karriereführer consulting 2021.2022 – New Work im Consulting Purpose in der Post-Corona-Zeit

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New Work im Consulting – Purpose in der Post-Corona-Zeit

Die Branche steht an der Schwelle zur Post-Corona-Beratung – benötigt werden mehr Flexibilität und Ideenvielfalt: Je nach Branche ergeben sich andere Themenschwerpunkte, für alle Segmente nimmt Nachhaltigkeit an Bedeutung zu. Auch die Arbeit in den Beratungsunternehmen wandelt sich: Gefragt sind Konzepte, um Kundennähe mit New Work und Klimaschutz zu vereinbaren. Dieses Update des People’s Business verlangt nach neuen Ansätzen, für die junge Generation ergeben sich dank ihrer Digital-Expertise beste Chancen.

E-Paper karriereführer consulting 2021.2022 – New Work im Consulting Purpose in der Post-Corona-Zeit

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New Work, Nachhaltigkeit, Purpose – Consulting in der Post-Corona-Zeit

Die Branche steht an der Schwelle zur Post-Corona-Beratung – benötigt werden mehr Flexibilität und Ideenvielfalt: Je nach Branche ergeben sich andere Themenschwerpunkte, für alle Segmente nimmt Nachhaltigkeit an Bedeutung zu. Auch die Arbeit in den Beratungsunternehmen wandelt sich: Gefragt sind Konzepte, um Kundennähe mit New Work und Klimaschutz zu vereinbaren. Dieses Update des People’s Business verlangt nach neuen Ansätzen, für die junge Generation ergeben sich dank ihrer Digital-Expertise beste Chancen. Ein Essay von André Boße

Eine der Kernaufgaben der Consultants ist es, die Geschäfte ihrer Kunden krisensicher zu machen, die Unternehmen bei notwendigen Transformationen an die Hand zu nehmen. Corona hat dafür gesorgt, dass die Unternehmensberatungen nun selbst vor der Herausforderung stehen, sich einem einschneidenden Wandel zu stellen. Die Pandemie prägt nicht nur die Themen, mit denen sich die Consultants bei den Unternehmen beschäftigen. Auch stößt sie notwendige Veränderungen der Art und Weise an, wie die Unternehmensberatungen mit ihren Kunden zusammenarbeiten – und wie sie sich als Folge daraus selbst neu zu organisieren haben. Der Branchenverband BDU stellt mit seiner Studienreihe „Facts & Figures zum Beratermarkt“ einmal im Jahr die wichtigsten Zahlen und Entwicklungen zusammen.

Die aktuelle Ausgabe für das Jahr 2021 hat es in sich – und zwar nicht in erster Linie, weil die Branche 2020 zum ersten Mal seit zehn Jahren einen Umsatzrückgang zu beklagen hatte: In ihr gehen die Experten davon aus, dass schon im laufenden Jahr eine Trendumkehr gelingen wird. Deutlich nachhaltiger und prägender werde nach Aussage der Branchenstudie der Wandel sein, der durch die inhaltlichen Folgen der Pandemie angetrieben wird. Zwei Aspekte ragen dabei laut der Studie heraus: Erstens gehe es darum, Kunden dahingehend zu beraten, die Corona-Auswirkungen abzumildern oder sogar gestärkt aus der Pandemie hervorzugehen. Zweitens stehen die Consultants auch selbst vor der Aufgabe, sich einer neuen Dynamik zu stellen – insbesondere mit Blick auf New Work.

Post-Pandemie-Beratung: Restrukturierung, Human Ressources

Die Branchenexperten vom BDU gehen davon aus, dass das Jahr 2021 ab Sommer von „Unterstützungsbedarf bei Restrukturierung und Reorganisation“ geprägt sein wird, heißt es in der Pressemitteilung des Verbands zur Vorstellung der Studie. Spätestens nach Auslaufen der Hilfsprogramme der Bundesregierung für die Wirtschaft werde bei den Kunden der Beratungsbedarf deutlich steigen. Dass die Zeichen 2021 auf notwendigen Restrukturierungen stehen, davon geht auch die Unternehmensberatung Kearney aus: Für die Analyse haben die Consultants einen „Restructuring Score“ entwickelt, der anzeigt, wie groß der Restrukturierungsdruck für Unternehmen ist. Dieser bleibe für viele Akteure hoch, wird Nils Kuhlwein, Partner und Leiter Restrukturierung bei Kearney, in einer Pressemitteilung bei der Vorstellung des Score-Reports zitiert: „Gerade für jene Unternehmen wird 2021 zum Schicksalsjahr werden, die bereits vor Ausbruch der Pandemie in schwierigem Fahrwasser waren und nun unter dieser doppelten Last leiden.“

Gerade für jene Unternehmen wird 2021 zum Schicksalsjahr werden, die bereits vor Ausbruch der Pandemie in schwierigem Fahrwasser waren und nun unter dieser doppelten Last leiden. (Nils Kuhlwein, Kearney)

Während die Staatshilfen in einigen Bereichen die Pandemiefolgen abmildern konnten, stehen einige Branchen weiterhin vor großen Unsicherheiten: „Unsere aktuellen Analysen belegen erneut, dass wir im Reise- und Tourismusbereich vor fundamentalen Umwälzungen stehen, die sich 2021 massiv bemerkbar machen werden“, formuliert es Nils Kuhlwein in der Meldung. „Viele Unternehmen kämpfen schlicht damit, dass ihr Geschäftsmodell obsolet ist und auch nicht mehr in alter Form zurückkommen wird, selbst wenn die Pandemie überwunden sein wird.“ Gefragt sein wird vor diesem Hintergrund das Consulting im Bereich Sanierung: Hier erwartet der BDU ein Wachstumspotenzial in Höhe von 15 Prozent. „Auch in den Beratungsfeldern Reorganisation, Prozessoptimierung, IT-Anwendungen und Infrastruktur oder Changemanagement werden jeweils knapp zehnprozentige Umsatzsteigerungen prognostiziert“, stellt der BDU in der Pressemeldung in Aussicht.

Comeback des Wachstums

Nach Einschätzung der Unternehmensberater wird es laut Studie des Branchenverbands BDU nach dem Umsatzrückgang 2020 schnell eine Rückkehr zu hohen Wachstumsraten in der Beratung für wichtige Kundenbranchen geben. Waren die Umsätze 2020 um 3,2 Prozent gesunken, erwarten die für die Studie befragten Consultants für 2021 ein Plus von 9,0 Prozent. Die höchsten Wachstumsraten erwartet die Branche in den Segmenten Healthcare mit einem Plus von 12,5 Prozent, Chemie/Pharma mit einem Plus von 10,5 Prozent sowie dem Handel mit einem Plus von 10,5 Prozent. Auch im Projektgeschäft mit Kunden aus der Konsumgüterindustrie und dem Maschinenbau gehen die Consultants von zweistelligen Wachstumsraten aus.

Nachhaltigkeit wird Strategiethema

Interessant ist, dass selbst in der Pandemie ein Themenbereich zugelegt hat, der noch vor wenigen Jahren ein Nischendasein pflegte: „Weiterhin haben Firmen das Thema „Nachhaltiges Wirtschaften“ mit Unterstützung von Unternehmensberatern vorangetrieben“, formuliert es der BDU in der Mitteilung, der Umsatzgewinn im Sustainable-Segment wird für 2020 auf 9,5 Prozent beziffert. Dieses Plus ist bemerkenswert: Noch vor einigen Jahren hätte man denken können, dass es sich bei der Nachhaltigkeit eher um ein „Kann-Thema“ handelt, dem sich Unternehmen dann widmen, wenn sie es sich leisten können.

Doch diese Zeiten sind vorbei: Durch steigenden gesellschaftlichen Druck, stärkere Regulierungen der Politik, zum Beispiel seitens der EU mit Maßnahmen wie den Green Deal oder der EU-Taxonomie, und nicht zuletzt einer Finanzwirtschaft, die in großen Schritten Nachhaltigkeit zum „Dealmaker“ macht, hat sich Sustainability zu einem Kernthema wirtschaftlichen Erfolgs entwickelt. Immer mehr Unternehmen wird klar: Wer in Zukunft am Markt bestehen will, muss im Bereich der Nachhaltigkeit eine gute Performance zeigen. Consultants erfüllen die Aufgabe, ihre Kunden dabei zu unterstützen, den Status Quo zu analysieren, Maßnahmen zu erarbeiten, Parameter für die Wirksamkeit zu entwickeln – und nicht zuletzt Nachhaltigkeit in der Unternehmensstrategie zu verankern. Dieses weite Panorama der Nachhaltigkeitsberatung ist für den Nachwuchs besonders interessant: Es geht hier sowohl um sehr konkrete Umsetzungen als auch um die „Königsdisziplin“ der Strategieberatung.

New Work: Remote-Arbeit ist das neue Normal

Consulting ist das People’s Business schlechthin: Die Unternehmensberatungen überzeugen durch die Assets ihrer Mitarbeiter*innen. Neben dem Branchen-Know-how sind daher Skills wie Kommunikationsfähigkeit und Empathie zentral. Sie bilden die Basis für das Vertrauen, das die Consultants für die Beratung bei ihren Kunden entwickeln müssen. Wie jedoch ließ sich dieses aufbauen, als persönliche Begegnungen als Folge der Lockdowns nicht oder nur unter Beachtung strenger Hygienekonzepte möglich waren? „Corona hat die Art und Weise der Consultingarbeit im Blitztempo verändert“, stellt der Branchenverband BDU in der Pressemitteilung zur Branchenstudie fest. „Die Ergebnisse zeigen, dass Remote Arbeit bei den Consultants durchschnittlich um 62 Prozent zugenommen hat. Gleichzeitig wurden 64 Prozent weniger interne Präsenzmeetings durchgeführt. Der Anteil von Dienstreisen nahm um 66 Prozent ab.“

Flexibel beim Arbeitsort

90 Prozent der Büroangestellten in Deutschland wollen auch künftig mindestens einen Tag pro Woche remote – etwa von zuhause aus – arbeiten. Das ist ein Kernergebnis einer repräsentative Umfrage, für die Civey im Auftrag von EY Real Estate rund 1.000 Arbeitnehmer befragt hat. Rund die Hälfte der Büroarbeiterinnen und -arbeiter möchte demnach auch mehrmals wöchentlich von zuhause aus tätig werden und 14 Prozent sogar ständig. Dabei unterscheiden sich die Ergebnisse weder beim Geschlecht der Umfrageteilnehmer noch bei der Anzahl der im Haushalt lebenden Kinder. Auch das Alter der Befragten hatte lediglich marginalen Einfluss auf die Zustimmungsraten zur Remote-Tätigkeit. Allerdings nahm die Flexibilität mit zunehmendem Alter ab: Je älter die Studienteilnehmer, desto stärker fiel ihre Tendenz aus, entweder nur im Büro oder aber nur von zuhause ausarbeiten zu wollen. „Die örtliche Flexibilisierung des Arbeitens wird quer durch die Gesellschaft befürwortet. Weder handelt es sich, wie oft angenommen, um eine Modeerscheinung in jüngeren Bevölkerungsgruppen, noch um teils unterstellten Opportunismus“, sagt Anna Schümann, Partner bei EY Real Estate und Autorin der Studie. „Wir erleben gerade einen tiefgreifenden Wandel der Arbeitswelt, der nicht zuletzt dadurch begünstigt wird, dass die Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gleichgerichtet sind.“

Auffällig sei, dass es die großen Unternehmensberatungen sind, die hier besonders große Prozentwerte aufzeigen: Gerade bei den großen Akteuren hat sich die Arbeitsweise also in den vergangenen Monaten verändert. Aber ist dieser Wandel in Richtung New Work stabil – oder beginnt in der Post-Corona-Zeit wieder „business as usual“? Die Studie zeigt, dass wohl ersteres der Fall sein wird: „92 Prozent der Unternehmensberater gehen davon aus, dass die Remote Arbeit auch nach der Pandemie auf hohem Niveau bleiben wird.“ Diese Einschätzung steht im engen Zusammenhang mit dem Thema der Nachhaltigkeit: Eine Unternehmensberatung kann nicht auf der einen Seite beim Kunden für klimaschützende Maßnahmen werben und auf der anderen Seite den Eindruck erwecken, bei einem Thema wie Inlandsflügen keine Sensibilität zu besitzen.

Balance aus persönlichen und virtuellen Kontakten

Auch deshalb hat der Branchenverband BDU bei seinen Grundsätzen zum Thema „Green & CSR“ auf seiner Homepage folgenden Satz formuliert: „Die Mitgliedsunternehmen des BDU sind sich nicht nur ihrer unternehmerischen, sondern auch ihrer ökologischen und sozialen Verantwortung bewusst und stellen sich dieser.“ Im Fokus stehen dabei die CO2-Emissionen: „Denn Mobilität ist dem Projektgeschäft im Consulting inhärent, und Reisen zu Kunden und Projektpartnern werden auch perspektivisch nicht vermeidbar sein.“ Um bei diesem Thema konkreter zu werden, hat der BDU für 2021 eine „Benchmark-Erstellung hinsichtlich des CO2-Footprints im Consulting“ angekündigt. „Dazu sollen mobilitätsbezogene Werte für 2019 und 2020 herangezogen werden. Dadurch können auch die Effekte der Corona Pandemie herausgestellt werden“, heißt es in den Verbands-Grundsätzen zum Thema Nachhaltigkeit.

Gesucht wird also eine Balance aus direkten Kundenkontakten vor Ort und digitalen Formen der Kommunikation – wobei der Nachwuchs hier seine Stärken ausspielen kann: Digital Natives denken beide Interaktionsformen ganz natürlich zusammen, die Brüche zwischen echten und virtuellen Begegnungen werden weniger stark wahrgenommen. Die jüngere Consulting-Generation steht damit vor der Chance, in den Beratungsunternehmen eine neue Form der Kunden-Kontakt-Kultur mitzuprägen, wobei es sich dabei nicht um ein kleines Nebenprojekt handelt: Je stärker die Nachhaltigkeit im Zentrum der Beratung steht desto mehr kommt es darauf an, mit gutem Beispiel voranzugehen. Eine Beratung, der es gelingt, Kundenähe und Empathie auch über virtuelle Kanäle aufzubauen, wird für die Unternehmen automatisch zum Best Practice-Beispiel für das Finden neuer Wege, nahe am Kunden zu sein, ohne dabei einen zu großen CO2-Fußabdruck zu hinterlassen.

Jetzt am Zug: die Generation Z

Auf diese Weise kann die technikaffine Generation Z in den Beratungsunternehmen von den Entwicklungen in der Arbeitswelt infolge der Corona-Krise profitieren. Dies untermauert eine Studie der Wissenschaftler von Oxford Economics in Zusammenarbeit mit dem Technologie- und Social- Media-Unternehmen Snap: Die Untersuchung analysiert, wie sich die Zunahme von digitaler Kommunikation, Remote- Arbeit, E-Commerce und anderen Online-Diensten auf den Arbeitsmarkt auswirkt. Die Prognose der Studie: Bis 2030 werden „drei Viertel der Arbeitsplätze fortgeschrittene digitale Fähigkeiten erfordern“. Als erste Generation, die wirklich mit Technologie aufgewachsen ist, werde die Generation Z „mehr als jede andere Generation in der Lage sein, von diesem wachsenden Bedarf an digitalen Fähigkeiten zu profitieren“, heißt es in der Zusammenfassung der Studie im Rahmen einer Pressemeldung. Drei Eigenschaften der Generation Z seien dabei für den zukünftigen Arbeitsplatz besonders von Vorteil: „Agilität, Kreativität und Neugierde.“ Für das People’s Business der Consultingbranche sind diese drei Skills erst recht von zentraler Bedeutung: Beratungsnachwuchs, der diese Eigenschaften verinnerlicht, steht vor einer guten Zukunft. Trotz – oder gerade wegen der unsicheren Zeiten.

Digitale Mobilität

Die geografischen Grenzen der Arbeitsmärkte waren zuletzt immer durchlässiger geworden, vor allem für Fachkräfte. Die Corona-Krise hat diese Entwicklung laut der von der Managementberatung Boston Consulting Group (BCG), der Online-Jobplattform StepStone und The Networkstark erstellten Studie „Decoding Global“ Talent gebremst. 57 Prozent der Befragten zeigten sich jedoch offen dafür, aus der Ferne für einen Arbeitgeber aus dem Ausland zu arbeiten – das sind sieben Prozentpunkte mehr als bereit sind, umzuziehen. Diese Bereitwilligkeit liegt unter den Befragten aus Deutschland deutlich niedriger – bei 47 Prozent. „Der demografische Wandel steht gerade erst vor der Tür. Während Corona den weltweiten War for Talents massiv verschärft, ist die Pandemie gleichzeitig auch ein Beschleuniger für digitale Mobilität“, sagt StepStone-CEO Dettmers. „Unternehmen bietet sich heute mehr denn je der Zugriff auf die weltweite Workforce.“.

Personalberatung mit Problemen in der Krise

Gab es in den vergangenen Monaten einen Problemfall im Consulting, dann war das die Personalberatung. In Zeiten von Lockdowns und Kontaktbeschränkungen fehlte der Human Ressources-Beratung das wohl wichtigste Tool: Die persönliche Begegnung im Vier-Augen-Gespräch. Entsprechend stellt der BDU-Report „Facts & Figures zum Beratermarkt“ fest, dass dieses Segment für das Jahr 2020 einen Umsatzrückgang von 12,5 Prozent zu beklagen hatte. Es ist jedoch davon auszugehen, dass der Bereich schon bald wieder aufholen wird: Viele Unternehmen haben Personalfragen vertagt, zudem kommen auf die Kunden neue Herausforderungen zu – wobei neue Themen auch nach neuem Personal verlangen.

Der Nachhaltigkeitsberater Hubertus Drinkuth im Interview

Seit mehr als 20 Jahren ist Systain als Nachhaltigkeitsberatung am Markt erfolgreich, das Unternehmen zählt damit zu den Pionieren in diesem Bereich. 2010 kam Hubertus Drinkuth als Managing Director hinzu. Im Interview berichtet er, wie sich die Nachhaltigkeitsberatung im Laufe der Jahre gewandelt hat, warum sie heute ein kernstrategisches Thema ist und auf welche Skills es in diesem Bereich ankommt. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Hubertus Drinkuth ist Diplom-Kaufmann und begann seine Beraterkarriere 1996 bei Roland Berger in München. Nach Auslandsstationen in Japan und China wechselte er 2006 nach Hamburg in die Otto Group, wo er als Divisional Vice President für die Konzernstrategie verantwortlich war. Nach einem Zwischenjahr in einer konzernnahen Stiftung wurde Hubertus Drinkuth 2010 Managing Director der Nachhaltigkeitsberatung Systain Consulting, einer Tochter der Otto Group. Thematisch ist er dort in den Schwerpunkten umfassende Nachhaltigkeitsstrategien und Wesentlichkeitsanalyse (Materialitätsanalyse) tätig.

Herr Drinkuth, das Beratungsunternehmen Systain existiert seit mehr als 20 Jahren, seit fast elf Jahren sind Sie dort als Managing Director tätig. Wie hat sich die Nachhaltigkeitsberatung im Laufe der Zeit gewandelt?
Als ich 2010 zu Systain kam, hatte ich, so ehrlich muss ich sein, von Nachhaltigkeitsberatung keine Ahnung. Null. Ich hatte bei Roland Berger gearbeitet, war für den Otto-Konzern, zu dem Systain gehört, für die Group Strategy verantwortlich und war danach ein Jahr lang in einer konzernnahen Stiftung tätig gewesen. Als 2010 die Geschäftsführung von Systain vakant war, dachte man sich wohl, ich sei als Unternehmensberater mit Stiftungserfahrung perfekt für diese Position geeignet.

Dabei war das für Sie ein Sprung ins kalte Wasser.
Schon, ja, wobei ich bei meiner Tätigkeit für die Stiftung schon gemerkt hatte, dass es Bereiche gibt, in denen Leute Ansichten und Argumente haben, die sich mit meinen neoklassischen Consultant-Argumenten nicht aushebeln ließen.

Die Welt besteht nicht nur aus Zahlen.
So ungefähr, ja. Und auf solche Menschen bin ich dann auch bei Systain getroffen: Gearbeitet haben dort, kurz gesagt, begabte Menschen mit einem echten Faible für Nachhaltigkeit. Was mir damals recht schnell klar wurde: Wir müssen die beiden Sichtweisen verheiraten, also die Unternehmens- mit der Nachhaltigkeitsperspektive verbinden, um Unternehmen langfristig erfolgreich zu machen.

War dieser Ansatz neu?
Ja. Viele Unternehmen haben damals noch gar nicht verstanden, was die Nachhaltigkeitsleute von ihnen wollen. Oft war es so, dass die Unternehmen Anrufe von Nachhaltigkeitsaktivist* innen bekannter Nichtregierungsorganisationen bekamen, die ihnen sagten: „Ihr müsst etwas beim Thema Wasser oder CO2-Emissionen machen!“ Daraufhin haben die Unternehmen hektisch Maßnahmen eingeläutet und diese dann in ihren Nachhaltigkeitsberichten verkauft. Wobei diese wiederum, weil Nichtregierungsorganisationen in der Regel gleich mehrere Unternehmen angerufen hatten, sehr gleichförmig aussahen.

Nachhaltigkeit auf Zuruf?
Genau. Eine Strategie gab es nicht. Kaum ein Unternehmen wusste, warum man sich eigentlich diesen Nachhaltigkeitsthemen widmen sollte. Nach einer kurzen Phase der Ernüchterung darüber, dass noch kaum ein Unternehmen über eine wirkliche Nachhaltigkeitsstrategie verfügt, fühlten wir uns motiviert, Systain neu aufzubauen.

Es musste zunächst darum gehen, eine Faktenbasis zu schaffen, als Grundlage für unternehmerische Entscheidungen. Und was braucht man dafür? Keine Geschichten, sondern Zahlen.

Mit welchem Ziel?
Es musste zunächst darum gehen, eine Faktenbasis zu schaffen, als Grundlage für unternehmerische Entscheidungen. Und was braucht man dafür? Keine Geschichten, sondern Zahlen. Und zwar welche mit Euro-Zeichen am Ende. Also haben wir unser Input-Output-Modell entwickelt, das in der Lage ist, auf Basis volkswirtschaftlicher Modelle die gesamte Wertschöpfungskette eines Unternehmens zu simulieren. Und diese Simulation haben wir mit Environmental Extensions erweitert – also Daten, die benennen, wie hoch zum Beispiel die CO2-Emissionen sind, die entstehen, wenn ich als Unternehmen für einen Euro Stahl aus China beziehe und nicht aus dem Ruhrgebiet. Bewertet man diese Emissionen dann mit ihren externen Kosten, habe ich am Ende eine Zahl, die jeder CEO versteht: Die Schadkosten an der Umwelt in Euro, die sein Geschäftsmodell verursacht, für die das Unternehmen aber nicht bezahlt.

Consultants sind gut darin, Chancen und Potenziale zu benennen. Wenn es bei der Nachhaltigkeitsberatung weiterhin darum geht, Schäden zu beziffern: Wie gelingt es Ihnen, einen positiven Spin zu generieren?
Indem wir Nachhaltigkeitsthemen auch dahingehend analysieren, ob in ihnen Unternehmenswert steckt, ob man mit ihnen positiv auf die Entwicklung des Unternehmens einzahlen kann. Mit Beginn dieser Diskussion erhält das Thema Nachhaltigkeit auf einem Schlag kernstrategische Relevanz, weil das Management merkt: Hier stellen mir keine Nachhaltigkeitsfreaks unangenehme Fragen, hier erfahre ich als derjenige, der z. B. die Logistik leitet, welche Risiken ich verringere, sobald ich eine bestimmte Entscheidung treffe. Das Management erkennt in diesem Moment eine unternehmerische Chance, und oft ist es so, dass die Verantwortlichen erst beim zweiten Nachdenken merken: „Ah, das ist ja darüber hinaus auch noch nachhaltig, wie praktisch!“ In genau diesem Moment entsteht der positive Spin: Wir müssen nachhaltiger werden, ja – aber wenn wir das Thema angehen, dann nutzen wir doch bitte diejenigen Aspekte, mit deren Hilfe wir etwas Positives für das Unternehmen und die Gesellschaft und/oder Natur herausziehen können.

Sie sprachen vom Unternehmenswert, ist dieses beim Thema Nachhaltigkeitsberatung rein ökonomisch zu betrachten?
Hier verlassen wir uns mit unserem Consulting tatsächlich auf die Welt der großen Hardcore-Strategieberatungen. Bei diesen geht’s häufig um das nackte Ergebnis, die „Bottom-Line“. Im Nachhaltigkeitsbereich lässt sich eine solche Zahl eigentlich nur im Bereich der Effizienz generieren. Wobei bei einem Thema wie Energieeinsparung heute oft die letzten Stellschrauben bereits gedreht sind. Womit wir uns beschäftigen, sind erweiterte Bereiche, um Unternehmenswerte zu schaffen. Einer ist zum Beispiel der Markenwert, den wir aus drei Perspektiven betrachten: erstens aus Richtung des Kapitalmarkts. Dieser koppelt den einfachen Zugang zu Geld immer stärker an Nachhaltigkeit, die EU-Taxonomie wird diesen Trend noch verstärken.

Immer mehr junge Menschen achten bei der Wahl ihres Arbeitgebers darauf, ob ihnen dieser Job Purpose verspricht. Unternehmen, die ihre Nachhaltigkeitsaufgaben nicht gemacht haben, bekommen daher keine Talente mehr, was weder an Gehältern noch an der Attraktivität des Stammsitzes liegt.

Der zweite Wert ergibt sich mit Blick auf den Human Ressources-Markt: Immer mehr junge Menschen achten bei der Wahl ihres Arbeitgebers darauf, ob ihnen dieser Job Purpose verspricht. Unternehmen, die ihre Nachhaltigkeitsaufgaben nicht gemacht haben, bekommen daher keine Talente mehr, trotz guter Gehälter und einer hohen Attraktivität des Arbeitsortes. Ein dritter Wert ist die Resilienz, die durch die Pandemie enorm an Bedeutung gewonnen hat. Viele Unternehmen haben erkannt, dass ihr Geschäftsmodell lange nicht so gut gegen externe Schocks gewappnet ist, wie sie gedacht haben: „Da kommt so ein kleiner Virus – und schon liegt mein Geschäft am Boden.“ Die Manager erkennen daraufhin zum Beispiel, dass es nicht klug ist, ausschließlich auf preisgünstige Lieferanten aus Fernost zu setzen. Lange hat man sich diese Frage nur selten gestellt. Jetzt merkt man: Es ist sinnvoll, das zu balancieren. Aus ökonomischen Gründen. Aber eben auch mit Blick auf die Nachhaltigkeit. Stichworte: CO2-Emissionen oder auch eine mögliche Menschenrechtsproblematik.

Welche Beraterskills sind notwendig, um in diesen ja doch sehr komplexen Feldern tätig zu sein?
Ich glaube, die in diesem Bereich notwendigen Skills unterscheiden sich gar nicht so sehr von denen, die Berater*innen generell mitbringen sollten. Wir benötigen analytische Skills und müssen gut mit Menschen umgehen können. Verbindet man beides, entsteht das Vertrauen, das wir für unsere Arbeit benötigen. Und wichtig für unseren Beruf ist Erfahrung, die man sich im Laufe vieler Projekte aneignet, ein Gespür für Probleme, Herausforderungen, für Hotspots, also von Ecken, in denen das Nachhaltigkeitsproblem besonders deutlich wird. Das kann man nicht im Lehrbuch lernen, das bringt einfach die Erfahrung mit sich. Wichtig ist auch, sich in der Nachhaltigkeitsberatung der eigenen Grenzen bewusst zu sein. Wir verstehen uns zum Beispiel nicht als Prozessoptimierer von Fabrikabläufen, denn wir sind keine Ingenieure. Arbeiten wir mit Kunden zusammen, die denken, wir könnten für sie auch ihre Maschinen richtig einstellen, damit das Nachhaltigkeitsziel erreicht wird, dann sagen wir in bestimmten Fällen: Da müssen wir passen. Diese Offenheit ist wichtig. Schließlich wissen wir, was wir können – und was eben nicht.

Zum Unternehmen

In den ersten Jahren ab 1999 war das Beratungsunternehmen Systain mit Sitz in Hamburg dafür verantwortlich, für den Mutterkonzern Otto Group Beratungsexpertise in den Nachhaltigkeitsfeldern aufzubauen. Von 2003 bis 2009 entwickelt Systain hauptsächlich für Kunden aus der Textilindustrie Lösungsansätze für nachhaltige Lieferketten. Seit 2010 orientiert sich Systain hin zum faktenbasierten Nachhaltigkeitsmanagement und begleitet Kunden aus den verschiedensten Branchen, vor allem Industriekunden. Das Beratungsunternehmen entwickelt neue Methoden und Modelle, um Nachhaltigkeit als strategisch relevantes Thema in den Unternehmensstrategien von Kunden zu verankern. Dank der intensiven Entwicklungsarbeit erhielt Systain 2013 den Hamburger Consulting Preis, war 2014 beim Gewinn des CSR-Preises der Bundesregierung der Otto Group maßgeblich beteiligt und wurde 2016 mit dem More-than-a-Market-Award in China ausgezeichnet.
www.systain.com

Die Wirtschaftsprüfung wird zunehmend digitaler

Künstliche Intelligenz (KI), Audit Bots und Algorithmen: Laut einer Studie planen die Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaften massive Investitionen für die Umsetzung ihrer Digitalstrategien. Eine gesteigerte Effizienz ist ein Ziel dieser Maßnahmen, ein zweites betrifft direkt die Arbeit der Prüfer*innen. Von Christoph Berger

Die Budgets der Wirtschaftsprüfungsgesellschaften für ihre digitale Transformation steigen von Jahr zu Jahr. Derzeit, so das Ergebnis der zusammen von Lünendonk und RSM erstellten Sonderpublikation „Digitalisierung in der Wirtschaftsprüfung“, planen die Unternehmen, durchschnittlich 3,7 Prozent ihres Umsatzes in diesen Bereich zu stecken. Im Hinblick auf deren Strategie bedeutet dieses Mehr, dass es vor allem um die Optimierung von digitalen Prozessen, den Ausbau der IT-Infrastruktur, Business Analytics und Business Intelligence (BI) sowie den Einsatz von Prüfungssoftware geht. Dass dies zu nachhaltigen Veränderungen in der Arbeitsweise der Wirtschaftsprüfer führen wird, steht außer Frage. So erwarten immerhin 25 der führenden WP-Gesellschaften aus der aktuellen Lünendonk-Studie 2020, dass bereits im Jahr 2026 mehr Prüfungsleistungen mittels Maschinen erbracht werden als durch Menschen.

Legt man im Vergleich dazu den Fokus auf die zu prüfenden Unternehmen, so ist auch dort ein ähnlicher Trend festzustellen – PwC befragte hierzu für die Studie „Digitalisierung im Finanz- und Rechnungswesen 2020“ im letzten Jahr mehr als 100 mittelständische und Großunternehmen unterschiedlicher Branchen. Demnach werden für immer mehr und immer komplexere Aufgaben im Accounting moderne Technologien eingesetzt. Stichworte sind hier KI und Robotic Process Automation, abgekürzt RPA. Bei RPA bearbeiten Software-Roboter strukturierte Prozesse automatisiert. Es geht dabei also vor allem um das Abarbeiten von immer wiederkehrenden Standardaufgaben.

Die Studie beleuchtete auch die Erfahrungen der befragten Entscheider mit und ihre Erwartungen an eine zunehmend digitale Abschlussprüfung. So glauben zehn Prozent (2019: fünf Prozent) von ihnen, dass sie dadurch „in erheblichem Umfang“ bis dato unbekannte Informationen über ihr Unternehmen erhalten. Und mehr als die Hälfte der Befragten (56 Prozent) erwartet einen Automatisierungsgrad von 40 Prozent und mehr in den nächsten fünf Jahren.

Ein derartiges Ergebnis ordnet PwC als Appell ein, die Automatisierung der Abschlussprüfung auch zu ermöglichen. Doch genau dabei gibt es laut der Lünendonk-Untersuchung noch einige Hürden zu überwinden. Denn: Nicht nur die Menge an gesammelten Daten spielt bei der Digitalisierung der Abschlussprüfung eine zentrale Rolle, sondern auch deren Qualität. Und bei der scheint es auf Seite der Mandanten noch Nachholbedarf zu geben. So hätten Studienteilnehmer die mangelnde Datenqualität auf Mandantenseite als größtes Hindernis für die digitale Transformation in der Prüfung identifiziert: 91 Prozent bewerteten diese Aussage mit „zutreffend“ beziehungsweise „auf jeden Fall zutreffend“. Auf den Plätzen zwei und drei folgen die „schwere Umsetzung von Erfahrungswissen in automatisierte Prozesse“ und die „Zurückhaltung oder Unkenntnis auf Mandantenseite“.

„Die Wirtschaftsprüfung braucht künftig Experten, die einerseits neben einer ausgewiesenen IT-Expertise auch statistische Fähigkeiten haben und andererseits in der Verbindung zwischen Wirtschaftsprüfung und Informationstechnologie ihre Berufung sehen.“

Trotz dieser noch zu bewältigenden Herausforderungen setzen die Prüfer und Berater laut Lünendonk und RSM „verstärkt auf Big Data Analytics, Process Mining und Künstliche Intelligenz“. 83 Prozent der Studienteilnehmer würden sich mit diesen Themen im Hinblick auf eine digitalisierte Abschlussprüfung beschäftigen, heißt es. Die Vorteile des Technologieeinsatzes klar vor Augen: die Vermeidung von Fehlern in der Abschlussprüfung und die Möglichkeit, die Konzentration auf komplexere Aufgaben zu legen. Was genau diese komplexeren Aufgaben sein könnten und wie sich überhaupt das Berufsbild der Prüfer*innen durch die Digitalisierung verändern könnte, auch diesen Fragen gingen die Studienautoren von Lünendonk und RSM nach. Eine Erkenntnis: „Verantwortliche im HR-Bereich müssen nicht nur zukünftig, sondern bereits heute Mitarbeiter finden, die Kenntnisse sowohl in der Rechnungslegung als auch in der Informatik mitbringen.“ So hätten immer mehr Mitarbeiter in den WP-Gesellschaften einen Studienabschluss einer technischen Hochschule. Außerdem würden die Kooperationen mit Start-ups und IT-Unternehmen zunehmen.

In der von der Wirtschaftsprüfungskammer herausgegebenen Broschüre „Wirtschaftsprüfer“ wird außerdem erläutert, dass sich neben dem klassischen Karrierepfad im Accounting und Audit aufgrund der vielfältigen Herausforderungen ein Spezialisten-Karrierepfad etablieren wird: IT-Spezialist, IFRS-Spezialist. Diese Kenntnisse seien „für ein klares Verständnis der zu analysierenden Daten und vor allem der dahinterliegenden selbstständigen Prozesse unabdingbar, um Daten effektiv und verlässlich analysieren zu können. Die Wirtschaftsprüfung braucht daher künftig Experten, die einerseits neben einer ausgewiesenen IT-Expertise auch statistische Fähigkeiten haben und andererseits in der Verbindung zwischen Wirtschaftsprüfung und Informationstechnologie ihre Berufung sehen.“

Aufgrund der vermehrten Entbindung von einfachen und sich wiederholenden Tätigkeit durch den Technikeinsatz, würden laut Lünendonk und RSM zudem Kapazitäten für Bewertung und Beratung sowie für Sach- und Sonderthemen frei. All dies führe im Ergebnis zu einer ansteigenden Attraktivität des Berufsbildes. In eine ähnliche Kerbe schlug bereits 2019 Gerhard Ziegler, Präsident der Wirtschaftsprüferkammer. Im Rahmen der damaligen Versammlung der Wirtschaftsprüferkammer sagte er: „Unsere Chance wird sein, die Künstliche Intelligenz zu unserem unterstützenden Partner zu machen. Unser Berufsstand wird weiterhin gefordert sein, die uns gelieferten Analyseergebnisse im wirtschaftlichen und rechtlichen Umfeld des Mandanten einzuordnen.“ Und auch in diesem Jahr wird der Leitgedanke der im November stattfindenden bundesweiten Kammerversammlung das Thema „Wirtschaftsprüfung und Digitale Zukunft“ sein. Und so kommen schließlich auch die Autoren von Lünendonk und RSM zu ihrem klaren Fazit: „Die Arbeit der klassischen Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungs-Gesellschaften wird durch die Digitalisierung in der Zukunft auch nicht überflüssig, sondern abwechslungsreicher.“

Buchtipps

Cover LaueRalf Laue, Agnes Koschmider, Dirk Fahland: Prozessmanagement und Process-Mining. De Gruyter Studium 2020, 39,95 Euro

IDW (Hrsg.): Data Analytics in der Wirtschaftsprüfung. IDW Verlag 2021, 49 Euro.

Nachhaltigkeit wird zu einem Muss

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Das Thema Nachhaltigkeit hat längst das Nischendasein verlassen und wird von Gesetzen reguliert. Doch nicht nur das. Auch Investoren wollen über Nachhaltigkeitsrisiken informiert werden. Und nicht zuletzt: Nachhaltigkeit rechnet sich. Von Christoph Berger

Im März 2020 formulierte Yngve Slyngstad, bis Herbst letzten Jahres CEO des norwegischen Staatsfonds, des Government Pension Fund Global (GPFG), eine Forderung, die die zukünftige Richtung vorgibt – der norwegische Staatsfonds ist der weltweit größte Fonds: „In den letzten Jahren haben wir die Unternehmen aufgefordert, in ihrer Nachhaltigkeitsberichterstattung von Worten zu Zahlen überzugehen. Wir wünschen uns eine relevantere und vergleichbarere Berichterstattung von Unternehmen, damit wir als Investor die Exposition der Unternehmen gegenüber Nachhaltigkeitsrisiken analysieren können.“ Wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtete, sollten die Unternehmen beispielsweise bei den Umweltthemen wie Klima und Wasser die Plattform des Carbon Disclosure Project verwenden, einer Non- Profit-Organisation mit Sitz in London. Der GPFG ist hinsichtlich seiner Anforderungen längst kein Einzelfall mehr. „Weltweit berichten immer mehr Unternehmen über Nachhaltigkeitsthemen, und sie tun dies auch ausführlicher. Treiber sind oft regulatorische Anforderungen, aber auch die zunehmenden Anforderungen von Kapitalgebern – Nachhaltigkeit wird immer wichtiger für die Equity Story“, sagt Christian Hell, Leiter des Bereichs Sustainability Services bei KPMG in Deutschland. Die Berichterstattung stelle daher auch immer häufiger einen Bezug zu potenziellen Geschäftsrisiken her, ausgelöst durch den Klimawandel. Hier würden die Unternehmen zunehmend finanzielle Risiken sehen – während man sich vor einigen Jahren noch Gedanken um damit verbundene Reputationsrisiken gemacht habe. Hell erklärt weiter: „Wir gehen davon aus, dass auch andere Nachhaltigkeitsthemen wie Menschenrechte, Diversity oder angemessene Entlohnung schon bald auch in ihren finanziellen Dimensionen erkannt werden.“

Dass Klimaschutz zudem nicht nur ein politisch gewolltes und gesellschaftlich verlangtes Ziel ist, sondern sich auch wirtschaftlich rechnet, zeigen Ergebnisse der Studie „Net-Zero Europe“ von McKinsey. So sei das von der Europäischen Union erklärte Ziel der Klimaneu tralität bis 2050 ohne gesamtwirtschaftliche Mehrkosten zu erreichen. Zwar müssten jährlich zusätzliche 180 Milliarden Euro investiert werden, die jedoch durch Einsparungen an anderer Stelle kompensiert würden. Der grüne Umbau der europäischen Wirtschaft könnte unterm Strich fünf Millionen zusätzliche Arbeitsplätze schaffen: Während zwar sechs Millionen Jobs verloren gingen, entstünden in Zukunftsbranchen elf Millionen neue Arbeitsplätze. Die Hälfte der insgesamt nötigen Emissions-Einsparungen können mit bereits ausgereiften Technologien erreicht werden.

Da wundert es nicht, welch entscheidende Rolle das Thema in den Unternehmen spielt. Am Beispiel der Technologieunternehmen zeigt zum Beispiel der Technology Sustainability Survey von Deloitte, dass das Thema Nachhaltigkeit für 86 Prozent der befragten Führungskräfte ein wesentlicher Bestandteil ihrer Geschäftstätigkeit ist – vor allem bei Unternehmen mit mehr als 1000 Mitarbeiter*innen. Und auch hier werden zahlreiche Vorteile identifiziert: die Senkung von Betriebskosten, die Eroberung neuer Märkte sowie die Nachfrage ihrer Kunden. Auch die Motivation der eigenen Mitarbeiter spielt für immerhin ein Drittel der Befragten noch eine Rolle. Das Mindern von Klimarisiken (21 %) und intrinsisches Engagement (6 %) stehen jedoch noch hinten auf der Liste der Beweggründe.

Vielfalt begünstigt Erfolg

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Diversity wird von immer mehr Unternehmen in die Unternehmenskultur integriert. Das hat viele Gründe: unter anderem mehr Mitarbeiterzufriedenheit und eine höhrere Innovationskraft. Und auch der Unternehmenserfolg hängt mit der Vielfalt zusammen. Von Christoph Berger

Es sind die konkreten Umsetzungen, die in den Belegschaften ankommen und mit denen Unternehmen bei den Themen Vielfalt und Inklusion punkten. Trainings für Angestellte zur Förderung eines integrativen Handelns, den Aufbau einer vielfältigen Belegschaft und die Einstellung von Führungskräften mit diversem Hintergrund werden dabei laut dem aktuellen Randstad Arbeitsbarometer besonders wohlwollend bewertet. Carlotta Köster-Brons, Leiterin des Hauptstadtbüros bei Randstad Deutschland, sagt: „Für Arbeitnehmende zählen handfeste Veränderungen, die zeigen, dass es ihre Arbeitgeber ernst meinen. Abstrakte Maßnahmen wie Spenden oder Aufrufe dazu erachten Mitarbeitende als weniger wichtig für Inklusion und Vielfalt.“

Und die Maßnahmen wirken sich äußerst positiv auf die Unternehmenskultur aus. So berichten die von der PageGroup für die Diversity Management Studie 2021 Befragten von einer spannenderen Arbeitsatmosphäre (53%), einer gesteigerten Mitarbeiterzufriedenheit (47%) und einer höheren Innovationskraft (27%), die in vielfältigen Teams wahrzunehmen sind. „Diverse Teams profitieren von den verschiedenen Charakterzügen, interkulturellen Kompetenzen und Erfahrungen einzelner Teammitglieder. Deshalb gilt es, sie zu fördern“, beschreibt Goran Bariç, Geschäftsführer der PageGroup Deutschland, die Ergebnisse. Hinzu kommen die Wirkung nach außen. 66 Prozent der Studienteilnehmer*innen hätten angegeben, dass Diversity Management- Initiativen die Wahrnehmung der Arbeitgebermarke bei Bewerber*innen steigern und sich das Unternehmensimage verbessert.

„Je diverser, desto erfolgreicher.“ Dies ist auch das Ergebnis der Studie „Diversity Wins – How Inclusion Matters“, für die McKinsey Daten von mehr als 1000 Unternehmen in 15 Ländern analysiert hat. Diese deckten aber auch noch eine andere Tatsache auf: Zwei Drittel der seit 2014 analysierten Unternehmen hätten in den vergangenen fünf Jahren keinen Fortschritt gemacht, etwa 30 Prozent hätten vorherige Erfolge nicht weiter ausgebaut und ein weiteres Drittel habe sich sogar verschlechtert. Nur 33 Prozent der untersuchten Unternehmen hätten sich verbessert, gerade mal fünf Prozent deutlich. Diese Nachzügler würden laut McKinsey nun einen hohen Preis zahlen: Das Viertel der Unternehmen mit der niedrigsten Diversität nach Geschlecht und ethnischem Hintergrund hat eine um 25 Prozent niedrigere Wahrscheinlichkeit, überdurchschnittlich zu performen. Denn, so McKinsey-Partnerin und Diversity-Expertin Julia Sperling: „Um in der heutigen Arbeitswelt zu bestehen und die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen, sind andere Führungsstärken gefragt. Homogene Führungsteams haben es schwer, passende Antworten auf diese Veränderungen zu finden.“

Dass bei den Beratungsunternehmen selbst – auch wenn sie in Bezug auf die vertretenen Disziplinen sicher schon breit aufgestellt sind und Interdisziplinarität seit Jahren aufbauen – in Sachen Diversität und Inklusion noch einiges an Arbeit vor sich haben, davon zeugt der erst Anfang 2020 im BDU ins Leben gerufene Arbeitskreis Diversity im Consulting.

Unternehmen und Diversity

Ein Gespräch mit Aletta Gräfin von Hardenberg (Geschäftsführerin der Charta der Vielfalt) und zwei Vertreterinnen des BDU-Arbeitskreises Diversity:

Scanner-Blick Kultur-, Buch- und Linktipps

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Kultur-, Buch- und Linktipps

It´s now

Cover Janina Kugel It´s nowDie ehemalige Siemens-Personalvorständin Janina Kugel, eine der einflussreichsten Frauen in der deutschen Wirtschaft und prominente Mitinitiatorin der Initiative #ichwill, beschreibt in ihrem ersten Buch, wie wir unsere (Arbeits)Welt von morgen aktiv gestalten und neu denken können. Die technologischen Disruptionen, die gesellschaftlichen Umbrüche in der Welt und nicht zuletzt die Corona-Krise wirken hierbei wie ein Katalysator, der uns buchstäblich vor Augen führt, mit welcher Rasanz und Dynamik diese Veränderungen unser Leben auf den Kopf stellen. In dem Buch berichtet sie außerdem erstmals von ihren persönlichen Erfahrungen und liefert konkrete Vorschläge und Denkanstöße – ein Plädoyer, neue Wege zu gehen: mit Optimismus, Mut und Leidenschaft. Janina Kugel: It’s now. Ariston 2021, 22 Euro..

Die erste Linienflugkapitänin der Welt

Cover FreiflugDeutschland in den Siebzigerjahren. Katharina Berner stammt aus einer gut situierten Unternehmerfamilie, geht aber seit jeher ihren eigenen Weg. Dass sie Jura studieren wollte, statt eine Familie zu gründen, haben weder ihr Vater, der alte Patriarch, noch ihre Mutter oder Schwestern je verstanden. Doch sie hat sich durchgesetzt und arbeitet in einer großen Kanzlei in Köln – glücklich ist sie allerdings nicht. Die männlichen Kollegen machen ihr den Alltag zur Hölle, am liebsten würde sie sich selbstständig machen. Nur wie, wenn nicht einmal jemand Büroräume an sie vermieten will? Da bittet eine junge Frau Katharina um Hilfe: Rita Maiburg besitzt eine Pilotenlizenz, versucht jedoch vergeblich, eine Anstellung zu bekommen. Die Lufthansa hat ihre Bewerbung mit der Begründung abgelehnt, dass sie grundsätzlich keine Frauen als Piloten einstellt. Diese Ungerechtigkeit will Rita sich nicht gefallen lassen. Katharina nimmt den Fall an, und die beiden beschließen zu klagen – gegen die Lufthansa und die BRD. Einen Verbündeten findet Katharina in ihrem Vermieter Theo, der sie nach Kräften unterstützt. Doch wird es den beiden Frauen gelingen, Ritas Traum vom Fliegen endlich Wirklichkeit werden zu lassen? Christine Drews: Freiflug. Dumont 2021, 20 Euro.

Move

Cover MoveIn diesem Buch eröffnet Parag Khanna, indisch-amerikanischer Politikwissenschaftler und in Singapur lebender Vordenker, einen anderen, neuen Blick auf die Welt. Er bringt Geschichte, Politik und die natürlichen Lebensbedingungen des Menschen, die sich gerade rasant verändern, zusammen und leitet daraus Voraussagen für die Zukunft ab. Seine Grundthese: Die Menschheit wird sich in den nächsten Jahrzehnten neu auf der Erde verteilen (müssen). Gebiete, die bislang von der Natur bevorzugt wurden, drohen unbewohnbar zu werden; alte Industrieregionen, die Millionen von Menschen angezogen haben, werden veröden, neue Zentren entstehen. All dies wird nicht auf ein Land beschränkt sein, sondern zum weltweiten Phänomen. Die Gründe, die Khanna für riesige Migrationsströme über die Kontinente hinwegsieht, sind vielfältig: von demographischen Schieflagen und unterschiedlichen Modernisierungsgeschwindigkeiten über Klimaveränderungen bis zu sich neu verteilenden Arbeitsmöglichkeiten. Parag Khanna: Move. Rowohlt 2021, 24 Euro.

Zukunftsrepublik

Cover ZukunftsrepublikUm ein Land zukunftsfähig zu machen, braucht es vor allem eines: kreative Köpfe, die über das Morgen hinausdenken. Darum haben die Herausgeberinnen und Herausgeber des Buchs „Zukunftsrepublik“ 80 herausragende Persönlichkeiten zusammengebracht, die unsere Zukunft mit ihren Ideen entscheidend prägen werden. Das Buch ist ein Feuerwerk an Zukunftsvisionen, persönlichen Einschätzungen und Wegweisern für die sechs Kategorien Bildung, Wirtschaft, Arbeit, Gesundheit, Politik und Gesellschaft. Marie-Christine Ostermann, Celine Flores Willers, Miriam Wohlfarth, Daniel Krauss, Andreas Rickert, Hauke Schwiezer (alle Hrsg.): Zukunftsrepublik – 80 Vorausdenker*innen springen in das Jahr 2030. Campus 2021, 24,95 Euro.

Kapital und Ressentiment

cover Kapital und RessentimentEs zieht sich eine Spur der Zerstörung von der Herrschaft der Finanzmärkte über die neuen Netzgiganten bis hin zur dynamisierten Meinungsindustrie. Auf der Strecke bleiben dabei Demokratie, Freiheit und soziale Verantwortung. Joseph Vogl rekonstruiert in seiner Analyse, wie im digitalen Zeitalter ganz neue unternehmerische Machtformen entstanden sind, die unser vertrautes politisches Universum mit einer eigenen Bewertungslogik überschreiben und über nationale Grenzen hinweg immer massiver in die Entscheidungsprozesse von Regierungen, Gesellschaften und Volkswirtschaften eingreifen. Joseph Vogl: Kapital und Ressentiment. C.H. Beck 2021, 18 Euro.

Die Wildgans-Strategie

Cover WildgansstrategieIn vielen Unternehmen werden das geschäftliche Miteinander sowie die Arbeitsabläufe noch immer von Konkurrenzdenken und Egoismus dominiert. Dabei ist das, was vor hundert Jahren noch die Norm und erfolgversprechend war, schon längst überholt. Anhand einer Parabel, die veranschaulicht, wie wichtig Vertrauen und Teamwork für eine nachhaltige Unternehmenskultur und für eine erfolgreiches Personalmanagement sind, zeigt Sofie Klos, dass Kooperation und Vertrauen langfristig betrachtet deutlich erfolgreicher sind. Die Autorin stellt unterschiedliche Kooperationsstrategien vor, die sinnbildlich anhand des Verhaltens von Vögeln bei einem Wettflug betrachtet und analysiert werden. Sofie Klos: Die Wildgans-Strategie. Cherry Media 2020, 14,90 Euro.

Zusammen führen

Cover Zusammen führenDas Buch von Eva-Maria Kraus zeigt auf, wie Führungskräfte ein strategisches Netzwerk aufbauen. Krisen wie die Corona-Pandemie haben gezeigt, dass wir nur gemeinsam im Miteinander zu auch langfristig erfolgreichen Lösungen kommen können. Hier funktioniert kein Silodenken oder das Kleben an traditionellen Hierarchien. Eva-Maria Kraus ist überzeugt: Nur durch die Schaffung einer Kultur des Miteinander und Füreinander werden Unternehmen gerüstet in die Zukunft auch nach Corona gehen können. Hier sind die Dynamik und Kraft von strategisch vernetztem Arbeiten essenziell. Eva-Maria Kraus: Zusammen führen. Wiley-VCH 2021, 24,99 Euro.

Dein perfekter Unternehmertag

cover Dein perfekter UnternehmertagMit Anfang 30 da sein, wo viele gern am Ende des Lebens wären: Rayk Hahne hat es geschafft. Er ist Unternehmensberater, BMX-Profisportler, Familienvater und Podcaster. Aus den über 100 Tools und Techniken, die seine Gäste wie Investor Frank Thelen oder Sportikone Marcell Jansen in seinem Podcast verraten haben, stellt er die Essenz vor. Von „Wie sieht ein perfekter (Unternehmer)Tag aus“ bis hin zu „Denke groß wie Frank Thelen“ zeigt Rayk Hahne, wie sich mit hartem Einsatz, Disziplin und einem klaren (Trainings)Plan Freiheit in allen Lebensbereichen, beruflich wie privat, erreichen lässt. Rayk Hahne: Dein perfekter Unternehmertag. FinanzBuch Verlag 2021, 17,99 Euro.

Das letzte Wort hat: Prof. Dr. Burkhard Schwenker, Unternehmensberater

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Prof. Dr. Burkhard Schwenker hat sich mit Leidenschaft der Beratung verschrieben. Nun hat er mit Mitstreiter*innen ein Plädoyer für die Betriebswirtschaftslehre verfasst. Oder: Das Strategieberatungskonzept für eine Wissenschaftsdisziplin. Im Interview erklärt er zudem, welche Rolle BWLer*innen in Beratungsunternehmen zukommt. Die Fragen stellte Christoph Berger

Zur Person

Prof. Dr. Schwenker, Foto: privat
Prof. Dr. Schwenker, Foto: privat

Prof. Dr. Burkhard Schwenker, Jahrgang 1958, studierte Mathematik und Betriebswirtschaftslehre. Seine berufliche Karriere startete er bei der PWA Papierwerke Waldhof- Aschaffenburg AG. Später wurde er Berater bei Roland Berger. Dort stieg er bis zum Vorsitzenden des Executive Committee auf. Es folgte der Vorsitz im Aufsichtsrat. Heute besetzt er zahlreiche Posten in Unternehmen und Institutionen und widmet sich der Lehre.

Herr Dr. Schwenker, vor welchen Herausforderungen steht die Disziplin Betriebswirtschaftslehre heute und auf welche Herausforderungen sollte sie Antworten finden?
Inhaltlich und von der Hauptzielgruppe kommend, den Unternehmen, wird Unternehmensführung schwieriger und anspruchsvoller. Kurzfristig hängt das mit den Corona- Effekten zusammen. Aber auch darüber hinaus können wir davon ausgehen, dass technologische Sprünge weiterhin extrem zunehmen werden. Damit verbunden sind die Vermischung von Branchengrenzen, die Abgrenzungen des Tätigkeitsfelds eines Unternehmens schwieriger machen. Wir können davon ausgehen, dass die politischen Konflikte zunehmen werden und selbstverständlich gibt es das gesamte Thema Nachhaltigkeit – sowohl auf Kundenseite als auch aus Richtung der Regulatorik. Die ganz große Überschrift für diese Phänomene ist: Ungewissheit. Wir wissen heute weder, welche Ereignisse vor uns liegen, noch wie ihre Wahrscheinlichkeiten aussehen. Das führt dazu, dass viele der klassischen betriebswirtschaftlichen Instrumente, die explizit oder implizit immer auf der Vorstellung beruhen, dass Wahrscheinlichkeiten bekannt sind, heute nicht mehr funktionieren. Man muss also neu denken.

In Ihrem Buch tauchen auch Schlagworte wie Purpose, New Work oder Agilität auf. Sind dies Themen, die umgesetzt werden müssen, um zu einer „guten“ BWL zu kommen, wie Sie sie nennen?
Die Herausforderung besteht darin, all dies in der Unternehmensführung umzusetzen. Mit der Zunahme des Anspruchs muss sich auch die BWL darauf ausrichten. Das muss der Anspruch sein: Sie muss die Forschung auf diese Themen ausrichten, die Lehre umstellen – es geht darum, die Instrumente zu reflektieren statt nur ihre Anwendung zu lehren. Das Paket ist groß. Andererseits wird BWL von den Unternehmensführungen sehr geschätzt. Sie setzt somit auf einer guten Basis auf, von der aus sie sich weiterentwickeln kann.

Damit steht die BWL genau vor dem Wandel, vor dem auch die Branchen und Unternehmen stehen.
Genau. Auch die BWL muss ihre Denkmuster überarbeiten. Dabei wäre es wünschenswert, wenn sie schneller als die Unternehmen wäre. Denn die Aufgabe jeder anwendungsorientierten Wissenschaft ist es, Entscheidungshilfen zu bieten.

Kann ein/eine Betriebswirt*in dieser komplexer werdenden Welt überhaupt noch den Überblick behalten?
Es geht immer darum, sich einen Überblick zu verschaffen, ein Gespür für mögliche Entwicklungen aufzubauen. Das bedeutet, dass man sich breit aufstellen muss, dass man als Betriebswirt Interesse daran haben muss, was in der Welt passiert, was geopolitisch läuft, was in der Politik eine Rolle spielt. Und, bezogen auf die Forschung, was in den Nachbarwissenschaften passiert. Es ist sehr deutlich geworden, dass ein Teil der Zukunft darin liegt, interdisziplinärer vorzugehen. Im Kern muss also die Fähigkeit gelehrt werden, zu denken, komplexe Sachverhalte versuchen zu durchdringen. Die Auseinandersetzung mit Theorien wird somit bedeutsam. Dies braucht man, um besser denken zu können.

Mit diesen Fähigkeiten und diesem Know-how ausgestattet: Welche Rolle können Betriebswirte dann in Strategieberatungen übernehmen?
Jede wichtige. Für exzellente Betriebswirte, Frauen oder Männer, stehen die Türen auf und die Karriereleitern offen. Vorausgesetzt, sie sind kreativ, weltoffen und bringen genau das Rüstzeug mit, über das wir gesprochen haben: hohe analytische Fähigkeiten, Reflexionsvermögen, Empathie – denn wer führen will, muss Menschen mögen – und Einsatzbereitschaft.

Buchtipp

Erfolgsfaktor BWLSchwenker, Albers, Ballwieser, Raffel, Weißenberger: Erfolgsfaktor Betriebswirtschaftslehre. Vahlen 2021, 24,90 Euro

karriereführer ingenieure 1.2021 – Der Green Deal ist ein Big Deal

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Der Green Deal ist ein Big Deal

Der Fahrplan der EU in Richtung klimaneutrales Europa führt zur erhofften Dynamik: Die Investitionen in nachhaltige Technologien steigen, und Ingenieur*innen nehmen die Herausforderung an, Lösungen für die bekannten Probleme zu finden. Dies funktioniert im Himalaya genauso wie auf fränkischen Sportplätzen.

Der Green Deal ist ein Big Deal

Der Fahrplan der EU in Richtung klimaneutrales Europa führt zur erhofften Dynamik: Die Investitionen in nachhaltige Technologien steigen, und Ingenieur*innen nehmen die Herausforderung an, Lösungen für die bekannten Probleme zu finden. Dies funktioniert im Himalaya genauso wie auf fränkischen Sportplätzen. Ein Essay von André Boße

Die EU hat Ende 2019 ihren Green Deal vorgestellt, einen „Fahrplan für eine nachhaltige EU-Wirtschaft“, wie es offiziell heißt. Dieser hat zwei Ziele: Erstens sollen bis 2050 keine Netto-Treibhausgasemissionen mehr freigesetzt werden. Kurz gesagt: Die EU wäre dann klimaneutral. Zweitens soll das Wirtschaftswachstum von der Ressourcennutzung abgekoppelt werden. Das bedeutet: Wachsen, ja, aber nicht mehr auf Kosten der Umwelt. Rund eineinhalb Jahre später kann man sagen: Der Green Deal ist definitiv ein „Big Deal“. Der Fahrplan ist keine kraftlose Forderung aus Brüssel an die Unternehmen, bitte etwas nachhaltiger zu wirtschaften. Die Maßgabe der EU hat sich zum Gamechanger entwickelt. Denn Unternehmen erkennen, dass das nachhaltige Wirtschaften der entscheidende Erfolgsfaktor der Zukunft ist. Zumal er sich koppeln lässt mit dem zweiten Megatrend von heute: der Digitalisierung.

Bill Gates investiert in nachhaltige Start-ups

Microsoft-Gründer Bill Gates ist bekannt als Akteur, der hohe Summen in Zukunftstechnologien zugunsten der Weltgesellschaft investiert. Mitte Februar kündigte er an, in den kommenden fünf Jahren zwei Milliarden USDollar in Start-ups und andere Projekte gegen den drohenden Klimawandel zu investieren. Dies berichtete er in einem Interview mit dem „Handelsblatt“. Es gelte, mit Innovation eine „Klimakatastrophe“ zu verhindern, sagte der Microsoft-Gründer. Gates forderte in dem Interview zusätzlich eine Verfünffachung der globalen staatlichen Forschungsinvestitionen in saubere Energien und andere Klimainnovationen innerhalb des nächsten Jahrzehnts. Dies wären dann jährlich mindestens 110 Milliarden US-Dollar, also rund 90 Milliarden Euro.

Corona stärkt Green Deal

Als die EU im Dezember 2019 den Green Deal vorstellte, wurden im chinesischen Wuhan die ersten Patient*innen mit einer ungewöhnlichen Lungenkrankheit gemeldet. Andere Länder wussten aber noch nichts über dieses Virus. Das änderte sich nur wenige Wochen später: Corona hat seitdem die Welt im Griff. Interessant ist, dass es dem Virus aber nicht gelingt, den Green Deal zu schwächen. Im Gegenteil: Die Krise zeigt, warum es gerade jetzt wichtiger denn je ist, Risiken abzuschätzen und Wachstumsstrategien zu überdenken. „Es ist kein Zufall, dass die Pandemie vor allem die überhitzten Branchen des alten Normal besonders hart getroffen hat – Fleischproduktion, Kreuzfahrtschiffe, Flugverkehr, exzessiver Tourismus, fossile Automobilität“, stellt Vorwärtsdenker Matthias Horx vom Zukunftsinstitut in seinem Kommentar „2021: Das Jahr der Entscheidungen“ fest. Was diese „Krisen-Branchen“ verbinde, sei ihr Streben nach schnellem Wachstum, sagt Horx. „Wo aber Wirtschaft zur reinen Effizienzmaschine wird, wird sie besonders fragil. Das haben Krisen so an sich: Sie beenden Exzesse. Sie konfrontieren uns mit unserer eigenen Dekadenz. Sie lösen festgefräste Denkmuster auf und zerstören das Überkommene. Sie erzwingen Innovationen, die vorher im Latenten stecken geblieben waren.“

Innovationen zielen häufig darauf, Risiken besser zu managen. Jedes Jahr zum Weltwirtschaftsforum veröffentlicht das veranstaltende Word Economic Forum einen Report über die „Globalen Risiken“, für den rund 650 Leiter weltweiter Unternehmen einschätzen, welche Gefährdungen für die Wirtschaft am relevantesten sind. Ganz oben auf der Liste der Risiken 2021: Wetterextreme, ein Scheitern beim Klimaschutz sowie die vom Menschen gemachte Ausbeutung und Verschmutzung der Umwelt. Zum Vergleich: Vor zehn Jahren noch wurde das Risikoranking von Themen wie Fiskal-, Liquiditäts- und Preiskrisen dominiert. Als einziges „grünes“ Thema fand sich der Klimawandel in der oberen Hälfte der Liste, umgeben war es von ökonomischen Themen.

Leitlinien zu klimabezogenen Berichten

Die EU-Kommission hat im Juni 2019 unverbindliche Leitlinien zur Berichterstattung über klimabezogene Informationen veröffentlicht. Diese geben Unternehmen Empfehlungen, wie sie darüber berichten können, wie ihre Aktivitäten sich auf den Klimawandel auswirken und welchen Einfluss dieser auf das Geschäftsmodell nimmt. Hier stehen besonders potenzielle Risiken im Fokus. Die Leitlinien erhalten zudem Best Practice-Beispiele zur Berichterstattung über wesentliche Erfolgsfaktoren.

Ingenieurideen mildern „Grüne Risiken“

Was bedeutet diese Entwicklung für technische Innovationen und für die Arbeit der Ingenieur*innen? Mehr denn je kommt es darauf an, dass sie an Lösungen arbeiten, die nachhaltiges Wachstum generieren. Damit das Unternehmen weiter Umsätze generiert – das ist klar. Aber nicht länger auf Kosten der Umwelt. Sondern, mehr noch, mit Technologien, die dabei helfen, die „Grünen Risiken“ abzumildern. Die gute Nachricht: Den Ingenieur*innen kommt dieser Arbeitsauftrag wie gelegen. Er korrespondiert mit den digitalen Möglichkeiten, aber auch mit dem Bedürfnis der jungen Generation. Sie versteht unter dem Konzept New Work, Dinge zu tun, die gedankliche Freiräume garantieren und sinnvoll dazu beitragen, die Welt lebenswert zu erhalten sowie nachhaltig zu gestalten.

Wie wirksam an dieser Stelle der Hebel allein für den Maschinenbau ist, zeigt eine aktuelle Studie des Beratungsunternehmens Oliver Wyman. Unmittelbar sei der Maschinenbau zwar nur für rund ein Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich – etwa durch den Wärme- und Stromverbrauch bei der Fertigung von Maschinen. „Ungleich größer ist jedoch das Potenzial, anderen Sektoren wie etwa der Stahlverarbeitung oder der Zementbranche durch die Bereitstellung innovativer Technologien zu CO2-Einsparungen zu verhelfen: Fast 70 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen können durch den Maschinenbausektor beeinflusst werden“, heißt es in der Analyse. Dr. Daniel Kronenwett, Partner bei Oliver Wyman, nennt einen konkreten Anwendungsfall: „Ersetzen Stahlhersteller zukünftig beispielsweise Koksöfen durch Wasserstofftechnologie oder Fabriken extern bezogenen Kohlestrom durch dezentrale Energieversorgung auf Basis erneuerbarer Energien, ist das ein enormer Hebel.“ Wie groß der Markt ist, zeigt die Kalkulation des Beratungsunternehmens: Um die Ziele des Green Deal zu erreichen, müssten jährlich mehr als 120 Milliarden Euro investiert werden, davon der größte Teil in Technologien und Equipment, die Nachhaltigkeit erzeugen.

Um die Ziele des Green Deal zu erreichen, müssten jährlich mehr als 120 Milliarden Euro investiert werden, davon der größte Teil in Technologien und Equipment, die Nachhaltigkeit erzeugen.

Für die Ingenieur*innen im Maschinenbau zeigen die Berater drei Handlungspfade auf: Erstens gehe es darum, die Energieeffizienz des vorhandenen Maschinenportfolios zu erhöhen. Hier helfen das Industrial Internet of Things (IIoT) sowie neue IT-Management-Systeme. Zweitens raten die Studienautoren zu Investitionen in Brückentechnologien zur Abscheidung, Speicherung oder Weiterverarbeitung von vorhandenem CO2. Drittens sei es wichtig, den Ausbau vielversprechender Durchbruch-Technologien zur Vermeidung von CO2 voranzutreiben, zum Beispiel die industrielle Wasserstofftechnologie. „Die erst kürzlich verabschiedete nationale Wasserstoffstrategie der Bundesregierung dürfte dem Thema einen weiteren Impuls nach vorn geben“, sagt Daniel Kronenwett.

Eis-Wasser-Speicher im Sommer

Alte Maschinen optimieren, in Überbrückungstechnologien investieren, Durchbruch-Technologien entwickeln – so lautet der anspruchsvolle Dreischritt, vor dem weltweit die Ingenieur* innen stehen. Nicht zuletzt in dieser Pandemie zeigt sich: Steigen die Anforderungen, steigt auch die Innovationskraft. Die Impfstoffforschung ist hier ein gutes Beispiel. Auch Ingenieur* innen belegen weltweit, was diese Berufsgruppe schon immer ausgezeichnet hat: Sie finden Lösungen für Probleme, die zunächst unlösbar scheinen. Werfen wir einen Blick in den Himalaya, wo auf einer Höhe von 3500 Metern über dem Meeresspiegel in den Bergen von Ladakh die Bauern unter einer akuten Wasserknappheit leiden: Fällt in der Region überhaupt Niederschlag, dann häufig Schnee, wobei die Wolken an den Berggipfeln hängenbleiben. Die Winter hier oben sind kalt, in den Sommern wird es wärmer und noch trockener.

Europäischer Erfinderpreis

Einmal im Jahr schreibt das Europäische Patentamt den Europäischen Erfinderpreis aus. Bewerben können sich kluge Köpfe aus Industrieunternehmen, aus kleinen und mittelständischen Betrieben oder aus der Forschung. Die Gewinner des letzten Wettbewerbs haben zum Beispiel ein Verfahren für ein verbessertes Kunststoffrecycling oder eine umweltfreundliche Verpackung aus Pilzen entwickelt.

Der Ingenieur Sonam Wangchuk entwickelte die Idee, moderne Pipelinetechnik mit einer uralten Tradition der Wasserspeicherung zu kombinieren: Schmelzen Schnee und Eis auf dem Gipfel, wird das Wasser die Hänge hinab auf die landwirtschaftlichen Gebiete geleitet. Dort „sprudelt“ das Wasser unter Druck senkrecht aus der Erde und geht auf einem künstlich angelegten Eishügel nieder – eine Art Mini-Gletscher, der durch seine besondere Form bei Plustemperaturen nur sehr langsam schmilzt. Die Eishügel funktionieren wie ein Speicher, der nach und nach Wasser abgibt und somit die Wasserversorgung sichert. Der 2015 gebaute Prototyp wurde mit Hilfe einer Crowdfunding- Kampagne finanziert, die alle Kosten der 2,3 Kilometer langen Pipeline von einem Schmelzwasserfluss bis hinunter zum Dorf deckte. Der Eishügel steht bis Anfang Juli und spendet jährlich rund 1,5 Millionen Liter Schmelzwasser – wohlgemerkt Wasser, das sonst versickert wäre. Sonam Wangchuk gewann für diese Entwicklung den „Rolex-Preis für Unternehmungsgeist“, wobei er den Eishügel am Hang als Pilotprojekt für weitere Investitionen betrachtet: Die Eishügel sollen eine wirksame Klimaanpassungsmaßnahme und Begrünungstechnologie für die Wüste sein. Mittelfristig möchte der studierte Maschinenbauer in seiner Heimatregion 50 noch größere Eishügel anlegen, von denen jeder rund zehn Millionen Liter für die Bewässerung von je zehn Hektar Land liefert, heißt es in einem Pressetext des „Rolex-Preises“.

Guter Platz, kein Mikroplastik

Während der Ingenieur Sonam Wangchuk also im Himalaya die Wasserversorgung garantiert, arbeiten Forschungsteams am Institut für angewandte Biopolymerforschung der Hochschule Hof daran, Kunststoffe auf biologischer Basis zu entwickeln – und diese auch einzusetzen. Gelungen ist dies bereits auf Sport- und Spielplätzen mit Kunststoffbelägen. Diese Beläge bieten grundsätzlich eine Menge Vorteile: Sie vermeiden Verletzungen, sind robust, schimmeln nicht. Das Problem: „Durch Abrieb aus Bodenbelägen, Kunstrasen und Spielplatzgeräten könnten kleinste Kunststoffteilchen in die Umwelt und somit in die Trinkwasserversorgung gelangen“, heißt es in einer Pressemitteilung des Instituts. Nun gelang es den Forschern, abriebfeste Beläge aus rein natürlichen Biopolymeren zu entwickeln. Obwohl es sich um ein organisches Element handelt, könne dieses nicht schimmeln und sei witterungsbeständig. Eingesetzt wird er bereits auf zahlreichen Plätzen in Franken. „Dank künstlicher Intelligenz funktioniert der Belag darüber hinaus wie ein Wärmetauscher: Bei Hitze kühlt sich der Boden ab, im Winter lässt die eis- und schneefreie Oberfläche kein Training oder Spiel aufgrund eines unbespielbaren Platzes ausfallen“, informiert das Institut.

Die Beispiele zeigen, wie vielfältig der Green Deal ist: Nachhaltige Verbesserungen zum Wohle der Menschen sowie zum Schutz von Klima und Umwelt sind überall nötig. Was benötigt wird, sind erfinderische Ingenieur*innen, die vorwärts denken: in eine Zukunft, in der es mehr denn je darauf ankommt, das Wohl von Mensch, Welt und Unternehmen zusammenzudenken. Das Schöne an dieser Perspektive: Diese Arbeit erfüllt einen Sinn. Weil sie nicht mehr nur danach verlangt, jede Schraube so zu platzieren, dass die Maschine schneller läuft. Sondern weil es zum Job der Ingenieur*innen gehört, dem System der Nachhaltigkeitstechnologie immer wieder neue wirksame und ineinandergreifende Zahnräder hinzuzufügen.

Das grüne Paradoxon

Cover das grüne ParadoxonManche Beiträge zum Klimaschutz sind nicht nur sinnlos, sondern kontraproduktiv, sagt Hans-Werner Sinn, emeritierter Hochschullehrer an der Ludwig-Maximilians-Universität München und ehemaliger Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung. Zum Beispiel habe die Beimischung von Biosprit fatale Folgen von globalem Ausmaß, so der Autor: Wenn wir Lebensmittel tanken, pfl egen wir unser grünes Gewissen zu Lasten der Menschen in den Schwellen- und Entwicklungsländern. Die europäische Umweltpolitik unterliegt laut dem Professor der Illusion, dass sie durch einseitige Maßnahmen zur Verringerung der Emissionen und damit der Nachfrage nach fossilen Rohstoffen die weltweite Produktion solcher Rohstoffe verringern kann. Doch was, wenn aus Angst vor einer Verschlechterung der Marktlage sogar noch mehr Rohstoffe gefördert werden? Der Autor zeigt in seinem Buch die gefährlichen Irrtümer der Umweltpolitik. Sein Plädoyer: Wenn wir unser Klima retten wollen, muss der blinde Aktionismus gestoppt und eine globale Strategie zur Verlangsamung des Ressourcenabbaus gefunden werden. Hans-Werner Sinn: Das grüne Paradoxon. Plädoyer für eine illusionsfreie Klimapolitik. Weltbuch Verlag 2020. 19,90 Euro

Every Day For Future

Die Buchreihe „Every Day For Future“ bietet den Leser*innen konkrete Tipps, um im Alltag das Klima zu schützen und weniger Ressourcen zu verbrauchen. Die Ausgabe „Digital & Technik“ zeigt, dass die scheinbar so saubere digitale Welt alles andere als klimaneutral ist. Bei den Ratschlägen für einen bewussteren Verbrauch blickt Autor Frerik Precht auf die Lebensdauer, Leistungsfähigkeit und Stromversorgung von digitalen Geräten. Nicht alle der 75 Tipps werden die Welt verbessern, aber für jeden sind einige nachhaltige Denkanstöße dabei. Frerik Precht: Every Day For Future – Digital & Technik. 75 Dinge, die du selbst tun kannst, um nachhaltiger online zu sein und Technik bewusst einzusetzen. Frech Verlag 2020. 8 Euro

Zeitsprung in eine bessere Welt

Menschen haben die Erde in den Klimakollaps gestürzt, und Menschen werden sie auch wieder aus dem Dreck ziehen. Eric Holthaus ist Meteorologe und Wissenschaftsjournalist. Er berichtet seit Jahren über Überschwemmungen, Hurrikans und Dürren. Auch er weiß: Weltweit ist das Wetter aus den Fugen geraten, die Extreme nehmen zu. Eine Klima-Apokalypse scheint unausweichlich. Doch Resignation, Ignoranz oder Zynismus sind für Holthaus keine Option. Stattdessen nimmt er uns mit in das Jahr 2050 und skizziert, wie es uns in drei Jahrzehnten gelungen sein könnte, den totalen Kollaps unserer Ökosysteme abzuwenden. Denn der erste Schritt zum Wandel, ist die Vorstellung, dass er möglich ist. Eric Holthaus: Die Erde der Zukunft. Wie wir die Klimakrise verhindern – und wie unsere Welt danach aussieht. HarperCollins 2021. 18 Euro

Öko-Thriller-Autor und Unternehmer Dirk Roßmann im Interview

Jeder kennt Dirk Roßmann als Unternehmer und Gründer der Drogeriekette Rossmann. Mit 74 Jahren hat er Ende 2020 noch einmal ein Debüt gegeben: „Der neunte Arm des Oktopus“ ist sein erster Roman: ein fiktiver Öko-Thriller zum sehr realen Thema des Klimawandels. Im Interview erzählt Dirk Roßmann, warum ihn das Thema selbst nachts nicht mehr losließ und er große Hoffnungen in die junge Ingenieurgeneration setzt. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Dirk Roßmann eröffnete 1972 in seiner Geburtsstadt Hannover einen „Markt für Drogeriewaren“, es war der erste Drogerie- Discountmarkt in Deutschland überhaupt. Bis heute ist die Dirk Rossmann GmbH ein inhabergeführtes, international agierendes Familienunternehmen und befindet sich mehrheitlich im Besitz der Familie Roßmann. Dirk Roßmann setzt sich intensiv für den Klimaschutz ein. Dass der Klimawandel eine Bedrohung für die Menschheit, unsere Kinder und Kindeskinder ist, beschäftigt ihn nicht nur als Unternehmer und Schriftsteller, sondern auch als Vater und Großvater. Als Mitbegründer der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung (www.dsw.org) engagiert er sich seit 1991 für eine zukunftsfähige Bevölkerungsentwicklung. Der Autor ist verheiratet mit Alice Schardt-Roßmann und hat zwei Söhne, die ebenfalls im Unternehmen tätig sind.

Herr Roßmann, soll Ihr Öko-Thriller, „Der neunte Arm des Oktopus“, eher unterhalten oder eher zur Weltrettung beitragen?
Im besten Fall beides! Ich will Gehör finden für das Problem des Klimawandels und die gewaltige Aufgabe, die uns bevorsteht, um das Problem zu bewältigen. Sachbücher gibt es schon viele zu diesem Thema, aber ein Thriller bietet andere Möglichkeiten. Ich gehe den Weg der Fantasie, möchte den Leser fesseln. Beim Lesen eines Romans tauche ich bewusst in eine fremde Wirklichkeit ein. Die Schicksale der Menschen, die unmittelbar vom Klimawandel betroffen sind, bekommen ein Gesicht, sie werden dadurch viel stärker zur Realität als durch eine Nachrichtenmeldung.

Welche konkreten Erlebnisse haben Sie dazu gebracht, sich diesem Buchprojekt zu widmen?
Konkrete Erlebnisse gab es viele. Beispielsweise die verheerenden Brände in Australien, denen alleine zwischen Ende 2019 und Anfang 2020 über eine Milliarde Tiere zum Opfer gefallen sind. Aber auch die sichtbare Veränderung unseres europäischen Klimas – das können Sie direkt vor der eigenen Haustür sehen: Die Temperaturen steigen, die Sommer werden immer heißer, unsere Eichen schreien förmlich nach Wasser. Erst war es so, dass sich verschiedene Erlebnisse und Wahrnehmungen regelrecht in mir aufgestaut haben, was letztlich zu einer seltsamen Begebenheit geführt hat: Im Dezember 2019 habe ich 14 Tage lang, immer zur selben Zeit, frühmorgens gegen vier Uhr, in einem Zustand zwischen Wachen und Träumen einen Großteil der Handlung meines Romans geträumt. Und dann war er da – der Zwang, das auf Papier zu bringen.

Beim Schreiben des Buches haben Sie sich, wie man liest, eine hartnäckige Magenschleimhautentzündung zugezogen, die wohl auch etwas mit dem Stress zu tun hatte. Was hat Sie mehr gestresst: der für Sie ungewöhnliche Prozess des Schreibens oder die Dringlichkeit des Themas?
Das eine bedingte das andere. Ich habe den enormen Drang verspürt, das Geträumte aufzuschreiben. Das war mein Weg, mit der Bedrohung durch den Klimawandel umzugehen, die wie eine dunkle Wolke über uns schwebt. Ich habe mich mit den schrecklichen Folgen auseinandergesetzt, die der Klimawandel für die Menschen bedeutet, welches Leid und welche Not er mit sich bringt. Zugleich wollte ich, dass der Thriller richtig gut wird – denn eines war mir klar: Um zum Nachdenken anzuregen, musste das Buch zu einem Erfolg und von vielen Menschen gelesen werden.

Ihnen war die wissenschaftliche Präzision des Buches wichtig, gleich mehrere Experten haben Ihnen beim Recherchieren und Verfassen geholfen. Warum ist es wichtig, dass selbst eine fiktive Geschichte wie Ihre auf Fakten basiert?
Mein Roman handelt von einer realen Bedrohung! Auch wenn die Handlung fiktiv ist, so müssen wir uns doch der tatsächlichen Problematik und den Folgen des Klimawandels stellen. Da ist es enorm wichtig, dem Leser ein Szenario vor Augen zu führen, das so eintreten kann und möglicherweise auch eintreten wird, sollten wir nicht sehr bald das Ruder herumreißen. Dürren, Überschwemmungen, auftauende Permafrostböden: Alle diese Dinge sind ja leider heute schon Realität und werden mit steigender globaler Temperatur erschreckende Ausmaße annehmen.

Sie sind in erster Linie als erfolgreicher Unternehmer bekannt. Welche Rolle spielen Unternehmen, wenn es darum geht, die Weichenstellungen für eine bessere Zukunft vorzunehmen?
Als Unternehmen schauen wir natürlich, wie wir uns nachhaltiger aufstellen können. Und: Wir haben die Möglichkeit, Menschen zu erreichen. Entscheidungsmacht besitzen wir aber nicht. Letztendlich liegt es bei den Staaten – insbesondere den großen –, Maßnahmen durchzusetzen, die weitreichend sind und den rasch fortschreitenden Klimawandel stoppen oder zumindest verlangsamen können.

Wir sollten unsere Hoffnung nicht allein auf eine rein technische Lösung setzen. Technik ist wichtig. Sie wird vieles möglich machen. Und auch möglich machen müssen, zum Beispiel in der Automobilindustrie oder dem Energie-Sektor. Am Ende ist es aber an uns allen, umzudenken und unsere Lebensweise zu verändern.

Es sieht so aus, als rette uns in dieser Pandemie eine medizintechnische Forschungsleistung, nämlich der Impfstoff. Was kann die Technik beitragen, um die Klimakrise zu lösen?
Wir sollten unsere Hoffnung nicht allein auf eine rein technische Lösung setzen. Technik ist wichtig. Sie wird vieles möglich machen. Und auch möglich machen müssen, zum Beispiel in der Automobilindustrie oder dem Energie-Sektor. Am Ende ist es aber an uns allen, umzudenken und unsere Lebensweise zu verändern. Dazu gehört zum Beispiel, unseren Fleischkonsum deutlich zu reduzieren, weniger zu reisen und erneuerbare Energien zu fördern. Wir sehen doch aktuell in der Pandemie, was möglich ist, wenn uns eine Situation zwingt umzudenken. Nur ist der Klimawandel für viele zu abstrakt, zu unwirklich, zu weit entfernt, als dass sie zum Handeln bereit sind.

In welcher Rolle sehen Sie junge Ingenieure und Ingenieurinnen, die jetzt mit ihrer Karriere beginnen: Welche Rolle werden sie in naher Zukunft spielen?
Eine sehr wichtige! Denn ihr Ideenreichtum wird Entwicklungen vorantreiben. Sie steigen mit einem anderen Bewusstsein in ihr Berufsleben ein: mit einem Bewusstsein für Nachhaltigkeit und für den Klimawandel. Dieser Blick wird es ihnen ermöglichen, Wege zu finden, die wir jetzt vielleicht noch gar nicht auf dem Schirm haben. Ich setze große Hoffnungen in sie und in ihre Innovationen.

An welchen technischen Stellschrauben könnten Sie in Ihrem Unternehmen drehen, um Rossmann noch nachhaltiger wirtschaften zu lassen?
Das Spannende an der Nachhaltigkeit ist doch, dass wir stetig dabei sind, uns zu verbessern. Denken Sie nur zehn Jahre zurück, wer kannte da das Thema Mikroplastik? Lange hieß es, Mikroplastik könne nicht ersetzt werden. Heute haben wir allein 1000 mikroplastikfreie Produkte im Sortiment. Das Beispiel zeigt: Es gibt noch viele Stellschrauben, sowohl auf Produkt- als auch auf Verpackungsebene. Aktuell beschäftigen wir uns intensiv mit dem Thema Klimaneutralität. Unsere Naturkosmetik der Eigenmarke ist bereits klimaneutral, da ist sicherlich noch Einiges mehr möglich.

Wenn Sie jetzt nachts wachliegen, müssen Sie sich ja keine Thriller-Geschichte mehr erträumen. Wenn Sie sich stattdessen eine technische Erfindung erträumen dürften, welche wäre das?
Natürlich wäre eine technische Erfindung großartig, die die Erderwärmung stoppt oder in Teilen sogar umkehren könnte. Aber mit solchen Träumen sollte man immer mit Bedacht umgehen. Denn ein so großer, gravierender Eingriff in das Welt-Klima hätte sicherlich nicht nur positive Folgen. Ich denke daher, dass unser Leben und unser Planet für die eine, große Erfindung einfach zu komplex sind.

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Cover Der neunte Arm des OktopusWas es mit dem Buchtitel auf sich hat? Das will Dirk Roßmann nicht verraten: „Das erfahren Sie, wenn Sie mein Buch lesen.“ Nur eines wolle er verraten: Der Oktopus habe ihn sehr fasziniert: „Er steht für das Wunder der Natur, das wir schützen müssen. Ein Oktopus ist perfekt, wie er ist, er braucht keinen weiteren Arm, er ist im Einklang mit sich, seiner Umwelt, den weiten Ozeanen, die alles verbinden und unseren Planeten zum blauen Planeten machen.“ Der Roman startet an dem Punkt, an dem die drei Supermächte China, Russland und die USA einen radikalen Weg einschlagen, um den Klimawandel noch in den Griff zu bekommen. Wobei die Maßnahmen der Allianz gravierend in das Leben der Menschen eingreifen – und nicht jeder diese neue Wirklichkeit kampflos akzeptieren will.

Dirk Roßmann: Der neunte Arm des Oktopus. Lübbe Verlag 2021. 20 Euro