Der Nachhaltigkeitsberater Hubertus Drinkuth im Interview

Hubertus Drinkuth, Foto: Systain Consulting GmbH
Hubertus Drinkuth, Foto: Systain Consulting GmbH

Seit mehr als 20 Jahren ist Systain als Nachhaltigkeitsberatung am Markt erfolgreich, das Unternehmen zählt damit zu den Pionieren in diesem Bereich. 2010 kam Hubertus Drinkuth als Managing Director hinzu. Im Interview berichtet er, wie sich die Nachhaltigkeitsberatung im Laufe der Jahre gewandelt hat, warum sie heute ein kernstrategisches Thema ist und auf welche Skills es in diesem Bereich ankommt. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Hubertus Drinkuth ist Diplom-Kaufmann und begann seine Beraterkarriere 1996 bei Roland Berger in München. Nach Auslandsstationen in Japan und China wechselte er 2006 nach Hamburg in die Otto Group, wo er als Divisional Vice President für die Konzernstrategie verantwortlich war. Nach einem Zwischenjahr in einer konzernnahen Stiftung wurde Hubertus Drinkuth 2010 Managing Director der Nachhaltigkeitsberatung Systain Consulting, einer Tochter der Otto Group. Thematisch ist er dort in den Schwerpunkten umfassende Nachhaltigkeitsstrategien und Wesentlichkeitsanalyse (Materialitätsanalyse) tätig.

Herr Drinkuth, das Beratungsunternehmen Systain existiert seit mehr als 20 Jahren, seit fast elf Jahren sind Sie dort als Managing Director tätig. Wie hat sich die Nachhaltigkeitsberatung im Laufe der Zeit gewandelt?
Als ich 2010 zu Systain kam, hatte ich, so ehrlich muss ich sein, von Nachhaltigkeitsberatung keine Ahnung. Null. Ich hatte bei Roland Berger gearbeitet, war für den Otto-Konzern, zu dem Systain gehört, für die Group Strategy verantwortlich und war danach ein Jahr lang in einer konzernnahen Stiftung tätig gewesen. Als 2010 die Geschäftsführung von Systain vakant war, dachte man sich wohl, ich sei als Unternehmensberater mit Stiftungserfahrung perfekt für diese Position geeignet.

Dabei war das für Sie ein Sprung ins kalte Wasser.
Schon, ja, wobei ich bei meiner Tätigkeit für die Stiftung schon gemerkt hatte, dass es Bereiche gibt, in denen Leute Ansichten und Argumente haben, die sich mit meinen neoklassischen Consultant-Argumenten nicht aushebeln ließen.

Die Welt besteht nicht nur aus Zahlen.
So ungefähr, ja. Und auf solche Menschen bin ich dann auch bei Systain getroffen: Gearbeitet haben dort, kurz gesagt, begabte Menschen mit einem echten Faible für Nachhaltigkeit. Was mir damals recht schnell klar wurde: Wir müssen die beiden Sichtweisen verheiraten, also die Unternehmens- mit der Nachhaltigkeitsperspektive verbinden, um Unternehmen langfristig erfolgreich zu machen.

War dieser Ansatz neu?
Ja. Viele Unternehmen haben damals noch gar nicht verstanden, was die Nachhaltigkeitsleute von ihnen wollen. Oft war es so, dass die Unternehmen Anrufe von Nachhaltigkeitsaktivist* innen bekannter Nichtregierungsorganisationen bekamen, die ihnen sagten: „Ihr müsst etwas beim Thema Wasser oder CO2-Emissionen machen!“ Daraufhin haben die Unternehmen hektisch Maßnahmen eingeläutet und diese dann in ihren Nachhaltigkeitsberichten verkauft. Wobei diese wiederum, weil Nichtregierungsorganisationen in der Regel gleich mehrere Unternehmen angerufen hatten, sehr gleichförmig aussahen.

Nachhaltigkeit auf Zuruf?
Genau. Eine Strategie gab es nicht. Kaum ein Unternehmen wusste, warum man sich eigentlich diesen Nachhaltigkeitsthemen widmen sollte. Nach einer kurzen Phase der Ernüchterung darüber, dass noch kaum ein Unternehmen über eine wirkliche Nachhaltigkeitsstrategie verfügt, fühlten wir uns motiviert, Systain neu aufzubauen.

Es musste zunächst darum gehen, eine Faktenbasis zu schaffen, als Grundlage für unternehmerische Entscheidungen. Und was braucht man dafür? Keine Geschichten, sondern Zahlen.

Mit welchem Ziel?
Es musste zunächst darum gehen, eine Faktenbasis zu schaffen, als Grundlage für unternehmerische Entscheidungen. Und was braucht man dafür? Keine Geschichten, sondern Zahlen. Und zwar welche mit Euro-Zeichen am Ende. Also haben wir unser Input-Output-Modell entwickelt, das in der Lage ist, auf Basis volkswirtschaftlicher Modelle die gesamte Wertschöpfungskette eines Unternehmens zu simulieren. Und diese Simulation haben wir mit Environmental Extensions erweitert – also Daten, die benennen, wie hoch zum Beispiel die CO2-Emissionen sind, die entstehen, wenn ich als Unternehmen für einen Euro Stahl aus China beziehe und nicht aus dem Ruhrgebiet. Bewertet man diese Emissionen dann mit ihren externen Kosten, habe ich am Ende eine Zahl, die jeder CEO versteht: Die Schadkosten an der Umwelt in Euro, die sein Geschäftsmodell verursacht, für die das Unternehmen aber nicht bezahlt.

Consultants sind gut darin, Chancen und Potenziale zu benennen. Wenn es bei der Nachhaltigkeitsberatung weiterhin darum geht, Schäden zu beziffern: Wie gelingt es Ihnen, einen positiven Spin zu generieren?
Indem wir Nachhaltigkeitsthemen auch dahingehend analysieren, ob in ihnen Unternehmenswert steckt, ob man mit ihnen positiv auf die Entwicklung des Unternehmens einzahlen kann. Mit Beginn dieser Diskussion erhält das Thema Nachhaltigkeit auf einem Schlag kernstrategische Relevanz, weil das Management merkt: Hier stellen mir keine Nachhaltigkeitsfreaks unangenehme Fragen, hier erfahre ich als derjenige, der z. B. die Logistik leitet, welche Risiken ich verringere, sobald ich eine bestimmte Entscheidung treffe. Das Management erkennt in diesem Moment eine unternehmerische Chance, und oft ist es so, dass die Verantwortlichen erst beim zweiten Nachdenken merken: „Ah, das ist ja darüber hinaus auch noch nachhaltig, wie praktisch!“ In genau diesem Moment entsteht der positive Spin: Wir müssen nachhaltiger werden, ja – aber wenn wir das Thema angehen, dann nutzen wir doch bitte diejenigen Aspekte, mit deren Hilfe wir etwas Positives für das Unternehmen und die Gesellschaft und/oder Natur herausziehen können.

Sie sprachen vom Unternehmenswert, ist dieses beim Thema Nachhaltigkeitsberatung rein ökonomisch zu betrachten?
Hier verlassen wir uns mit unserem Consulting tatsächlich auf die Welt der großen Hardcore-Strategieberatungen. Bei diesen geht’s häufig um das nackte Ergebnis, die „Bottom-Line“. Im Nachhaltigkeitsbereich lässt sich eine solche Zahl eigentlich nur im Bereich der Effizienz generieren. Wobei bei einem Thema wie Energieeinsparung heute oft die letzten Stellschrauben bereits gedreht sind. Womit wir uns beschäftigen, sind erweiterte Bereiche, um Unternehmenswerte zu schaffen. Einer ist zum Beispiel der Markenwert, den wir aus drei Perspektiven betrachten: erstens aus Richtung des Kapitalmarkts. Dieser koppelt den einfachen Zugang zu Geld immer stärker an Nachhaltigkeit, die EU-Taxonomie wird diesen Trend noch verstärken.

Immer mehr junge Menschen achten bei der Wahl ihres Arbeitgebers darauf, ob ihnen dieser Job Purpose verspricht. Unternehmen, die ihre Nachhaltigkeitsaufgaben nicht gemacht haben, bekommen daher keine Talente mehr, was weder an Gehältern noch an der Attraktivität des Stammsitzes liegt.

Der zweite Wert ergibt sich mit Blick auf den Human Ressources-Markt: Immer mehr junge Menschen achten bei der Wahl ihres Arbeitgebers darauf, ob ihnen dieser Job Purpose verspricht. Unternehmen, die ihre Nachhaltigkeitsaufgaben nicht gemacht haben, bekommen daher keine Talente mehr, trotz guter Gehälter und einer hohen Attraktivität des Arbeitsortes. Ein dritter Wert ist die Resilienz, die durch die Pandemie enorm an Bedeutung gewonnen hat. Viele Unternehmen haben erkannt, dass ihr Geschäftsmodell lange nicht so gut gegen externe Schocks gewappnet ist, wie sie gedacht haben: „Da kommt so ein kleiner Virus – und schon liegt mein Geschäft am Boden.“ Die Manager erkennen daraufhin zum Beispiel, dass es nicht klug ist, ausschließlich auf preisgünstige Lieferanten aus Fernost zu setzen. Lange hat man sich diese Frage nur selten gestellt. Jetzt merkt man: Es ist sinnvoll, das zu balancieren. Aus ökonomischen Gründen. Aber eben auch mit Blick auf die Nachhaltigkeit. Stichworte: CO2-Emissionen oder auch eine mögliche Menschenrechtsproblematik.

Welche Beraterskills sind notwendig, um in diesen ja doch sehr komplexen Feldern tätig zu sein?
Ich glaube, die in diesem Bereich notwendigen Skills unterscheiden sich gar nicht so sehr von denen, die Berater*innen generell mitbringen sollten. Wir benötigen analytische Skills und müssen gut mit Menschen umgehen können. Verbindet man beides, entsteht das Vertrauen, das wir für unsere Arbeit benötigen. Und wichtig für unseren Beruf ist Erfahrung, die man sich im Laufe vieler Projekte aneignet, ein Gespür für Probleme, Herausforderungen, für Hotspots, also von Ecken, in denen das Nachhaltigkeitsproblem besonders deutlich wird. Das kann man nicht im Lehrbuch lernen, das bringt einfach die Erfahrung mit sich. Wichtig ist auch, sich in der Nachhaltigkeitsberatung der eigenen Grenzen bewusst zu sein. Wir verstehen uns zum Beispiel nicht als Prozessoptimierer von Fabrikabläufen, denn wir sind keine Ingenieure. Arbeiten wir mit Kunden zusammen, die denken, wir könnten für sie auch ihre Maschinen richtig einstellen, damit das Nachhaltigkeitsziel erreicht wird, dann sagen wir in bestimmten Fällen: Da müssen wir passen. Diese Offenheit ist wichtig. Schließlich wissen wir, was wir können – und was eben nicht.

Zum Unternehmen

In den ersten Jahren ab 1999 war das Beratungsunternehmen Systain mit Sitz in Hamburg dafür verantwortlich, für den Mutterkonzern Otto Group Beratungsexpertise in den Nachhaltigkeitsfeldern aufzubauen. Von 2003 bis 2009 entwickelt Systain hauptsächlich für Kunden aus der Textilindustrie Lösungsansätze für nachhaltige Lieferketten. Seit 2010 orientiert sich Systain hin zum faktenbasierten Nachhaltigkeitsmanagement und begleitet Kunden aus den verschiedensten Branchen, vor allem Industriekunden. Das Beratungsunternehmen entwickelt neue Methoden und Modelle, um Nachhaltigkeit als strategisch relevantes Thema in den Unternehmensstrategien von Kunden zu verankern. Dank der intensiven Entwicklungsarbeit erhielt Systain 2013 den Hamburger Consulting Preis, war 2014 beim Gewinn des CSR-Preises der Bundesregierung der Otto Group maßgeblich beteiligt und wurde 2016 mit dem More-than-a-Market-Award in China ausgezeichnet.
www.systain.com