gesellschaftlichen Probleme zu lösen.

Warum arbeiten?

Das sind drei gute Gründe, seine Talente so zu bündeln und einzusetzen, dass sie ihre volle Wirkung entfalten können. Ob das dann in Form einer Vier-Tage-Woche ist? Möglich. Sinnvoll wäre ein flexibles Modell, das sich dem Bedarf anpasst, wenn das Unternehmen in Schieflage kommen sollte oder Politik und Gesellschaft die Arbeitskraft einer Ingenieurfachkraft benötigen, um die Energie- oder Verkehrswende weiter zu forcieren. So wird aus New Work das Prinzip „My Work“: Warum sollte ich arbeiten? Weil es hilft! Weil ich damit einen Unterschied mache. Und wenn ich merke, dass ich gerade sehr konkret helfe, dann steigert diese Erkenntnis mein Wohlbefinden vielleicht genauso nachhaltig wie ein freier Tag mehr pro Woche.

 Vier-Tage-Woche: Projekt auch in Deutschland

Foto: AdobeStock/photostory
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Wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) Ende August schrieb, startet nun auch in Deutschland ein Pilotprojekt für die Vier-Tage-Woche. Verantwortlich für die Organisation sei die Agentur Intraprenör, heißt es in dem Bericht. An dem Versuch teilnehmen sollen 50 Unternehmen, das Projekt wird ein halbes Jahr laufen, anvisiert ist die Zeit von Februar bis August 2024. „Das Ziel ist eine Reduktion der Arbeitsstunden bei gleichbleibendem Gehalt“, wird Jan Bühren von der Beratungsfirma Intraprenör zitiert, Basis dafür sei das „100-80-100-Prinzip“: 100 Prozent Gehalt, 80 Prozent Arbeitszeit und 100 Prozent Leistung. Wie sich das im Alltag gestalten lässt, dafür könnten die teilnehmenden Unternehmen individuelle Lösungen finden, heißt es im Bericht des RND.

Klima-Checker Prof. Dr. Felix Creutzig im Interview

Was muss wo und wann getan werden, damit wir Menschen die Klimakrise in den Griff bekommen? Der Berliner Physiker und Klimaforscher Prof. Dr. Felix Creutzig versucht, sachlich analytische Antworten auf diese Frage zu finden. Im Interview benennt er die Bereiche mit der größten Hebelwirkung – und macht klar: Wer heute als Ingenieur*in einsteigt, wird immer mit dem Thema Klimaschutz konfrontiert werden. Die Fragen stellte André Boße

Zur Person

Prof. Dr. Felix Creutzig leitet am MCC Berlin die Arbeitsgruppe Landnutzung, Infrastruktur und Transport. Er ist Leitautor des fünften IPCC-Sachstandsberichtes und war Leitautor im Global Energy Assessment. Er unterrichtet zudem im Bereich Climate Change & Infrastructure an der Technischen Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die Analyse der Möglichkeiten für Klimaschutz in Städten und die Modellierung nachhaltiger urbaner Formen und Transportsysteme. Seit 2009 ist Creutzig zudem Gruppenleiter in der Abteilung Ökonomie des Klimawandels an der Technischen Universität Berlin. Er hat seinen PhD in Computational Neuroscience an der Humboldt-Universität zu Berlin erworben.
Herr Prof. Dr. Creutzig, um auf die Dringlichkeit des Kampfes gegen die Klimakrise hinzuweisen, arbeiten Sie gerne mit dem Bild einer Badewanne: Die Wanne läuft voll, doch um zu vermeiden, dass alles überschwemmt wird, hilft es nicht, den Zulauf nur zu drosseln: Wir müssen ihn ganz abstellen. Wie weit sind wir in dieser Hinsicht? Es sieht nicht sehr gut aus, die Wanne läuft weiterhin voll, teilweise sogar mit erhöhter Geschwindigkeit. Es geht ja nicht nur um CO2, sondern auch um andere Treibhausgase, allen voran Methan. Diese Emissionen treten gerade beschleunigt auf – und zwar auch durch biogene Prozesse … … für die wir Menschen nichts können. Genau, aktuell beobachten wir das beim Methan, das in der Tundra freigegeben wird. Die Vorstellung, dass sich zusätzliche Effekte ergeben, die die Geschwindigkeit des Klimawandels mitbestimmen, ohne dass wir etwas damit zu tun haben, ist beängstigend. Das klingt nicht sehr optimistisch. Es gibt auch andere positive Anzeichen, die darauf hindeuten, dass sich die vom Menschen verursachten CO2-Emissionen nicht nur langsam stabilisieren, sondern die Geschwindigkeit in den nächsten Jahren auch abnehmen könnte. Wir sollten uns hier nicht davon demotivieren lassen, dass die Ergebnisse unserer Bemühungen erst langsam bewertbar werden. Zu Beginn dauert es, bis überhaupt etwas erkennbar ist. Aber dann wird es relativ schnell gehen, dass sich die Werte verbessern, sogar exponentiell.
Zu Beginn dauert es, bis überhaupt etwas erkennbar ist. Aber dann wird es relativ schnell gehen, dass sich die Werte verbessern, sogar exponentiell.
In welchen Feldern geht es gut voran? Nehmen Sie die E-Autos: Sie sind dabei, den Verbrenner abzulösen. Zudem ist die Art und Weise, wie heute gebaut wird, deutlich klimafreundlicher, auch hier gibt es viele positive Veränderungen. Würden Sie sagen, dass es die Weltgesellschaft begriffen hat, worauf es beim Kampf gegen die Klimakrise ankommt? Intellektuell begriffen, ja. Emotional nicht unbedingt. Die „eine“ Weltgesellschaft gibt es ja sowieso nicht, sondern es gibt verschiedene Reaktionen von verschiedenen Teilen der Gesellschaft. Da sind zum Teil emotional-psychologische Prozesse erkennbar, die in die eine oder andere Richtung gehen und teilweise zu Widerstand gegen Maßnahmen führen können. Das will ich gar nicht abwerten, oft stecken persönliche Begründungen dahinter. Das sind komplizierte Prozesse – gesellschaftlich, persönlich –, mit denen wir alle umzugehen haben. Bleiben wir noch einmal beim Bild mit der Badewanne: Es ist bereits technisch möglich, CO2 aus der Atmosphäre zu holen. Ist diese Technik die Pumpe, die uns dabei hilft, die Wanne leerzusaugen? Diese Technik funktioniert, das schon. Aber es wird nicht funktionieren, ab jetzt mit der Einstellung an das Problem heranzugehen: „Wir haben hier einige technologische Optionen, da braucht man ja nichts mehr zu machen.“ Da muss man schon mal genau auf die Zahlen gucken: Wir Menschen emittieren derzeit 55 Gigatonnen CO2 pro Jahr. Wenn wir alle negativen Emissionstechnologien implementieren würden, dann wäre es schon gigantisch, wenn wir pro Jahr ein, zwei Gigatonnen aus der Atmosphäre holen könnten. Es gibt Studien, die sagen, zehn Gigatonnen seien auch möglich, aber ich bin da skeptisch.
Der Hochlauf einer solchen Technologie ist nicht in drei Jahren zu machen, das dauert mehrere Jahrzehnte. Daher: Wir müssen unsere Emissionen auf null reduzieren – und zwar möglichst schnell.
Aber wenn es doch generell funktioniert: Warum holt man nicht mehr aus der Atmosphäre raus? Weil die Menge an Energie, die man dafür benötigt, alles sprengen würde. Was man auch bedenken muss: Der Hochlauf einer solchen Technologie ist nicht in drei Jahren zu machen, das dauert mehrere Jahrzehnte. Daher: Wir müssen unsere Emissionen auf null reduzieren – und zwar möglichst schnell. Gibt es dann eines Tages diese Technologien im großen Maßstab, dann helfen sie uns im besten Fall dabei, die Temperatur wieder schrittweise zu reduzieren. Negative Emissionen sind also kein Allheilmittel, sondern die Möglichkeit, es am Ende noch ein wenig besser hinzubekommen. Wir reden also nicht von einer Pumpe, sondern von einem Löffel, der superschwer und noch gar nicht erfunden ist. Genau. Aber der Löffel kann schon seinen Dienst erfüllen, so ist es nicht. Wir sollten uns also dran machen, diesen Löffel zu schmieden und ihn so leicht, also kosteneffizient, wie möglich hinzubekommen. In welchen Bereichen können Ingenieur*innen helfen, die Emissionen auf die Null zu drücken? Der zentrale Bereich sind die Energiesysteme. Solarenergie ist die Technik, in der aktuell am meisten passiert, dort ist das Innovationspotenzial am größten. Die Technik ist sehr modular, man kann sie sehr kleinteilig einsetzen.
Foto: AdobeStock/ Parradee
Foto: AdobeStock/ Parradee
Dadurch ist Möglichkeit gegeben, sie auch in Nischen zu nutzen. Ich spinne einfach mal ein wenig rum: Warum nicht auf dem elektrischen Auto immer auch das Dach mit Photovoltaik bepflastern? Das würde zwar nicht reichen, das Auto anzutreiben. Aber es würde dabei helfen, die Batterie aufzuladen – und letztlich die Netze entlasten. Natürlich bleibt auch Windenergie ein Thema. Hier ist die Dynamik nicht ganz so hoch, weil die Energieform nicht so günstig ist wie die Photovoltaik. Wir werden Wind dennoch in großem Stil brauchen, gerade auch in Deutschland, wo Wind zur Sonne komplementär ist: Weht der Wind, scheint häufig die Sonne nicht, gerade im Winter. Übergeordnet brauchen wir Ingenieurinnen und Ingenieure zudem bei den Netzen, die neu konfiguriert werden müssen. Wind und Solar sind nicht unbedingt dort, wo bisher die Kohlekraftwerke standen. Um das zu kompensieren, brauchen wir neue Netze, verbunden mit einer Nachfragesteuerung. Blicken wir in die 2030er-Jahre: Da werden wir an sehr vielen Tagen im Jahr zu 100 Prozent Energie aus den Erneuerbaren haben – aber im Winter könnte es dann doch zu ein, zwei Wochen kommen, in denen diese Quellen vielleicht nur 50 Prozent liefern werden. Wir werden dann wasserstoffbetriebene Gaskraftwerke haben oder Netzmanagement, sodass dieser Fall keine Gefahr für die Stromversorgung darstellt. Dennoch: Der Energiefluss muss systemisch neu geregelt werden.
Nachhaltig zu denken, ist schon heute eine Berufsqualifikation – und das wird sich noch verstärken.
Wie betrachten Sie das Thema Wasserstoff? Wir müssen, davon bin ich überzeugt, massiv grünen Wasserstoff produzieren. Wir sollten ihn aber nicht überall einsetzen, dafür ist er zu teuer. Es muss schon ökonomisch sinnvoll bleiben, das heißt, wir müssen ihn dort nutzen, wo er den meisten Wert besitzt. Im Flug- oder Schiffsverkehr, wo elektrische Antriebe noch nicht funktionieren. Oder in der chemischen Industrie. Eine Sackgasse ist es dagegen, ihn als E-Fuel im Straßenverkehr einzusetzen. Dort besitzt er ökonomisch keine Perspektive, weil er im Vergleich zum batterie-ökologischen Antrieb einfach zu teuer ist. Eine Nachwuchskraft, die jetzt im Ingenieurbereich anfängt – wird die es zwangsläufig immer mit nachhaltigen Techniken zu tun haben? Ja, absolut. Nachhaltig zu denken, ist schon heute eine Berufsqualifikation – und das wird sich noch verstärken. Wobei nachhaltig zu denken auch bedeutet, ganzheitlich und systemisch zu denken. Bleiben wir beim grünen Wasserstoff, da kann man sagen: „Ja, der ist nachhaltig.“ Aber so einfach ist das nicht, denn man muss auch entscheiden, wo dieser Wasserstoff sinnvoll eingesetzt werden kann und wo nicht. Man muss sich über die Konsequenzen Gedanken machen, über die Effekte, die zu ganz anderen Ergebnissen führen können, als man sich das vorgestellt hat. Angenommen, wir nutzen und subventionieren den Wasserstoff im Pkw-Bereich. Das funktioniert zunächst einmal prima. Systemisch gedacht zahlen wir als Gesellschaft in diesem Fall jedoch dafür, dass er uns woanders fehlt. Das ist ein Fehler im System, und den zu erkennen und zu formulieren, das wird eine Kernaufgabe der Ingenieurinnen und Ingenieure sein.

Zum MCC

MCC steht für Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change. Als Thinktank mit Sitz in Berlin verfolgt es das Ziel, hochrangige wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Analysen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik zu erstellen. So erforsche und liefere MCC „lösungsorientierte Handlungsoptionen für Klimapolitik sowie generell für das Bewirtschaften der globalen Gemeinschaftsgüter – und damit für die Stärkung der vielfältigen Aspekte von menschlichem Wohlergehen“, heißt es in der Selbstbeschreibung auf der Homepage. Gegründet wurde das MCC 2012 von der Stiftung Mercator und dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) als gemeinnützige Gesellschaft. www.mcc-berlin.net

telegramm: Nachhaltig Neues

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Babywindel als Dünger

Foto: AdobeStock/martialred
Foto: AdobeStock/martialred
Ein Baby braucht im Laufe seiner Wickeljahre etwa 4000 Wegwerfwindeln – diese landen nach Gebrauch in der Müllverbrennung. Auch Stoffwindeln sind nicht umweltfreundlich: Sie verbrauchen viel Wasser und Waschmittel für die Reinigung. Das muss auch anders gehen, sagte sich der junge Vater Malte Schremmer, Mitgründer und Geschäftsführer des Unternehmens Goldeimer. Dies stellt Trockenklos auf Festivals zur Verfügung und fertigt Toilettenpapier aus recycelten Kartons. Nun will Goldeimer eine biologisch abbaubare Windel aus nachwachsenden Rohstoffen wie etwa Algenfasern entwickeln, die zersetzt als Humusdünger verwendet werden kann.

Baumaterial aus Pilzen

Foto: AdobeStock/Aletheia Shade
Foto: AdobeStock/Aletheia Shade
Forschende der Universität Newcastle haben ein Verfahren für umwelt- und klimafreundliche Baumaterialien entwickelt. Ihr nachhaltiger Baustoff besteht aus einem gestrickten Wollgewebe mit einem Pilzgeflecht. Das Ergebnis sei erheblich fester als andere Pilz-Zusammensetzungen, schreibt die Forschergruppe in der Fachzeitschrift „Frontiers in Bioengineering and Biotechnology“. Der Vorteil von Pilzen: Ihr Geflecht kann in jede beliebige Form hineinwachsen. Damit die Pilze genug Sauerstoff bekommen, um zu wachsen, experimentierten die Forschenden mit einem Strickgewebe aus Merinowolle. Eine Paste aus Nährstoffen, Stützstrukturen und Wasser fördert das Pilzwachstum.

KI für den Speiseplan

Foto: AdobeStock/Passatic
Foto: AdobeStock/Passatic
Ein Luxusressort im griechischen Chalkidiki will mit künstlicher Intelligenz gegen die Verschwendung von Essen am Buffet vorgehen. Der Roboter Winnow scannt, was die Gäste auf den Tellern liegenlassen, und wiegt die Lebensmittel, die dadurch im Abfall landen. Die KI erkennt eigenständig die unterschiedlichen Lebensmittel und berechnet für das Hotel die Kosten für all das, was die Gäste nicht gegessen haben. Mit dieser Information, die die Köche in Echtzeit erhalten, können sie ihre Rezept- und Menüplanung für die nächsten Tage anpassen. Das Sani Resort in Chalkidiki wurde vergangenes Jahr zum weltweit führenden „grünen Luxusresort“ ernannt und ist seit 2020 das erste klimaneutrale Hotel Griechenlands.

Surfzubehör aus Altplastik

Foto: AdobeStock/STUDIOXI
Foto: AdobeStock/STUDIOXI
Das Start-up Merijaan will der Plastikflut in fernen Ländern, die kein ordentliches Müllmanagement haben, Herr werden. Seine Idee: Kunststoffabfälle von Einheimischen einkaufen, das Plastik einschmelzen und zu neuen Produkten verarbeiten, die für die lokalen Märkte interessant sind. Bei einem Pilotprojekt in Sri Lanka entstand aus dem Plastikmüll Zubehör für Surfboards. Demnächst soll ein ganzes Board aus Kunststoffabfällen entstehen, das nach seiner Lebenszeit wiederum eingeschmolzen und als Rohmaterial wiederverwendet werden kann.

Technologien, die Lust auf Zukunft machen

Manche technologischen Trends setzen sich durch – andere nicht. Woran liegt das? Das Kölner Markt- und Medienforschungsinstitut rheingold hat gemeinsam mit dem Medienhaus Ströer eine Studie durchgeführt, um herauszufinden, welche Rolle der Faktor Mensch beim technologischen Fortschritt spielt. Von Sabine Olschner

„Bei technologischen Innovationen erleben wir ein Übersättigungsgefühl – gerade bei jungen Leuten“, sagt rheingold-Gründer Stephan Grünewald. Ein Beispiel sei das Smartphone: Menschen haben den Eindruck, sie nutzen nur 30 Prozent der Möglichkeiten, die das Gerät eigentlich bietet. „Wir sind zum ersten Mal in der Menschheitsentwicklung an einem Punkt angelangt, an dem das technisch Mögliche die kühnsten Wünsche übersteigt“, führt Grünewald weiter aus. „Früher haben Menschen davon geträumt zu fliegen oder den Weltraum zu erobern. Das ist jetzt möglich – aber es ist sogar noch viel mehr möglich. Nun kommen die Wünsche auf einmal nicht mehr hinterher.“ Unternehmen und ihre Ingenieur*innen stehen also vor dem Problem: Wie müssen ihre neuen Technologien aussehen, um das Übersättigungsgefühl der Menschen zu kompensieren? In ihrer Studie haben rheingold und Ströer vier Bedingungen ausgemacht, die es braucht, damit sich deutsche Verbraucher*innen auf neue Technologien einlassen und digitale Tools besser akzeptieren.
Damit technologische Trends auch tatsächlich zum Erfolg werden und sich im Alltag durchsetzen, müssen die Anwender einen persönlichen Nutzen erkennen.
Eine Bedingung ist, den Menschen wieder das Gefühl zu geben, dass sie die Technik souverän beherrschen können. Anwendungen sollten individuell konfigurierbar sein und den Nutzer*innen Optionen bieten, statt ihnen unaufgefordert digitale Dienstleistungen zu liefern, die sie vielleicht gar nicht haben wollen. Die zweite Bedingung für die Akzeptanz neuer Technologien ist Vertrauen und Sicherheit: Unternehmen sollten transparent kommunizieren, welche Daten sie für die Nutzung von Tools oder Technologien einziehen und was mit den Daten passiert. Bedingung Nummer drei: die Sinn-Haltigkeit. „Technik um der Technik Willen wird häufig abgelehnt“, sagt Christine Mack, Studienleiterin bei rheingold. Wenn Technik hingegen der Allgemeinheit dient, werde sie viel besser angenommen. Als vierte Bedingung nennt Christine Mack die „Not-Wendigkeit“ am Beispiel der Corona-Pandemie: Aus der Not heraus gab es in Deutschland einen Digitalisierungsschub. „Trotzdem muss der User intrinsisch motiviert werden, die neuen Technologien auch tatsächlich zu nutzen“, so Mack. Damit technologische Trends auch tatsächlich zum Erfolg werden und sich im Alltag durchsetzen, müssen die Anwender einen persönlichen Nutzen erkennen, so der Schluss, den die Studie zieht. Der Nutzen kann zum Beispiel eine Vereinfachung oder eine Assistenz für Alltagsprobleme sein. Oder die Technologie kann als kreative Starthilfe dienen – zum Beispiel im Fall von ChatGPT, das Anregungen geben kann, um die eigene Kreativität zu fördern. Ein weiterer Nutzen ist etwa die Erlebnisintensivierung, etwa durch den Gebrauch von Virtual-Reality-Brillen. Die wichtigste Erkenntnis aus der Studie skizziert Stephan Grünewald: „Technologiefreudigkeit ist kein Selbstläufer, der sich mit Blick auf die nächste Generation einlösen wird.“ Deshalb appelliert er an die Unternehmen, mit ihren technologischen Entwicklungen Lust auf die Zukunft zu machen. „Wenn ihnen das nicht gelingt, ist Deutschland als Land der Ingenieure in Gefahr, weil niemand mehr Lust hat, sich mit dem Thema Technik zu beschäftigen.

Gutes Einstiegsgehalt in Sicht

Ingenieurinnen und Ingenieure können nach ihrem Abschluss gute Gehälter erwarten. Ein Ingenieurstudium lohnt sich finanziell auf jeden Fall. Die Höhe des Einstiegsgehalts hängt allerdings stark von der Branche ab. Von Sabine Olschner

Vor allem Unternehmen der Chemie- und Pharmaindustrie sind ein lukrativer Arbeitgeber für Ingenieur*innen: Die Einkommen für Berufseinsteiger*innen in dieser Branche stiegen 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 12 Prozent. Dies ist nur ein Ergebnis der aktuellen Studie „Ingenieurgehälter 2005-2022“ von ingenieur.de. Über 5.600 Ingenieur*innen und IT-Fachkräfte haben 2022 am Gehaltstest teilgenommen, darunter 796 Berufseinsteiger*innen. Junge Arbeitnehmer*innen in der Energieversorgung haben im Schnitt über 8 Prozent mehr erhalten als Einsteiger*innen im Vorjahr, Berufserfahrene im Energiesektor gaben sogar ein Plus von 13 Prozent an. Die Einstiegsgehälter in den Ingenieurberufen unterscheiden sich zum Teil deutlich, je nach Branche und Unternehmensgröße. Über fast alle Fachbereiche gesehen, lag die jährliche Vergütung der Ingenieurabsolvent*innen im Median zwischen rund 52.000 und 53.000 Euro. Die Nase vorn haben Absolvent*innen des Wirtschaftsingenieurwesens mit rund 53.400 Euro Einstiegsgehalt, gefolgt von der Verfahrenstechnik und der Elektrotechnik mit 52.200 beziehungsweise 52.000 Euro. Maschinenbauer*innen gaben in der Studie durchschnittlich rund 52.000 Euro als Einstiegsgehalt an, Mechatroniker*innen 51.600 Euro. Die Einstiegsgehälter von Absolvent*innen des Bauingenieurwesens lagen deutlich unter dem Durchschnitt, nachdem sie aufgrund des Baubooms zwischen 2018 bis 2021 konstante Zuwächse beim Gehalt verzeichnen konnten. Bauingenieur*innen erhielten 2022 ein durchschnittliches Brutto-Jahresentgelt von rund 48.100 Euro. Die Einstiegsgehälter für Ingenieur*innen im Fahrzeugbau stagnierten – allerdings auf hohem Niveau: Sie lagen 2022 bei durchschnittlich 54.200 Euro. Berufseinsteiger*innen in Ingenieur- und Planungsbüros, die bis vor Kurzem im Branchenvergleich noch die niedrigsten Einstiegsgehälter erhielten, lagen 2022 mit rund 50.000 Euro nur noch knapp unter dem Branchendurchschnitt. Fach- und Projektingenieur*innen fangen mit 59.800 Euro an. Mit steigender Berufserfahrung erhöhen sich auch ihre Gehälter: Erfahrene Projektmanager*innen verdienen laut der Studie etwa 72.000 Euro. Noch mehr ist drin, wenn Mitarbeiterverantwortung hinzukommt: Beschäftigte in der Gruppen- und Teamleitung können mit 84.200 Euro rechnen, in der Abteilungsleitung mit circa 95.800 Euro, in der Bereichs- und Hauptabteilungsleitung mit rund 114.500 Euro. Je mehr Mitarbeitende jemandem unterstellt sind, umso besser das Einkommen. Auch ein Masterstudium zahlt sich aus: Masterabsolvent*innen eines Ingenieurstudiengangs erhalten ein durchschnittliches Jahresgehalt von über 53.000 Euro, Bachelorabsolvent*innen rund 48.000 Euro.

Ideen-Coaching: Kultur-, Buch- und Linktipps

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Berliner Start-ups in Las Vegas

Am neuen Audiosystem für die spektakulärste Konzerthalle der Welt, die Ende September in Las Vegas eröffnet wurde, hat das Berliner Start-up Holoplot mitgewirkt. Mit einer einzigartigen Kombination von Audio-Software und -Hardware bekommt jeder der bis zu 20.000 Gäste der kugelförmigen Veranstaltungshalle namens The Sphere ein hervorragendes Klangerlebnis in Kopfhörerqualität geliefert. Holoplot hat das Audiosystem, das aus 1600 Lautsprechern und 167.000 individuell verstärkten Lautsprechertreibern  besteht, zusammen mit den „Sphere Studios“, einem Unternehmen von MSG Entertainment, entwickelt. Foto: Sphere Entertainment Foto: Sphere Entertainment

Magnetfreier Antriebsmotor für Elektroautos

Der schwäbische Autozulieferer Mahle hat einen neuartigen Antriebsmotor für Elektroautos entwickelt. Der Motor ist besonders sparsam und hat einen hohen Wirkungsgrad von 95 Prozent. Der derzeit übliche Wirkungsgrad bei E-Motoren liegt bei 90 Prozent. Mit dem neuartigen Antriebsmotor verbrauchen Elektroautos weniger Energie und erlangen eine hörere Reichweite. Die Effizienz wird durch einen magnetfreien Antrieb erhöht, der keine seltenen Erden mehr als Rohstoff benötigt. Zum Aufbau von Spannungsfeldern wird der Strom induktiv übertragen. Das verringert den inneren Widerstand und damit den Energieverlust. Zudem entsteht durch den Verzicht auf Reibflächen innerhalb des Antriebs kein Staub, was die Haltbarkeit des Motors erhöht.

Die verborgenen Muster von Natur und Gesellschaft erkannen

Cover Im Wald vor lauter BaeumenIn einer vernetzten Welt müssen wir vernetzt denken. Nur so können wir Zusammenhänge, grundlegende Gemeinsamkeiten, universelle Muster und Regeln erkennen und auf diese Weise vielschichtigen Phänomenen wie Pandemien, Klimakatastrophen, Artensterben, Verschwörungserzählungen begegnen. Der Komplexitätsforscher Dirk Brockmann nimmt die Welt als Ganzes in den Blick. Er sucht nach Ähnlichkeiten zwischen natürlichen und gesellschaftlichen Prozessen, macht Verbindungen sichtbar und liefert damit so ungewöhnliche wie aufschlussreiche Perspektiven. Eine Denkanleitung, die Komplexität einfach verständlich macht. Dirk Brockmann: Im Wald vor lauter Bäumen. Unsere komplexe Welt besser verstehen. dtv 2023. 14 Euro

Gen Z hat Lust auf Karriere

Der Generation Z wird oft nachgesagt, sie habe keine Lust auf Arbeit, das Privatleben sei ihr wichtiger, trotzdem will sie schnell viel Geld verdienen. Eine Studie im Auftrag des Netzwerks LinkedIn zeigt nun: Das stimmt so nicht. Wenn die Bezahlung in Ordnung ist, sind 83 Prozent der Gen Z bereit, im Job viel zu leisten. 64 Prozent der Befragten möchten schnell Karriere machen. Allerdings fühlen sich 45 Prozent bei der Jobsuche orientierungslos, über die Hälfte beklagt zu hohe Anforderungen seitens der Arbeitgeber (58 Prozent) und unklare Stellenausschreibungen (57 Prozent).
Foto: AdobeStock/emma
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Zutrauen in Technik steigt

Der TechCompass 2023, eine von Bosch in Auftrag gegebene repräsentative weltweite Umfrage, kommt zu dem Ergebnis, dass 75 Prozent der Befragten glauben, der  technologische Fortschritt mache die Welt besser. 83 Prozent sind der Ansicht, die Technologie spiele eine Schlüsselrolle bei der Bekämpfung der Erderwärmung. „Die Menschen erwarten von Unternehmen Lösungen zur Bekämpfung des Klimawandels“, wird Dr. Stefan Hartung, Vorsitzender der Geschäftsführung der Robert Bosch GmbH, in der Pressemeldung zur Vorstellung des TechCompass 2023 zitiert. www.bosch.com/de/stories/zukunftstechnologien-tech-compass-2023

Nachhaltige Ideen durch den Einsatz von KI

Ideen für den Einsatz künstlicher Intelligenz gibt es viele. Das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO und das Fraunhofer IPA haben im Rahmen einer Studie Literatur recherchiert und Interviews mit produzierenden Unternehmen geführt. Demnach könnte zum Beispiel KI bei der Entwicklung bioabbaubarer und recyclingfreundlicher Produkte helfen, material- und energiesparende Fertigungsprozesse entwerfen, durch frühzeitiges Aufspüren und Aussortieren defekter Bauteile Effizienzen steigern, Klimaanlagen optimal steuern oder ökologische Logistik unterstützen, indem Lieferfahrzeuge maximal ausgelastet werden. Die Studie bietet einen Leitfaden für die Umsetzung in die Praxis und beschreibt, wie Unternehmen in sieben Schritten Ziele definieren und prozess-, IT-technische, personelle und strategische Voraussetzungen prüfen können. Download der Studie: www.ki-fortschrittszentrum.de/de/studien/nachhaltige-ki.html

Souverän mit Kritikern und Rechthabern umgehen

Cover Menschen ueberzeugenWie begeistere ich Kritikerinnen und Kritiker für meine Ideen? Wie hole ich Menschen ins Boot, die stur auf ihren Überzeugungen beharren? Und warum eskalieren viele Diskussionen offline und online so schnell? Marie-Theres Braun zeigt anhand von realen Geschichten aus Beruf und Alltag, wie viel Macht hinter kooperativen Strategien steckt. Sie erklärt den Hintergrund von Gesprächs-Sackgassen und verrät rhetorische Methoden, mit denen wir unser Gegenüber überzeugen und uns in Diskussionen behaupten können. Die Schritt-für-Schritt-Techniken verhelfen selbst konfliktscheuen Menschen zu mehr Durchsetzungsvermögen und Überzeugungskraft. Die Kommunikationsexpertin erläutert mitreißend, wie wir auch schwierige Menschen „knacken“ und zu einer positiven Gesprächskultur finden. Marie-Theres Braun: Menschen überzeugen, die Recht haben wollen. 24 kooperative Techniken. Campus Verlag 2023. 24 Euro

Das letzte Wort hat: Milan von dem Bussche, Gründer von QiTech

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Milan von dem Bussche, Simon Kolb und Paul Nehme (alle 20 Jahre alt; im Bild: Milan und Simon) haben bereits als Schüler die Firma QiTech gegründet, die sie nun neben ihrem Ingenieurstudium erfolgreich weiterführen. Ihre Produkte: aus Altplastik recyceltes Filament – ein Kunststoffdraht als Material für 3D-Drucker – sowie die dazu passenden Recycling-Maschinen. Das Interview führte Sabine Olschner

Milan von dem Bussche, Simon Kolb, Foto: QiTech GmbH
Milan von dem Bussche, Simon Kolb, Foto: QiTech GmbH
Wie kam es zur Gründung Ihres Unternehmens QiTech? Zwei Mitschüler und ich haben mit 15 Jahren am Wettbewerb „Jugend gründet“ teilgenommen und mit unserer Idee gewonnen. Damit diese bislang nur auf dem Papier geplante Idee nicht einfach in der Schublade verschwindet, haben wir uns entschlossen, die Gründung in die Tat umzusetzen. Für unsere ersten Maschinen hat uns der Hausmeister unserer Schule das Schweißen beigebracht, und ich habe aus dem höhenverstellbaren Bett meiner Mutter den Motor ausgebaut, während sie auf Dienstreise war. Wir haben also aus wenig Mitteln viel gemacht und recht früh angefangen, unsere Produkte zu verkaufen. Wie ging es weiter? Aus dem Garagenprojekt wurde bald eine Fabrikhalle. Nach dem Abitur haben wir entschieden: Damit die Maschinen, die wir bauen, auch wirklich gut werden, wäre es doch sinnvoll, wenn wir Ingenieurwesen studieren. Also sind wir alle drei zusammen nach Darmstadt gezogen und studieren nun im zweiten Semester Maschinenbau, Informatik beziehungsweise Elektrotechnik. Vormittags sind wir meist an der Uni, nachmittags in der Firma in unserer neuen Fabrikhalle. Was genau macht QiTech? Unser Unternehmen besteht aus zwei Firmenteilen: In der QiTech GmbH recyceln wir Plastik. Dafür haben wir Maschinen gebaut, die man braucht, um gebrauchtes Plastik zu schreddern, einzuschmelzen und daraus 3D-Druck-Filament herzustellen. Anfangs haben wir die Maschinen nur für unseren eigenen Betrieb entwickelt. Mittlerweile verkaufen wir die Maschinen auch an andere Unternehmen – daraus ist die QiTech Industries GmbH entstanden. Wir haben bereits 70 Maschinen in 14 Länder verkauft, machen ein paar Hunderttausend Euro Umsatz und beschäftigen drei bis fünf andere Studierende. Wie kamen Sie auf die Idee, Plastik wieder in neues 3D-Druck-Filament umzuwandeln? Anfangs war es purer Neid (er lacht). Meine Freunde konnten ihre Handys bereits kabellos laden, mit meinem alten Handy ging das nicht. Also haben wir im 3D-Drucker Handyhüllen mit einer integrierten Kupferspule gedruckt, wodurch auch alte Handys kabellos geladen werden konnten. Das war unsere Idee für den Jugendwettbewerb. Kurz darauf bekamen alle neuen Handys kabelloses Laden als Standardfunktion, und niemand wollte mehr unsere klobigen Kupferhandyhüllen kaufen. Wir überlegten also, was wir mit den Hunderten ungenutzten Handyhüllen machen könnten, und haben ein Verfahren entwickelt, mit dem wir das alte Plastik in neues 3D-Druck-Filament umwandeln. Woher bekommen Sie heute das gebrauchte Plastik? Unternehmen schicken uns zum Beispiel ihre Ausschüsse, ungenutzte Prototypen oder Stützstrukturen, die im 3D-Druck anfallen und die sonst in den Müll wandern würden. Oder Baumärkte überlassen uns die Reste von Zuschnitten aus PETG-Platten. Außerdem haben wir von Fabriken, die Mehrwegflaschen reinigen, zwei Millionen gebrauchte Flaschendeckel erhalten, aus denen wir die wiederverwendbaren Spulen für unser 3D-Druck-Filament herstellen. Dafür haben wir gemeinsam mit Professoren und Assistenten unserer Uni eine neue Maschine mit einer Kamera entwickelt, die mit Hilfe von künstlicher Intelligenz die Deckel nach Farben sortiert.
www.qitech.de
Was sind Ihre nächsten Ziele? Persönlich will ich ein guter Ingenieur werden. Und mit der Firma wollen wir unser Produkt auf der Weltleitmesse für 3D-Druck im November 2023 vorstellen. Unser langfristiges Ziel ist es, gesund zu wachsen und ein Hidden Champion mit unserem Produkt zu werden.

Eintauchen

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Nachts sehen

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der University of Massachusetts Medical School und der University of Science and Technology of China haben Nanopartikel entwickelt, mit denen Mäuse in der Nacht sehen können. Für ihre Studie, die im Fachmagazin „Cell“ erschienen ist, injizierten sie Nanoteilchen unter die Netzhaut der Nagetiere. Der Blutkreislauf leitet die Nanopartikel dann zum Auge weiter. Dort binden sich diese sogenannten Nano-Antennen an die Fotorezeptoren. Das sind die Zellen, die für die Lichtwahrnehmung zuständig sind. Dadurch kann das Auge auf nahes Infrarotlicht ansprechen, das normalerweise kein Signal auslöst. Dies wurde mit zahlreichen Experimenten nachgewiesen. Die Forscher glauben deshalb, dass diese Technologie auch beim menschlichen Auge funktioniert.

Kampf gegen Hirnerkrankungen

Alzheimer, Schlaganfall, Multiple Sklerose und andere neurologische Erkrankungen verursachen schwere Schäden durch eine spezifische Entzündung, die Neuroinflammation. Diese Entzündungen richtig zu behandeln ist eine medizinische Herausforderung, da Zugang zum Gehirn durch den Schädel schwierig ist. Ein Team von Wissenschaftler*innen um Prof. Ali Ertürk von Helmholtz Munich in Zusammenarbeit mit Forschenden der Ludwig- Maximilians-Universität München (LMU) und der Technischen Universität München (TUM) stellten sich nun dieser Herausforderung. Entgegen der traditionellen Vorstellung, dass zwischen Schädel und Gehirn kein direkter Austausch besteht, haben ihre jüngsten Studien direkte Verbindungen zwischen dem Knochenmark des Schädels und der äußersten Oberfläche des Gehirns aufgedeckt. Ali Ertürk erklärt dazu: „Dies eröffnet eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Diagnose und Behandlung von Gehirnerkrankungen und hat das Potenzial, unser Verständnis von neurologischen Krankheiten zu revolutionieren.“

Antiviraler Wirkstoff gegen Herpes

Erst kribbelt es auf der Haut, dann bilden sich schmerzhafte Bläschen: Einmal mit Herpesviren infiziert, bleibt der Erreger ein Leben lang im Körper und kann immer wieder zu Infektionen führen. Medikamente wie Zinksalben lindern zwar die Symptome, beseitigen das Virus aber nicht dauerhaft. Professor Rainer Adelung von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) forscht seit über zehn Jahren an speziellen Zinkoxidpartikeln und ihren Anwendungsmöglichkeiten. In einer Kooperation mit der Phi-Stone-AG, einer Ausgründung der CAU, entwickelte er aus den Partikeln einen antiviralen Wirkstoff, der Herpesviren vollständig immobilisiert. Mit dieser Innvoation errangen der Wissenschaftler und das Unternehmen den zweiten Platz im Wettbewerb um den Innovations-Transfer-Preis der „Prof. Dr. Werner-Petersen-Stiftung“. Die Stiftung ehrt damit zukunftsweisende Produkte, die Wissenschaft und Wirtschaft in Schleswig-Holstein gemeinsam entwickelt haben. www.deutschesgesundheitsportal.de

KI im Schockraum

Überall dort, wo viele Daten schnell zur Verfügung stehen müssen, bieten Systeme mit Künstlicher Intelligenz neue Möglichkeiten. Dies ist in der Notaufnahme der Fall – aber auch beim Kampf gegen Psychische Erkrankungen oder Krebs. Erste Praxiserfahrungen zeigen: Die Chancen sind groß, doch es bestehen auch Gefahren wie Verzerrungen oder Diskriminierungen. Gefragt sind Maßnahmen und Methoden, um Daten zu validieren und Benachteiligungen zu verhindern. So entstehen neue Jobs an der Schnittstelle zwischen Medizin und IT. Ein Essay von André Boße

Im Fall eines Rettungseinsatzes kommt es darauf an, ohne Verzögerung alle notwendigen Fakten zu erhalten. Rücken die Sanitäter*innen an, müssen sie in Sekundenschnelle wissen, was passiert ist, mit welchem Patienten sie es zu tun haben. Vorerkrankungen, Symptome, Allergien – alles kann von lebensrettender Bedeutung sein. Was sie erfahren, beeinflusst ihren Einsatz. Zeit, die Informationen zu dokumentierten, bleibt nicht. Auch im Krankenhaus, in der Notaufnahme, schließlich im Schockraum, wo die Erstversorgung schwerst- und mehrfach verletzter oder kranker Patienten vorgenommen wird, kommt es darauf an, dass die wesentlichen Informationen unmittelbar die behandelnden Notfallmediziner*innen erreichen. Dies geschieht in der Eile häufig mündlich, per Zuruf. Diese Form der Kommunikation will gelernt sein. Sie funktioniert, das zeigt sich Tag für Tag. Aber: Sie ist dennoch anfällig für Fehler. Anfällig dafür, dass wichtige Informationen in der Eile des Geschehens verloren gehen.

KI als Hilfssystem im Noteinsatz

Kann da nicht die Technik helfen? Dieser Gedanke stand zu Beginn des vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) geförderten Projekts mit dem Titel TraumAInterfaces. Die beiden Großbuchstaben in der Mitte geben den innovativen Ansatz bereits vor: Hier ist AI im Spiel, Artificial Intelligence. Am Projekt beteiligt sind das Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyseund Informationssysteme (IAIS) sowie die Universitäten in Bonn, Witten/Herdecke und Aachen.

Digitale Bremse im Gesundheitssystem – woran liegt’s?

Laut einer Studie des Fraunhofer Institut IAIS, publiziert in der Ausgabe 1/2023 des Magazins „Fraunhofer“, sagen 54 Prozent der befragten Mediziner*innen aus Kliniken, sie würden KISysteme in ihrer Klinik nicht nutzen, würden dies aber in Zukunft befürworten. 71 Prozent der Ärzt*innen sind laut Befragung davon überzeugt, dass strenge Datenschutzvorgaben den medizinischen Fortschritt erschweren. 91 Prozent der Studienteilnehmenden glauben, dass die Komplexität des deutschen Gesundheitssystem dafür verantwortlich ist, dass die Digitalisierung im Gesundheitswesen der Bundesrepublik noch nicht weiter fortgeschritten ist. Quelle der Zahlen ist die Studie „Digitalisierung in Praxis und Klinik“ des Digitalverbandes Bitkom und des Hartmannbundes aus dem Oktober 2022.
Die Grundlage der Forschung ist ein auf Künstlicher Intelligenz basierendes System, das bei einem Rettungseinsatz die verbale Kommunikation erfasst, transkribiert und strukturiert. „Unsere KI trifft aber keine Entscheidungen“, wird Dario Antweiler, Leiter des Geschäftsfeldes Healthcare Analytics am Fraunhofer IAIS, im der Ausgabe 1/2023 des Institutsmagazins Fraunhofer zitiert. „Ziel ist es, das Schockraum-Team bei der Entscheidungsfindung so effektiv wie möglich zu unterstützen.“ Auch für die spätere Dokumentation des Falls sei die strukturierte Erfassung der relevanten Informationen sowie des Verlaufs der Behandlung wertvoll: „Hierfür“, wird Antweiler zitiert, „wird bisher viel ärztliche Zeit verschwendet, die dadurch nicht mehr für die Patientinnen und Patienten zur Verfügung steht.“

Jeder Mensch ist anders – und doch gibt es Korrelationen

KI im Notfall kann also Leben retten und zeitgleich die Arbeitssituation im Krankenhaus verbessern. Dies ist ein Aspekt, der mit Blick auf den Fachkräftemangel immer wichtiger wird. Entsprechend gewinnbringend war es für das Fraunhofer-Team von Dario Antweiler, als es sich bei Forschungsreisen in viele Krankenhäuser auf die Suche nach möglichen Anwendungsfällen für auf Künstlicher Intelligenz basierender Systeme machte. Die Medizin weiß: Jeder Mensch ist anders. Und doch gibt es selbst bei sehr individuellen Krankheitsbildern Zusammenhänge zu bereits bekannten Fällen. Diese statistischen Korrelationen kann die KI aus einer gigantischen Menge an Berichten, Studien oder Fachartikeln herausfiltern – um frühzeitig mögliche Komplikationen oder Risiken zu erkennen. „Literature-Mining“ nennt man diesen Vorgang – und in der Medizin ist unglaublich viel Wissen in Text- und Tabellenform dargelegt.
KI ist oft mit einer komplexen Anwendung von Statistiken, mathematischen Ansätzen und hochdimensionalen Daten verbunden, die bei unsachgemäßem Vorgehen zu Verzerrungen, einer ungenauen Interpretation von Ergebnissen und überzogenem Optimismus hinsichtlich der Gesamtbilanz von KI führen können.
„KI ist mittlerweile sehr gut darin, Informationen aus Texten zu extrahieren“, wird der Leiter des Geschäftsfeldes Healthcare Analytics am Fraunhofer IAIS im Fraunhofer-Magazin zitiert. „Im Gesundheitswesen gibt es da einen riesigen Bedarf. Fast alle Informationen liegen in Textform vor, seien es Befunde, Arztbriefe oder Dokumentationen. Es frisst nicht nur unglaublich viel Zeit, diese Texte zu erstellen, sondern auch, sie zu lesen und auszuwerten.“

KI bei psychischen Erkrankungen

Wie ein KI-System im Schockraum als kommunikative Helfer und Wissens-Strukturgeber helfen kann, ist konkret vorstellbar. Komplizierter ist die Sache beim Thema Psychischer Erkrankungen. Eine Studie der World Health Organization (WHO) hat untersucht, wo in diesem Bereich die Potenziale und Probleme liegen. Die Relevanz des Themas liegt auf der Hand: Laut WHO lebten bei der letzten Erhebung im Jahr 2021 in Europa mehr als 150 Millionen Menschen mit einer psychischen Erkrankung – das ist fast jede fünfte Person. Ende 2022 präsentierte die Organisation einen Aktionsplan zur „Förderung der digitalen Gesundheit in der Europäischen Region der WHO“, in der die „Notwendigkeit von Innovationen im Bereich der prädiktiven Analytik für bessere Gesundheit durch Big Data und KI anerkannt“ wird – gerade auch im Bereich der psychischen Erkrankung. „Angesichts der zunehmenden Nutzung Künstlicher Intelligenz im Gesundheitswesen ist es wichtig, den aktuellen Stand der Anwendung von KI für die Forschung im Bereich der psychischen Gesundheit zu bewerten, um Informationen über Trends, Defizite, Chancen und Herausforderungen zu gewinnen“, wird Dr. David Novillo-Ortiz, Regionalbeauftragter für Daten und digitale Gesundheit bei WHO/Europa und einer der Autoren der Studie, in einer Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der WHO zitiert.

Mängel und Fehler bei der KI-Daten-Analyse

Die Studie zeigt, dass KI-Anwendungen derzeit häufig bei der Erforschung von depressiven Störungen, Schizophrenie und anderen psychotischen Störungen zum Einsatz kommen – in vielen anderen Bereichen existierten noch „erhebliche Lücken in unserem Verständnis, wie sie zur Erforschung anderer psychischer Gesundheitsprobleme eingesetzt werden können“, wird Dr. Ledia Lazeri, Regionalbeauftragte für psychische Gesundheit bei WHO/Europa, zitiert.

Forschungsprojekt gegen diskriminierende KI

Foto: AdobeStock/blankstock
Foto: AdobeStock/blankstock
Eine Vielzahl von Studien hat zuletzt gezeigt, dass sich KI-Algorithmen in der Medizin gegenüber Minderheiten benachteiligend verhalten. Ein Forschungsprojekt der Uni Hamburg erarbeitet aktuell eine Methodik, die Diskriminierungen durch Künstliche Intelligenz in der Medizin vermeiden soll. „Bei der Diskriminierung durch Algorithmen werden Gruppen mit geschützten Merkmalen (vor allem Alter, Geschlecht, Religion, ethnische Herkunft, sexuelle Orientierung und Behinderung) durch Algorithmen ungerechtfertigt benachteiligt. Dies kann u. a. durch die Unterrepräsentierung von Trägern geschützter Merkmale im Datensatz entstehen“, heißt es in einer Pressemitteilung zum Forschungsprojekt. Beispielsweise bestehe ein dermatologischer Datensatz zumeist aus Hautläsionen hellhäutiger Patienten, „wodurch ein Algorithmus nicht erlernt, Läsionen dunklerer Hauttöne zu erkennen.“
Laut Studie haben die Probleme bei der Anwendung von KI etwas mit den Stärken dieser Systeme zu tun. „KI ist oft mit einer komplexen Anwendung von Statistiken, mathematischen Ansätzen und hochdimensionalen Daten verbunden, die bei unsachgemäßem Vorgehen zu Verzerrungen, einer ungenauen Interpretation von Ergebnissen und überzogenem Optimismus hinsichtlich der Gesamtbilanz von KI führen können“, formuliert es die WHO in der Zusammenfassung der Ergebnisse. Die Studie habe erhebliche Mängel bei der Verarbeitung von Statistiken durch die KI-Anwendungen festgestellt, auch seien daraus folgende Verzerrungen nicht genügend evaluiert worden. Zudem betrachtet es die WHO-Studie kritisch, dass die Forschung und Anwendung der KI-Systeme häufig in „Silos“ stattfinden: Es fehlt sowohl Transparenz als auch die Möglichkeit, sich unter den Forschenden auszutauschen und zusammenzuarbeiten. Wodurch auch verhindert wird, dass methodische Schwächen ausgemerzt werden können.

Schwierig bei Tumorbild-Analyse

Welche Folgen diese methodischen Fehler haben können, zeigt das Fallbeispiel einer Studie von der Universität Chicago, auf das David Sweenor, Senior Director of Product Marketing beim Softwareunternehmen Alteryx, in einem Beitrag auf dem Healthcare/IT-Portal mednic hinweist. Die Forschenden aus Chicago untersuchten in verschiedenen Kliniken mithilfe eines KI-Systems, welchen Einfluss die Erstellung von Gewebebildern des Tumors auf die Überlebensrate der Patient*innen hat. „Auf den ersten Blick war das Modell erfolgreich“, schreibt David Sweenor. Dann stellte sich jedoch heraus, dass die KI anhand der benutzten Farb- und Scan-Einstellungen herausbekommen hatte, welche Klinik welches Tumorbild geliefert hatte. Und was machte die KI?

Geruchssinn digitalisieren

Foto: AdobeStock/4zevar
Foto: AdobeStock/4zevar
Ob „Mir stinkt’s“ oder „Ich kann dich nicht mehr riechen“ – es gibt eine Reihe von Redewendungen, die einen Bezug zum Wohlbefinden mit dem Geruchssinn herstellen. Das von der EU unterstützte Programm Smart Electronic Olfaction for Body Odor Diagnostics (SMELLODI) untersucht die Zusammensetzung und Wahrnehmung von Körpergerüchen. Körpergerüche spielten in vielen sozialen Situationen eine subtile, aber entscheidende Rolle, heißt es in der Projektbeschreibung der Uni Jena, die an diesem Projekt beteiligt ist. Sie beeinflusse die Anziehungskraft auf unseren Partner, schaffe ein Zusammengehörigkeitsgefühl in der Familie und lasse Rückschlüsse auf Gefühle oder Krankheiten unserer Mitmenschen zu. Das liege daran, dass der Körpergeruch unter anderem durch genetische Verbindungen, hormonelle Veränderungen, aktuelle Entzündungsprozesse oder die Ernährung beeinflusst wird. Gesamtziel des Projektes sei es, den Geruchssinn zu digitalisieren und für Gesundheitsanwendungen, zum Beispiel für Patienten und Patientinnen mit einer Riechstörung, nutzbar zu machen.
„Anstatt die Überlebensrate der Patient*innen auf Grundlage der Bilder zu berechnen, führte die KI diese auf die historischen Daten der jeweiligen Krankenhäuser zurück, was die Ergebnisse der Studie fragwürdig erscheinen lässt“, schreibt Sweenor. Statt also den Einfluss der Bilder zu analysieren, bewertete die KI die Statistiken der jeweiligen Kliniken. Eine Möglichkeit wäre es, die von der KI erhobenen Daten im Anschluss noch einmal von Menschen validieren zu lassen – wobei eine vollständige Prüfung aufgrund der reinen Menge der Daten kaum möglich ist.

Diversität in den Fachteams

Damit diese Probleme von KI in der Medizin gelöst werden, sind Fachkräfte nötig, die auf der Schnittstelle zwischen Medizin und Zukunftstechnik die methodischen Schwächen analysieren, beheben und Maßnahmen dagegen finden, dass sie erneut auftreten. David Sweenor fordert in seinem Beitrag für mednic zudem, dass die Barrieren zwischen Mitarbeitenden und den neuen Technologien abgebaut werden. Dies sei schon deshalb wichtig, da die Diversität derjenigen, die mit den KI-Modellen arbeiten, die Datenqualität erhöhen. Sweenor: „Unterschiedliche Teams vor Ort sind aufgrund ihrer eigenen Erfahrung viel eher in der Lage, Datenfehler zu erkennen, bevor sie vollständig operationalisiert werden.“ Dieser „kollaborativere Prozess“ sei auch ein wichtiger erster Schritt, um KI-basierte Diskriminierung zu vermeiden – zum Beispiel den Umstand, dass die Künstliche Intelligenz mit Daten trainiert wird, die nicht der gesellschaftlichen Vielfalt entsprechen.
Cover KI-RevolutionIn den USA hat sich das Buch „The AI Revolution in Medicine: GPT-4 and Beyond“ bereits zu einem Bestseller entwickelt, seit diesem Sommer gibt es das Werk unter dem Titel „Die KI-Revolution in der Medizin: GPT-4 und darüber hinaus“ auch auf Deutsch. Die Autoren Peter Lee, Isaac Kohne und Carey Goldberg legen in ihrem Buch dar, wie vielseitig, wirksam und tatsächlich revolutionär die Künstliche Intelligenz uns in den kommenden Jahren verändern wird und welche Chancen, aber auch Gefahren sich daraus ergeben, ausgehend von einer Aussage von Bill Gates, die im Buch zitiert wird: „Die Entwicklung der KI ist so grundlegend wie die Erfindung des Personalcomputers. Sie wird die Art und Weise, wie Menschen arbeiten, lernen und kommunizieren, verändern – und das Gesundheitswesen umgestalten. Aber sie muss sorgfältig gesteuert werden, um sicherzustellen, dass ihre Vorteile die Risiken überwiegen. Ich finde es ermutigend, dass die Chancen und Verantwortlichkeiten der KI in der Medizin so früh erforscht werden.“ Peter Lee, Isaac Kohne und Carey Goldberg: Die KI-Revolution in der Medizin: GPT-4 und darüber hinaus. Pearson Studium. 2023.

Naturheilkundler Prof. Dr. Andreas Michalsen im Interview

Prof. Dr. Andreas Michalsen ist in zwei medizinischen Welten zu Hause, die er zusammenbringen möchte. Der Professor für Klinische Naturheilkunde der Charité Berlin und Chefarzt der Abteilung Innere Medizin und Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin ist der festen Überzeugung, dass die Naturheilkunde im Kampf gegen die chronischen Krankheiten eine Schlüsselrolle spielt. Im Interview erzählt er, warum er diesen Ansatz für Ärztinnen und Ärzte als erfüllend empfindet und wie aktuell die Gesellschaft die Medizin verändert. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Prof. Dr. med. Andreas Michalsen, geboren 1961 in Bad Waldsee als Sohn eines KneippArztes, ist Internist, Ernährungsmediziner und Fastenarzt. Als Professor für Klinische Naturheilkunde der Charité Berlin und Chefarzt der Abteilung Innere Medizin und Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin forscht, lehrt und behandelt er mit den Schwerpunkten der Ernährungsmedizin, des Heilfastens, des Intervallfastens und der Mind-BodyMedizin, die Schulmedizin und Naturheilkunde zusammendenkt. Michalsen publiziert und referiert international im Bereich der Naturheilkunde und Komplementärmedizin.
Herr Prof. Dr. Michalsen, Sie schreiben auf Ihrer Webseite, dass die fundierte Naturheilkunde die „einzige Antwort auf die steigende Zahl chronischer Leiden“ sei. Woran machen Sie diese These fest? „Einzige“ ist vielleicht etwas übertrieben, aber die Naturheilkunde ist darauf eine richtige Antwort, daran glaube ich. Wir sehen seit vielen Jahren eine sehr erfolgreiche technologisch-pharmakologische Entwicklung in der Medizin. Wir sind sehr erfolgreich in der Akutmedizin, in der Intensivmedizin, bei der Behandlung des akuten Herzinfarktes bis hin zu neuen chirurgischen Techniken. Seit 30, 40 Jahren erleben wir aber, dass Ärztinnen, Ärzte und auch Krankenhäuser verstärkt mit chronischen Erkrankungen konfrontiert werden. Die Zahlen explodieren. Bluthochdruck, Diabetes Typ 2, Arthrose, Depression – das sind alles Volkskrankheiten geworden. Ich selbst bin ja auch Internist, also Teil der konventionellen Medizin, aber die Antworten, die wir auf diese chronischen Krankheiten finden, sind nicht immer nachhaltig und nur wenig kosteneffektiv. Wir kontrollieren diese Erkrankungen – jedoch erstens zu einem sündhaft teuren Preis und zweitens mit vielen unerwünschten Wirkungen. Was macht die Naturheilkunde anders? Sie legt den Fokus auf den Lebensstil: auf die Ernährung, auf Stress, auf Bewegung oder physikalische Reize. Klar, die Naturheilkunde ist eher vorbeugend als therapeutisch, aber ich bin der Meinung, dass wir zum Beispiel bei Bluthochdruck nicht reflexartig ein Medikament verschreiben sollten, sondern dass wir erstmal schauen, was der Patient uns über seinen Lebensstil erzählt. Dabei fragen wir ihn, welche Stressfaktoren für ihn eine Rolle spielen, wie er sich ernährt, bewegt. Mit dem Ziel, einen Hebel zu finden. Um beim Beispiel Bluthochdruck zu bleiben, 90 Prozent aller Fälle nennen wir essenziell – das heißt, wir finden dafür keine spezifische Organursache, verantwortlich ist der Lebensstil. Aber sollte nicht auch die Schulmedizin nach diesen Aspekten fragen? Diese Informationen über Ernährung, Stress oder Bewegung sind doch die Grundlage der Diagnose. Natürlich steht in den Leitlinien der modernen Medizin, dass wir danach fragen sollten. Aber faktisch passiert das nicht. Oder nur zu wenig. Faktisch geht der Mensch zum Arzt, bleibt da drei Minuten und kriegt ein Rezept in die Hand. Mein Ansatz lautet: Das muss andersherum gedacht werden. Es muss erst die Ursache gefunden werden, und dann muss ich als Mediziner das Handwerkszeug besitzen, Anwendungen zu verordnen, die ursächlich die Erkrankung angehen und individualisiert zum Patienten passen. Seien es Ernährungsinterventionen, manuelle Behandlungen, Yoga, Meditation oder auch eine Form des Heilfastens. Erkennen Sie beim medizinischen Nachwuchs, dass dieser ähnlich denkt wie Sie? Absolut, ja. Wir bekommen wahnsinnig viel Bewerbungen, und ich bin der Überzeugung, dass es viele junge Ärztinnen und Ärzte zufriedenstellt, nach diesem Ansatz zu behandeln. Es ist erfüllend, zusammen mit dem Patienten an den Ursachen einer chronischen Erkrankung zu drehen, statt immer nur mit Medikamenten die Symptome zu kontrollieren. Nach den Ursachen zu suchen, kostet Zeit. Und Zeit ist es, was Ärzte in der Regel nicht haben, oder? Stimmt, das ist ein strukturelles und politisches Problem. Das Gesundheitssystem, so wie es aktuell aufgestellt ist, wird von falschen Honoraranreizen geprägt. Für das Wesentliche bleibt keine Zeit, weil ich als Arzt gucken muss, dass ich möglichst viele Privatpatienten habe, dass ich meinen Gerätepark möglichst gut auslaste – und dass die Patienten möglichst wenig Zeit bei mir verbringen. Bei der Behandlung chronischer Erkrankungen kann dieses Praxismanagement aber nicht die richtige Antwort sein. Das Problem ist nur, dass derzeit eine medizinisch sinnvollere Strategie in der Praxis nicht zu finanzieren ist. Das ist ein Dilemma.
„Am Ende aber muss uns allen klar sein, dass wir biologische Wesen sind. Dass wir gesundheitliche Probleme bekommen, wenn wir uns über Jahre gegen unsere Biologie verhalten.“
Wie kommen wir da heraus? Ich glaube, wir benötigen einen Bewusstseinswandel. Wie eben schon gesagt: Wir können sehr stolz auf das sein, was die Medizin technisch entwickelt und erforscht hat. Am Ende aber muss uns allen klar sein, dass wir biologische Wesen sind. Dass wir gesundheitliche Probleme bekommen, wenn wir uns über Jahre gegen unsere Biologie verhalten. Und dass es logisch ist, dass wir diesen Problemen biologisch begegnen – und nicht nur mithilfe von Technik. Dieses Denken muss wieder in die Köpfe der Ärztinnen und Ärzte. Das Interessante dabei ist: Die Bevölkerung weiß oft mehr über die Naturheilkunde, als es bei den Ärztinnen und Ärzten der Fall ist. Deswegen ist zum Beispiel Ernährung so ein Riesenthema. Die Leute spüren: Da liegt der Hase im Pfeffer. Auf diese Art entstehen regelrechte Volksbewegungen, Yoga, Meditation, Heil- oder Intervallfasten. Und plötzlich machen die Leute die Erfahrung, dass mit Hilfe von Yoga-Übungen die Rückenschmerzen auch ohne orthopädische Spritzen verschwinden. Und dass sie auch nicht wiederkommen. Es liegt eine gewisse Tragik in der Tatsache, dass viele Orthopäden von Yoga keine Ahnung haben. Dass viele Allgemeinmediziner nicht wissen, worauf es beim Intervall- oder Heilfasten ankommt.
„Das Thema des Bindegewebes und der Faszien, der Dehnung und Gelenkbeweglichkeit hat nicht mehr interessiert, weil vor allem gespritzt und operiert wurde.“
Es gab zuletzt unter den Medizinern große Diskussionen über Liebscher & Bracht, die im Internet großen Erfolg mit ihren Physiotherapie-Übungen haben, mit fast zwei Millionen Abonnenten. Wenn Kollegen darüber sprechen, erhitzen sich die Gemüter: „Die erzählen Quatsch!“ Dann denke ich mir, ja, das mag nicht alles nach Lehrbuch ablaufen, aber so erfolgreich sind sie deshalb, weil die meisten Ärztinnen und Ärzte sich mit dem Thema gar nicht mehr auskennen. Das Thema des Bindegewebes und der Faszien, der Dehnung und Gelenkbeweglichkeit hat nicht mehr interessiert, weil vor allem gespritzt und operiert wurde. Daher holen sich die Leute ihre Informationen dazu auf eigene Faust im Internet, und zwar vollkommen zu Recht. Treffen Sie auf viele Stimmen aus der Schulmedizin, die der Naturheilkunde generell skeptisch gegenüberstehen? Es gibt schon noch die Kritiker und Skeptiker, die alles in Frage stellen, oft verbunden mit dem Hinweis, dass es nicht genügend Studien gebe, die den Erfolg der naturheilkundlichen Maßnahmen bestätigen. Dann entgegne ich: Doch, es gibt diese Studien. Nur sind diese nicht so groß angelegt, wie es in der Pharmakologie der Fall ist. Was daran liegt, dass es für die Studien in der Naturheilkunde keine Financiers gibt. Ein zweites Gegenargument, das ich häufig höre, lautet: „Das ist ja alles nur Wellness.“ Ihre Antwort darauf? Ja natürlich, kann Yoga das allgemeine Wohlbefinden fördern. Dass es dann auch gegen chronische Rückenleiden hilft oder die Lebensqualität in der Krebstherapie erhöht, muss ja kein Widerspruch sein. Medizin muss nicht immer bitter sein! Was ich aber auch merke, ist, dass die Gesellschaft die Medizin verändert. Das fängt oft in der Familie an. Thema Ernährung: Wenn sich die eigenen Kinder plötzlich vegan ernähren und positive Effekte erkennbar sind, dann kommt man als Arzt ins Nachdenken. Die Medizin wird also nicht nur von der Forschung und Entwicklung der Pharmakonzerne beeinflusst, sondern auch von der Gesellschaft, den Menschen. Das ist eine Tatsache, an die sich mancher Mediziner noch gewöhnen muss. Auch daran, dass der Patient, der zu ihm kommt, häufig sehr viel über seine Erkrankung und manchmal mehr über mögliche Therapien weiß als er. Da bekommt das Stereotyp der Götter in Weiß mit der rettenden Pille im Schrank Risse. Das kehrt sich um. Plötzlich kommt der Patient und sagt: „Diese Übung, die hat mir geholfen, machen Sie die doch auch mal, Herr Doktor!“

Zu den Büchern

Prof. Michalsen ist Autor von verschiedenen Büchern über die moderne Naturheilkunde. Das Buch „Heilen mit der Kraft der Natur“ ist als Band für Einsteiger*innen konzipiert und ist 2020 in einer aktualisierten Neuauflage erschienen. „Mit Ernährung heilen“ (2019) führt in die Themen Ernährung und Fasten ein, „Die NaturDocs: Meine besten Heilmittel für Gelenke. Arthrose, Rheuma und Schmerzen“ behandelt Möglichkeiten, mithilfe der Naturheilkunde chronische Schmerzen bei Gelenkerkrankungen zu lindern.

Die Karrierewege von Ärzten

Die ärztliche Ausbildung beginnt mit einem Hochschulstudium. Aber wie es nach dem Universitätsabschluss weitergeht, ist oft nicht klar. Welche Karrierewege warten und worauf Absolventen achten müssen, zeigt die Deutsche Apothekerund Ärztebank in ihrem Karrierekompass. Der „karriereführer ärzte“ greift die wichtigsten Punkte auf.

Assistenzärzte in Weiterbildung

Nach ihrer Approbation stehen „Assistenzärzten in Weiterbildung“ zwei Wege offen: Sie können sich im Krankenhaus oder in ärztlichen Praxen anstellen lassen. In dieser Zeit unterstützen sie bei der Betreuung und der Behandlung von Patienten, übernehmen allgemeine Dokumentationen oder helfen bei Operationen.

Facharzt

Nach der Facharztausbildung heißt es erneut, sich zwischen stationär oder ambulant zu entscheiden. Bei der stationären Laufbahn arbeiten Fachärzte als Assistenzärzte in Krankenhäusern oder ambulanten Praxen. Sie assistieren bei Operationen und übernehmen die Betreuung und Behandlung der Patienten auf der Station oder in der Praxis. Ihr Eintrittsalter liegt im Durchschnitt bei Ende 20.

Oberarzt

Zwischen 30 und 35 Jahren liegt das durchschnittliche Alter der stationären Oberärzte. Sie führen Operationen und komplexe Behandlungen durch und haben dank der täglichen Stationsarbeit einen intensiven Patientenkontakt. Außerdem sind sie für die Ausbildung der Assistenzärzte zuständig. Sie tragen Führungsverantwortung und unterstehen dem zuständigen Chefarzt. Je nach Größe der Station teilt ein Oberarzt sich die Verantwortung mit weiteren Oberärzten. Der leitende Oberarzt übernimmt wie alle anderen Oberärzte in einem Krankenhaus die Durchführung von Operationen und komplexeren Behandlungen. Oberärzte haben den Facharzttitel, oft auch mit Schwerpunktqualifikation, und können, wenn sie leitende Oberärzte sind, mehrere Jahre Berufserfahrung vorweisen. Sie übernehmen dann auch die strategische Organisation der Station und die Vertretung des Chefarztes. Alle Oberärzte haben Dokumentationspflichten, müssen Dienstund Urlaubspläne erstellen und haben Budgetund Controllingaufgaben. Der leitende Oberarzt leistet außerdem Rufbereitschaft und trägt noch mehr Personalverantwortung.
Ausführlichere Informationen zu den Karrierewegen in den Heilberufen finden sich auf der Webseite der Deutschen Apotheker- und Ärztebank.

Chefarzt

Auch der Chefarzt verfügt über den Facharzttitel, mehrjährige Berufserfahrung, er kann wirtschaftliche Kenntnisse vorweisen und hat in der Regel promoviert. Das Eintrittsalter als Chefarzt in einem Krankenhaus liegt durchschnittlich zwischen 35 und 49 Jahren. Er ist für die Beratung und Kontrolle der Stations(ober-)ärzte verantwortlich, übernimmt komplexe Operationen und die Behandlung von Privatpatienten.

Ambulante Laufbahn von Ärzten in einer Einzelpraxis

Schlagen Ärzte eine ambulante Berufslaufbahn ein, verfügen sie einerseits über eine hohe medizinische Freiheit, sind aber häufig einem Praxisinhaber unterstellt, der die Personal-, Raumund Gerätekosten trägt.

Ambulante Laufbahn von Ärzten in Kooperationen

Wenn Ärzte in Kooperationen zusammenarbeiten, ergeben sich drei Arten von Anstellungsverhältnissen: eine Berufsausübungsgemeinschaft (BAG), ein medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) und Jobsharing. Angestellte Ärzte können außerdem eine Anstellung in einer Berufsausübungsgemeinschaft (BAG), im Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) oder im Jobsharing finden.

telegramm: Neues aus der Pandemieforschung

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Neuer Ansatz gegen Long COVID

Foto: AdobeStock/davooda
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Forscher vermuten, dass eine Ursache der Fatigue bei Long COVID eine durch die Infektion und folgende Erkrankungsprozesse veränderte Funktionalität der zellulären Kraftwerke, der Mitochondrien, ist. Eine Placebo-kontrollierte Studie prüfte nun, ob eine Mischung aus Aminosäuren und N-Acetylcystein, die in anderen Studien mitochondriale Prozesse positiv beeinflussen konnte, Patienten mit Fatigue durch Long COVID helfen kann. Die Behandlung konnte das primäre Ziel, eine Verbesserung der mitochondrialen Atmung, nicht im Placebo-Vergleich verbessern. Allerdings erreichte die Behandlung im Vergleich zur Kontrolle eine signifikante Verbesserung Fatigue-basierter Symptome bei Long-COVID-Patienten. Weitere Multizentren-Studien müssen diese Ergebnisse nun in einer größeren Patientengruppe mit Fatigue-dominantem Long COVID überprüfen.
www.deutschesgesundheitsportal.de

Vorsorge vor kommenden Krisen

Foto: AdobeStock/davooda
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Zu wenig Personal und unklare Kommunikationsstrukturen waren zwei wesentliche Probleme, mit denen der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) während der Coronapandemie zu kämpfen hatte, berichtet das „Ärzteblatt“. Das zeige eine Befragung der Gesundheitsämter in Deutschland, deren Ergebnisse jetzt im Epidemiologischen Bulletin des Robert Koch-Institutes (RKI) erschienen sind (Ausgabe 23/2023). Die Arbeitsgruppe befragte die Gesundheitsämter im Oktober 2022. Die Onlinestudie umfasste 29 Punkte zu den Bereichen „Krisenplanung vor der Pandemie“, „Aufbauorganisation“, „Ablauforganisation“, „Personal“, „Normalbetrieb“ „externe Krisenkommunikation“ und „Evaluierung“. „Die durchgeführte Studie kommt zu dem Schluss, dass eine umfassende Stärkung des ÖGD erforderlich ist, um besser auf die Bewältigung zukünftiger Krisensituationen vorbereitet zu sein“, ziehen die Forschungsgruppe von der Berlin School of Public Health und dem RKI ein Fazit.

Kommission für Pandemieforschung

Foto: AdobeStock/davooda
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Die Interdisziplinäre Kommission für Pandemieforschung wurde vor dem Hintergrund der Coronavirus-Pandemie im Juni 2020 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) eingerichtet. Sie ist mit 21 Mitgliedern aus allen Wissenschaftsgebieten besetzt. Vorsitzende der Kommission ist Professorin Dr. Katja Becker, Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Ziel ist es, einen Beitrag zur Pandemievorsorge und Pandemiebegleitung aus wissenschaftlicher Sicht zu leisten und den transund interdisziplinären Wissensspeicher rund um das Thema „Pandemien und Epidemien“ im Allgemeinen und SARS-CoV-2 im Speziellen zu vergrößern. Die Kommission begleitet DFG-geförderte Projekte zur Erforschung von Pandemien und Epidemien, sowohl bereits laufende Arbeiten als auch Forschungsvorhaben im Rahmen einer fächerübergreifenden Ausschreibung und der Fokus-Förderung COVID-19.