karriereführer ingenieure 2.2019 – Green Impact: Grüne Technik, die wirkt

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Cover karrierefuehrer ingenieure 2-2019

Green Impact – Grüne Technik, die wirkt

Das Thema GreenTech tritt in eine neue Phase. Ingenieure stehen vor der Herausforderung, umsetzbare Lösungen zu finden, die Außergewöhnliches leisten und nebenbei keine weiteren Schäden verursachen. Im Zusammenspiel mit Data-Spezialisten und Ökologen werden Ingenieure damit zu Garanten einer lebenswerten Zukunft – und dürfen dabei auf Unternehmen setzen, die die Zeichen der Zeit erkannt haben. Von André Boße

Green Impact: Grüne Technik, die wirkt

Das Thema GreenTech tritt in eine neue Phase. Ingenieure stehen vor der Herausforderung, umsetzbare Lösungen zu finden, die Außergewöhnliches leisten und nebenbei keine weiteren Schäden verursachen. Im Zusammenspiel mit Data-Spezialisten und Ökologen werden Ingenieure damit zu Garanten einer lebenswerten Zukunft – und dürfen dabei auf Unternehmen setzen, die die Zeichen der Zeit erkannt haben. Von André Boße

Der blaue Planet leuchtet beachtlich grün. Zumindest tut er das auf einer besonderen Weltkarte, die das Crowther Lab auf seiner Website veröffentlicht hat. Tom Crowther ist Leiter dieser Denkfabrik, die an die ETH Zürich angedockt ist. Seit vielen Jahren denkt der 33 Jahre alte Ökologie-Professor darüber nach, wie es gelingen kann, die von Menschen verursachte Erderwärmung abzumildern – und zwar auf natürliche Art. „Inspiriert von der Natur. Angetrieben von der Wissenschaft“, lautet das Motto der Forschungsinstitution, in der unter anderem Agrar- oder Forstingenieure tätig sind. Im Juli 2019 ging das Crowther Lab mit einer Idee an die Öffentlichkeit, die für enorme Aufmerksamkeit sorgte: „Wie Bäume das Klima retten“ lautete die Überschrift der Zusammenfassung einer Studie, publiziert im Wissenschaftsmagazin „Science“. Der Ansatz: Fast eine Milliarde Hektar auf der Erdoberfläche bieten sich dafür an, sie neu oder wieder zu bewalden. Gelingt diese Aufforstung, würden die dort wachsenden Bäume zwei Drittel aller von Menschen verursachten Ausstöße an CO2 binden. Eigentlich ganz einfach. Denn Bäume zu pflanzen – das ist wirklich ein Kinderspiel.

Gute Ideen benötigen Ingenieure für die Umsetzung

Nun, ganz so simpel ist es natürlich nicht. Nicht jeder Baum an jedem Ort bindet gleich viel Treibhausgase. Zudem ist es illusorisch, dort aufzuforsten, wo Menschen leben, die Landwirtschaft betreiben oder in industriellen Betrieben arbeiten.

Crowther Lab

Auf der Website des Crowther Lab, einem Spin-off der ETH Zürich, findet sich die biografische Weltkarte der Erde, auf der sich einsehen lässt, wo und wie sinnvoll eine Aufforstung möglich ist. Die Homepage bietet darüber hinaus eine Reihe von Publikationen und Studien, die sich Lösungen widmen, die Erderwärmung mithilfe von Maßnahmen abzumildern, die Ökologie und Technik zusammendenken.

www.crowtherlab.com

All dies haben die Züricher Forscher bedacht. Auf der leuchtenden Karte auf ihrer Website weisen Crowther und sein Team Zonen aus, in denen die Aufforstung aufgrund diverser Faktoren besonders sinnvoll ist – diese Gebiete sind in ein besonders kräftiges Grün gefärbt. Grundlage für die Bewertung sind verschiedene Kategorien, die anhand von Daten erstellt werden: Wie warm oder kalt ist es in den Gebieten, wie oft friert es oder fällt Schnee, wie ist der Grad der Verdunstung? Und weiterführend: Wie ist es um die Fruchtbarkeit des Bodens bestellt, welche Rolle spielen Pilzkulturen, wie viel Stickstoff ist in den Mineralen gebunden? Alle diese Informationen spielen eine wichtige Rolle, um herauszufinden, wo das klimaregulierende Potenzial einer neuen Bewaldung besonders groß ist. Schnell zeigt sich dabei, dass die sinnvolle Wiederaufforstung der Erde alles andere als ein Kinderspiel ist. Dahinter steckt ein komplexer Ansatz, bei dem verschiedene Disziplinen kooperieren müssen: Ingenieure und Datenspezialisten, Ökologen und Biologen.

Die Wirtschaft steht vor der Aufgabe, Lösungen zu finden, um die ersten durch den Klimawandel verursachten und nicht mehr zu vermeidenden Schäden zu beheben.

Die Idee des Crowther Lab steht beispielhaft für Großprojekte, wie es sie in Zukunft einige geben wird: Gefragt sind Techniken mit möglichst großem „Green Impact“, die also positiven Einfluss auf Ökosysteme ausüben. Damit stehen wir vor einer neuen Phase von GreenTech: Bisher ging es bislang hauptsächlich darum, ökologisches Denken in Unternehmen und der Gesellschaft zu etablieren und an ersten Stellschrauben zu drehen – sei es bei der Energieeffizienz oder der Müllvermeidung. Nun steht die globale Wirtschaft vor der Aufgabe, Lösungen zu finden, um die ersten durch den Klimawandel verursachten und nicht mehr zu vermeidenden Schäden zu beheben sowie die Erderwärmung ab jetzt effektiv abzumildern. Wie man es dreht und wendet: Weder kommen dabei die Ingenieure ohne Data-Spezialisten und Ökologen aus, noch können diese auf das Know-how der Ingenieure verzichten. Die Disziplinen sind aufeinander angewiesen. Es beginnt ein neues Zeitalter der Kooperationen zwischen den Disziplinen. Und natürlich auch zwischen den Staaten.

Daten führen zu neuen Techniken

Die Herausforderung wird sein, anhand von vernetzten Daten gewonnene Informationen sowie die Kenntnisse der Ökosystem-Experten mit technischen Lösungsansätzen zu kombinieren. Mehr denn je werden Ingenieure dabei zu Akteuren, die mehr im Sinn haben, als im Unternehmen ihre Pflicht zu erfüllen. Der Einfluss von Ingenieuren auf das ökologische und soziale Wohlergehen der Welt wächst. Und zwar unabhängig davon, ob sie in der Forschung tätig sind oder in technischen Unternehmen. Gerade in diesen nimmt die soziale und ökologische Verantwortung zu – was die Unternehmen auch erkennen und die Weichen entsprechend stellen. Ein Beispiel dafür sind die Verpflichtungen zum Umweltschutz, die sich die Telekom mit ihrer „Environment Guideline“ selbst auferlegt hat. Klar, solche Richtlinien sind schnell geschrieben. Doch weil der Konzern nicht nur die Verantwortung für sein eigenes Geschäft übernimmt, sondern auch für das seiner Lieferanten, und weil er diese mit einem „Supplier Code of Conduct“ auf grüne Linie bringt, darf man durchaus erwarten, dass auf gut formulierte „Guidelines“ tatsächliche Handlungen folgen. Zumal die Telekom darüber hinaus konzernübergreifend ein Umwelt-Management-System implementiert hat und dieses von externen Auditoren zertifizieren lässt. Mit der Folge, dass für die Techniker und Ingenieure im Betrieb das ökologisch verantwortliche Vorausdenken genauso zur Voraussetzung für eine erfolgreiche Karriere wird wie ökonomisches Handeln.

Forscher von der Universität Birmingham haben herausgefunden, dass die immer wärmer werdende Welt in einen neuen Teufelskreis eintritt.

Die Vielfalt der Themen, mit denen es Ingenieure mit „Green Impact“-Fokus zu tun haben, ist enorm. Dabei geht es nicht alleine um die große Frage, wie es gelingen kann, den CO2-Ausstoß zu verringern. Viele Probleme sind sehr praktischer Natur, die Lösungen von großer Bedeutung. Forscher von der Universität Birmingham haben zum Beispiel herausgefunden, dass die immer wärmer werdende Welt in einen neuen Teufelskreis eintritt: Je heißer die Sommer werden (und zwar eben auch in bisher gemäßigten Klimazonen, zu denen auch Deutschland gehört), desto größer wird der globale Bedarf nach Kühltechnik. Wobei diese Geräte sehr viel Strom benötigen, damit das Energiesystem weiter belasten und für neue Emissionen sorgen – zumindest solange die Energiewende nicht komplett vollendet worden ist. Derzeit gibt es laut der Studie auf der Welt rund 3,6 Milliarden Kühlanlagen, bis 2050 könnte die Zahl auf 9,5 Milliarden Geräte angestiegen sein, schreiben die Forscher aus Birmingham und berufen sich dabei auf eine Prognose der Green Cooling Inititaive (GCI). Der globale Energiebedarf für Kühlung würde damit innerhalb weniger Jahre auf das Zweieinhalbfache anwachsen, von derzeit 3900 auf rund 9500 Terrawattstunden. Zum Vergleich: Die gesamte Bundesrepublik verbraucht aktuell pro Jahr rund 527 Terrawattstunden. Würde man die gesamte deutsche Autoflotte mit ihren 45 Millionen Fahrzeugen von jetzt auf gleich elektrifizieren, kämen rund 90 Terrawattstunden dazu, hat das Bundesumweltministerium kalkuliert. Bei diesen Größenordnungen zeigt sich, wie viel die Kühlanlagen in globaler Dimension an Energie fressen werden. Tendenz steigend – solange die Erderwärmung anhält.

Gefragt: Saubere Kühltechnik

Nicht alle diese Anlagen dienen jedoch dazu, uns Westeuropäern den Sommer erträglich zu machen. Überall auf der Welt hängt von der Kühlung das Überleben ab, weil sie dafür sorgt, dass Medikamente gelagert und Lebensmittel vorm Verderben geschützt werden können. Kritisch ist die Situation in besonders heißen und armen Regionen der Welt. „Noch kühlen wir verschwenderisch“, heißt es in der Studie. Um das zu ändern, bedürfe es eines „sozial-technischen Systems“, das nicht mehr fragt: Was ist technisch möglich? Sondern das sich daran orientiert, welche Technik für Umwelt und Gesellschaft überhaupt sinnvoll ist. „Wir benötigen dringend einen Zugang zu ‚Clean Cooling‘ für alle“, schließen die Forscher von der Uni Birmingham ihren Appell für „saubere Kühlung. „Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir aufhören, uns zu fragen: Wie viel Energie müssen wir generieren? Stattdessen müssen wir uns die Frage stellen: Welche Geräte benötigen wir wirklich – und wie können wir sie möglichst unschädlich ans Laufen bringen?

Initiative Klimaschutz-Unternehmen

Der Verband Klimaschutz-Unternehmen betrachtet sich als Vorreiter-Initiative von Unternehmen, die Techniken und Maßnahmen zum Klimaschutz vorleben und vorantreiben. „Uns verbinden eine gemeinsame Mission, ein wachsendes Know-how und ein kontinuierlicher Austausch“, heißt es auf der Homepage des noch recht neuen Vereins, der vom Bundesministerium für Umwelt gefördert wird. Für eine Mitgliedschaft müssen sich Unternehmen bewerben und von einem unabhängigen Expertenbeirat überprüfen lassen. Bislang haben 37 Unternehmen diese Hürde genommen.

www.klimaschutz-unternehmen.de

Paradigmenwechsel im Denken der Ingenieure

Für Ingenieure ergibt sich aus dieser Forderung ein neuer Ansatz. „Green Impact“ heißt hier auch: Nicht alles, was möglich ist, muss sinnvoll sein. Orientierungspunkt ist stattdessen der tatsächliche Bedarf einer Gesellschaft nach technischen Applikationen – verbunden mit dem Ansatz, die Kosten und Lasten mitzudenken, die diese mit Blick auf die ökologische und soziale Dimension verursachen. Das gilt übrigens im besonderen Maße für Ingenieure und Entwickler, die in grünen Branchen tätig sind. Die Nichtregierungsorganisation „Facing Finance“ engagiert sich für einen verantwortungsbewussten und nachhaltigen Umgang mit Geld. Co-finanziert von der Stiftung Umwelt und Entwicklung NRW hat sie Ende 2018 eine Studie vorgelegt, die grüne Technologien darauf untersucht, welche Rohstoffe für die Produktion verwendet werden. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass GreenTech-Lösungen häufig eine Vielzahl von Rohstoffen benötigen, deren Abbau mit sozialen und ökologischen Problemen einhergeht. „Beim Abbau und der Weiterverarbeitung fast aller für diese Technologien benötigten Rohstoffe sind Menschenrechtsverletzungen und Umweltverschmutzung ein weit verbreitetes Phänomen“, heißt es in der Studie. Die Autoren fordern daher, dass sich Hersteller grüner Technologien stärker mit ihrer Zuliefer- und Wertschöpfungskette auseinandersetzen sollten, um damit „ihrer menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht entlang des gesamten Produktionsprozesses gerecht zu werden“.

Die Protonen-Batterie bietet ein großes Potenzial, um die enorme Nachfrage nach gespeicherter elektrischer Energie zu befriedigen, ohne die Umwelt weiter zu schädigen.

Protonen-Batterie: Günstig und weniger schädlich

Gefragt seien dabei die Ingenieure in den Unternehmen: Die Hersteller grüner Technologien sollten sich bei technologischen Entwicklungen stärker auf die Nutzung umweltfreundlicher Materialien konzentrieren. Als Beispiel nennt die Studie Weiterentwicklung der Batterietechnik, ein bedeutsamer Baustein bei der Einführung von Elektromobilität. Lithium und Kobalt zählen zu kritischen Rohstoffen, die bei der Gewinnung soziale und ökologische Schäden anrichten. Eine auf Kohlenstoff und Wasser basierende Protonen- Batterie dagegen habe in dieser Hinsicht eine deutlich bessere Bilanz. Eine erste wiederaufladbare Protonen-Batterie ist übrigens vor gut einem Jahr von Elektroingenieuren an der Universität Melbourne in Australien entwickelt worden. „Die Protonen-Batterie bietet ein großes Potenzial, um die enorme Nachfrage nach gespeicherter elektrischer Energie zu befriedigen, ohne die Umwelt weiter zu schädigen. Denn der für die Batterie benötigte Kohlenstoff ist nicht nur günstig, sondern auch im Überfluss vorhanden“, sagt Professor John Andrews, der das Projekt leitet.

Eine Protonen-Batterie auf Basis von Kohlenstoff und Wasser – noch so eine vermeintlich einfache Idee mit großem Potenzial. Aber wie schon bei dem Ansatz mit den Bäumen gilt auch hier: Die eigentliche Arbeit, diesen innovativen Ansatz umzusetzen, beginnt erst noch. Junge Ingenieure können sich also über mangelnde Aufträge mit großer sozialer und ökologischer Relevanz nicht beklagen.

Der globale Green New Deal

Cover der globale Green New DealRund um den Globus kippt angesichts der drohenden Klimakatastrophe die Stimmung, und der Protest der Millennials gegen eine Politik, die ihre Zukunft zerstört, wird immer lauter. Gleichzeitig sitzt die Welt angesichts alternativer Technologien auf einer 100-Billionen- Dollar-Blase aus Investitionen in fossile Brennstoffe. Zukunftsforscher Jeremy Rifkin zeigt, wie aus dieser Konstellation die Chance auf einen Green New Deal entsteht. Er warnt vor einem unmittelbar bevorstehenden ökonomischen Kollaps unserer Zivilisation und glaubt, um das Jahr 2028 wird die Weltökonomie in eine „globale Betriebsstörung“ stürzen. Gelingt ein gemeinsamer radikaler Aufbruch in letzter Minute?

Jeremy Rifkin: Der globale Green New Deal. Campus Verlag 2019. 26,95 Euro (Werbelink)

Der Modellstadtbauer Prof. Dr. Achim Kampker im Interview

Als Universitätsprofessor und ehemaliger Geschäftsführer des Elektro- Nutzfahrzeugentwicklers Streetscooter beschäftigt sich Achim Kampker seit Jahren mit neuen Formen der Mobilität. Als er erkannte, dass noch immer zu viel geredet und zu wenig getan wird, gründete der Aachener einen Verein für Ingenieure. Das Ziel: nicht weniger als die Rettung der Welt. Dabei hilft Humanotop, das Modell einer Stadt, in der alle Ressourcen vor Ort hergestellt werden. Ein anspruchsvolles Projekt, das Ingenieuren aber auch viel Spaß an ihrer Arbeit bringen soll. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Prof. Dr. Achim Kampker ist seit April 2009 Universitätsprofessor für das Fach Produktionsmanagement in der Fakultät für Maschinenwesen der RWTH Aachen. Von 2009 bis 2013 leitete er den Lehrstuhl für Produktionsmanagement am Werkzeugmaschinenlabor WZL. Im Januar 2014 gründete er den neuen Lehrstuhl Production Engineering of E-Mobility Components (PEM). Der promovierte Maschinenbauer ist zudem Gründer und Vorsitzender des Vereins „Ingenieure retten die Erde“ sowie Mitgründer und bis April 2019 Geschäftsführer der Streetscooter GmbH. Der vierfache Vater lebt mit seiner Familie in Aachen.

Herr Prof. Kampker, steckt hinter Ihrem Verein „Ingenieure retten die Erde“ die Devise: Erst haben wir Ingenieure Techniken entwickelt, die der Welt den Schaden zugefügt haben, nun müssen wir auch dafür sorgen, diesen wieder zu beheben?
Nein, etwas differenzierter ist es schon. Es ist ja nicht so, dass die von Ingenieuren entwickelte Technik unserer Erde nur Schaden zugefügt hätte. Fest steht aber auch, dass wir Ingenieure – wie viele andere Gruppen auch – bislang unser Potenzial dessen, was wir für die Welt tun können, noch nicht eingelöst haben. Wir können mehr. Doch leider ist es bis heute so, dass wir mehr reden als handeln. Aber uns läuft die Zeit davon. Dennoch will ich eine positive Aufbruchsstimmung erreichen, denn es ist sicher klug, weder in Panik zu verfallen noch eine Anti-Stimmung zu verbreiten.

Wenn uns nun die Zeit davonläuft: Warum haben Ingenieure nicht früher auf diese Aufbruchsstimmung gedrängt?
Auch wir sind Teil des marktwirtschaftlichen Systems. Ingenieure arbeiten in Unternehmen, die technische Dinge produzieren, die sich bis heute gut verkaufen lassen. Dort sind aber auch viele andere Berufsgruppen tätig, von ihnen hat auch kaum jemand das System hinterfragt. Wenn ich meinen Appell an die Ingenieure richte, liegt es daran, dass ich selbst einer bin. Und ich möchte nicht mit dem Finger auf andere zeigen und sagen: Ihr seid schuld, ihr Konzernmanager oder Politiker. Ich versuche lieber, selbst anzupacken und die Ingenieure zu motivieren. Der Vorteil ist, dass wir Ingenieure an vielen Stellen sitzen, an denen wir die Dinge bewegen können. Wenn wir dort unseren Beitrag leisten, bin ich zuversichtlich, dass sich schnell andere anschließen.

Worauf es ankommt, ist die Entwicklung von Techniken, die dafür sorgen, dass wir weniger Ressourcen verbrauchen. Hier wird es wichtig sein, einige der Begriff e, die wir verwenden, neu zu denken.

Aufgabe der Ingenieure wird es also sein, neue Techniken zu entwickeln. Was sollte dabei im Fokus stehen: Lösungen zu finden, die die Erde retten und unsere Lebensqualität erhalten? Oder muss es einen drastischen Paradigmenwechsel geben, mit Techniken, die auch Verzicht bedeuten?
Sowohl als auch. Fest steht, dass es Änderungen geben wird – und diese fallen uns Menschen generell schwer. In der Summe sollten wir schon die Botschaft senden, dass es nicht heißen wird: Zurück in die Steinzeit. Das wäre Blödsinn. Worauf es ankommt, ist die Entwicklung von Techniken, die dafür sorgen, dass wir weniger Ressourcen verbrauchen. Hier wird es wichtig sein, einige der Begriffe, die wir verwenden, neu zu denken.

Welchen zum Beispiel?
Nehmen sie den Begriff der Freiheit in der Mobilität: Bedeutet es tatsächlich Freiheit, wenn ich in einer großen Stadt ein Auto besitze und dieses benutze, um von A nach B zu kommen? Wenn ich im innerstädtischen Stau stehe, ist mein Erleben von Freiheit in diesem Moment eher gering. Hier ist es sinnvoll, die Mobilität im urbanen Raum so zu gestalten, dass andere Verkehrsmittel wie das Fahrrad gefördert werden. Das wird der Besitzer eines noch recht neuen Dieselfahrzeugs vielleicht zunächst einmal als Rückschritt betrachten. Lässt er sich aber einmal darauf ein, wird auch er erkennen, dass er mit den ressourcenschonenden Alternativen zum Auto nicht nur gesünder und ökologischer lebt, sondern im Zweifel auch schneller unterwegs ist.

Worauf Automobilisten gerne erwidern: In der Stadt mag das funktionieren, aber für die Freiheit auf dem Land ist das Auto weiter unverzichtbar.
Auch hier sollte man sich überlegen, ob man weiter einfach vom Auto als Garanten der Mobilität ausgeht oder ob man nicht Alternativen andenkt. Zum Beispiel kann es ja auch eine Idee sein, die Dienstleistungen und Angebote so mobil zu machen, dass jemand, der auf dem Land lebt, nicht mehr so häufig in die Stadt fahren muss. Dieses neue Denken hat es aber recht schwer in diesem Land.

Warum?
Ich glaube, den Menschen fehlt es generell häufig an Fantasie. Es gibt diese Geschichte vom Ende des 19. Jahrhunderts, als den Leuten die Pferdekutschen zu langsam wurden. Auf die Frage, was sie sich denn wünschen würden, sagten sie: schnellere Pferde. Auf die Idee, dass es einmal ein Auto geben könnte, kamen sie nicht. So ist das auch heute noch. Umso wichtiger ist es, Räume zu schaffen, in denen neues Denken gefördert und die Fantasie angeregt wird, um dann neue Dinge auszuprobieren. Mit diesen Ideen mag man dann auch mal danebenliegen, aber ohne das Ausprobieren werden wir nicht auf die Lösungen kommen, die wir heute sehr dringend benötigen. Daher brauchen wir den Aufbruch – und müssen das Gefühl von Angst und den Drang, unseren Besitzstand zu sichern, aufbrechen.

Humanotop ist das Modell einer ressourcenneutralen Stadt, und zwar in allen Bereichen: Energie, Versorgung mit Lebensmitteln, Mobilität.

Sie haben mit Ihrer Modellstadt Humanotop einen solchen Ort erschaffen. Was zeichnet dieses Projekt aus?
Humanotop ist das Modell einer ressourcenneutralen Stadt, und zwar in allen Bereichen: Energie, Versorgung mit Lebensmitteln, Mobilität. Alles, was diese Stadt benötigt, wird in diesem geografischen Raum auch hergestellt. Und zwar nicht auf Kosten der Umwelt – im Gegenteil, auch eine möglichst hohe Artenvielfalt ist Ziel des Modells.

Humanotop ist also der Idealzustand. Wie lässt sich der Ansatz in Städten umsetzen, die heute noch weit von diesem Optimum entfernt sind?
Wir haben verschiedene Bausteine definiert, die dabei helfen, einzelne Bereiche in einer Stadt oder einem Viertel umzubauen. Man stülpt also nicht das ganze Modell über eine Stadt, sondern kon struiert einzelne Bereiche neu.

Welche Kompetenzen brauchen Ingenieure, um bei der Neugestaltung der Welt erfolgreich zu sein?
Vor allem müssen die Ingenieure die Veränderung wollen. Positive Emotionen sind wichtig. Dabei erreichen wir die junge Generation der Ingenieure sehr einfach, denn die müssen wir nicht lange davon überzeugen, wie wichtig es ist, den Hebel umzulegen. Die Sache ist nur: Die Zeit zu warten, bis diese Generation zum Zuge kommen wird, haben wir nicht. Daher müssen wir auch diejenigen erreichen, die mit 50 Jahren plus derzeit an den Schaltstellen sitzen.

„Ingenieure retten die Erde“

Der von Prof. Kampker gegründete Verein hat sich das Ziel gesetzt, nicht nur über die notwendigen Änderungen mit Blick auf die Erderwärmung und sonstige Umweltprobleme zu reden, sondern Taten folgen zu lassen. Offen ist er für alle, nicht nur Ingenieure. Kern der Arbeit ist die Erschaffung der Modellstadt Humanotop, in der alle benötigten Ressourcen auf dem gleichen geografischen Gebiet produziert werden. Dies betrifft insbesondere Energie Wasser und Lebensmittel, Mobilität und weitere dazu benötigte Infrastruktur, inklusive der Gebäude und Vegetation. Ein weiteres Ziel ist es, dass im Humanotop eine möglichst hohe Artenvielfalt vorkommt.

humanotop.earth

Wie können die Jungen dabei helfen, die Älteren zu begeistern?
Ich denke, es kommt auch hier auf eine positive Ansprache an. Es ist nicht sinnvoll, mit Begriffen wie Schuld zu arbeiten. Wichtiger ist es klarzumachen, dass die Erfahrungen der älteren Generation benötigt werden, um erfolgreich neu zu denken – und sich dabei weder zu verzetteln noch mit kopfloser Euphorie in die falsche Richtung zu rennen. Insofern sind gemischte Teams gut, in denen man miteinander über Lösungen nachdenkt. Und zwar nicht nur ältere und jüngere Ingenieure, sondern auch Leute aus anderen Fakultäten: Bau- und Wirtschaftsingenieure, natürlich IT-Experten, aber auch die Sozialwissenschaftler wie zum Beispiel Mobilitätsforscher, die uns davon erzählen, wie sich das Thema gesellschaftlich entwickelt.

Mit Blick auf das, was es für Ingenieure zu tun gibt: Ist die Art, wie das Fach gelehrt wird, noch zeitgemäß?
Die technischen Inhalte bleiben natürlich wichtig, aber es kommt verstärkt darauf an, dass Ingenieure eine Art Überbau beachten. So wie Ärzte den ethischen Konsens formulieren, das Leben eines Menschen zu retten, brauchen wir für Ingenieure ebenfalls eine übergeordnete Philosophie – nämlich den Erhalt der Erde. Darauf sollten wir mit allem, was wir tun, hinarbeiten.

Mehr Frauen in die Mobilitätsbranche

Die Mobilitätsbranche befindet sich im Umbruch: Die Digitalisierung lässt täglich neue Geschäftsmodelle entstehen, der Klimaschutz steht nicht nur dank der Fridays for Future- Bewegung im Fokus, und Themen wie E-Mobilität und autonomes Fahren bringen zahlreiche Herausforderungen und neue Player mit sich. Ohne hochqualifizierte, kreative und querdenkende Mitarbeiter und Führungskräfte ist dieser Wandel nicht zu bewältigen. Frauen sind dabei unverzichtbar und spielen bei der Gestaltung einer nachhaltigen Mobilität eine wichtige Rolle. Von Anke Erpenbeck, Mitgründerin des Netzwerks Women in Mobility

Laut dem Statistischen Amt der Europäischen Union (Eurostat) weist der europäische Transportsektor aktuell einen durchschnittlichen Frauenanteil von lediglich 22 Prozent auf, in Führungspositionen liegt er noch niedriger. Vorherrschende Vorstellungen von Präsenz, Macht und gelebten Managementstrukturen mit den „richtigen“ Führungskompetenzen sind insbesondere für Frauen oft wenig attraktiv.

Dies zeigte sich auch auf einer Mobilitätsveranstaltung zum Thema Multimodalität, also Vielfalt und Vernetzung der Verkehrsträger im Jahre 2015. Im Publikum und auf dem Podium war aber keine Vielfalt zu sehen. Nur sechs Frauen zählte Sophia von Berg, Doktorandin an der TU Clausthal, im Raum. Die Männerdominanz auf dieser Veranstaltung fand sie frustrierend, eine Beobachtung, die sie mit Coco Heger-Mehnert, Projektmanagerin Digital bei der VRR AöR, und Anke Erpenbeck, Marketingexpertin bei der KVB, teilte. Die Frauen waren sich einig, dass der erfrischende Diskurs unter den Frauen fortgesetzt werden sollte. Allerdings fehlte eine Plattform dafür. Also beschlossen die drei, ein Netzwerk für Frauen zu gründen: Women in Mobility.

Gründung eines Frauennetzwerks

Sie starteten das Netzwerk mit Gruppen in den sozialen Medien, die schnell anwuchsen. Den Gruppen können alle Frauen beitreten, die einen Bezug zur Mobilitätsbranche haben. Nach der Beantwortung einer Frage können sie sich mit aktuell rund 1600 Frauen online vernetzen. Zudem etablierten die Gründerinnen einen Twitter-Kanal, der über wichtige Themen des Netzwerks und der Branche informiert.

Das Netzwerk Women in Mobility hat sich zum Ziel gesetzt, den Frauenanteil in der Mobilitätsbranche zu steigern. Dafür ist eine bessere Sichtbarkeit von Frauen der Mobilitätsbranche wichtig: in Führungspositionen und Projektleitungen, als Speakerinnen auf Konferenzen oder als Expertinnen in Fachmedien. Die Mobilitäts-Netzwerkerinnen verfolgen klare Ziele: Sie möchten Vorbilder für eine Karriere in der Mobilitätsbranche sichtbar machen und mit Mentoring und Empfehlungen junge Kolleginnen bei ihrer Karriere unterstützen.

Gegenseitige Stärkung hilft den Frauen dabei, Kulturveränderungen in ihren Unternehmen anzustoßen, Führungspositionen und Projektleitungen anzustreben und wahrzunehmen. Als Speakerinnen auf Podien oder als Expertinnen in Fachmedien nehmen die Women in Mobility nicht nur Einfluss auf den Diskurs zur Zukunft der Mobilität, sondern zeigen auch jungen Frauen, die noch ganz am Anfang ihres beruflichen Lebenswegs stehen, die vielfältigen Perspektiven in der Mobilitätsbranche auf.

Wer kann dem Netzwerk beitreten?

Über alle Mobilitätssparten hinweg bietet das Netzwerk für Frauen aus Unternehmen und Start-ups, Organisationen und Verbänden, aus Medien, Wissenschaft und Politik eine Plattform zum Netzwerken, für gemeinsame Projekte, Kooperationen und Austausch mit dem Ziel, sich gegenseitig zu stärken und den Diskurs mit- und untereinander zu fördern. Besonders wichtig ist auch der Austausch und die Unterstützung von Studentinnen, zum Beispiel bei Marktforschungen im Rahmen von Bachelor- und Masterarbeiten.

Großen Wert legt das Netzwerk auf den persönlichen Austausch. Daher organisieren die Women in Mobility regionale After Work Events, sogenannte #MoveUps, bei denen sich ein Unternehmen vorstellt und das Networking durch einen Impulsvortrag oder eine Paneldiskussion ergänzt wird. Auf Stammtischtreffen, den #DineUps beziehungsweise #DrinkUps kommen interessierte Frauen in lockerer Runde abends in einem Restaurant oder einer Kneipe zusammen.

Parallel dazu gibt es bei vielen Branchenveranstaltungen MeetUps und Workshops, zum Beispiel auf der New Mobility World im Rahmen der IAA, auf dem Railway Forum, der InnoTrans, der IT Trans und dem Future Mobility Summit. Mittlerweile gibt es fünf regionale Hubs in Köln, Berlin, Hamburg, München und Nürnberg, die die regionalen Treffen organisieren. Weitere Hubs in Stuttgart und Bern stehen in den Startlöchern.

Das Highlight dieses Jahr ist der am 14. und 15. November 2019 in Frankfurt am Main stattfindende Women in Mobility Summit. Die zweitägige Veranstaltung mixt die Bausteine einer Fachkonferenz mit den interaktiven Elementen eines Barcamps. #WiMstories von Frauen aus allen Bereichen der Mobilitätsbranche wollen inspirieren und Impulse setzen, die zur weiteren Diskussion in den Networking- Pausen und Workshops anregen. #WiMsessions, die die Teilnehmer* innen des Summits selbst gestalten, bereichern die Veranstaltung mit konstruktivem Diskurs. Im Rahmen dieser Workshops werden spannende Projekte vorgestellt, praktische Erfahrungen ausgetauscht und neue Fragestellungen diskutiert. Für Student*innen gibt es ein extra Ticket-Kontingent zu vergünstigten Preisen.

Das Netzwerk Women in Mobility ist auf zahlreichen Kanälen aktiv:

www.womeninmobility.de
facebook.com
xing.com
linkedin.com
twitter.com

SeeHamster, SeeKuh und SeeElefant gegen Plastikmüll

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Günter Bolin ist ein leidenschaftlicher Segler. Auf seinen Törns durch die Weltmeere stieß der Münchner IT-Unternehmer auf immer mehr Mengen Plastikmüll. Er beschloss, sein IT-Unternehmen ruhen zu lassen und sich intensiv mit der Lösung des globalen Plastikmüllproblems zu befassen. 2011 gründete er die Umweltorganisation One Earth – One Ocean mit Sitz in München. Vor eineinhalb Jahren ist ein Büro in Kiel hinzugekommen, das ich leite.

Unser Ziel ist es, ein Konzept der „Maritimen Müllabfuhr“ zu entwickeln, um die weltweiten Gewässer vom Plastikmüll zu reinigen. Das Team bestand am Anfang aus einem Mikrobiologen, einem Schiffbaukonstrukteur, einem Metallbauer und weiteren freiwilligen Helfern. Mittlerweile kann die Organisation, die sich aus Spenden- und Sponsorengeldern finanziert, 15 Mitarbeiter für ihre Arbeit bezahlen, darunter auch eine Agrarwissenschaftlerin und eine Meeresbiologin. Wir haben auch schon mit vielen Praktikanten zusammengearbeitet, und sobald wir in größere Büroräume umziehen, werden wir weitere bezahlte Mitarbeiter und Praktikanten beschäftigen können. Wir brauchen Leute mit Ingenieur- und Logistik-Know-how. Aber auch unsere Social-Media-Auftritte wollen wir weiter professionalisieren. Später benötigen wir auch noch mehr Nautiker für unsere Schiffe.

Wir arbeiten derzeit an drei konkreten Aspekten: der Aufklärung und Bildung zum Thema Plastikmüll in den Ozeanen, der Forschung sowie der Umsetzung von technischen Lösungen zur Problembeseitigung. Wir entwerfen Schiffe und Boote, die Müll aufsammeln und recyceln sollen. Es gibt mittlerweile drei verschiedene Bootstypen: den See- Hamster, die Seekuh und den SeeElefanten. Fünf SeeHamster sind derzeit im Einsatz. Sie sind rund fünf Meter lang und zwei Meter breit. Die SeeKuh ist zwölf Meter lang und zehn Meter breit. Beide Schiffstypen werden als Sammelboote eingesetzt: die See- Hamster in Flüssen und Hafengebieten, die SeeKuh im Küstenbereich und an Flussmündungen. Der SeeElefant ist hochseetauglich und soll den gesammelten Müll verarbeiten. Für dieses größte Schiffsmodell haben wir in den vergangenen Jahren eine Machbarkeitsstudie erstellt, das Pilotsystem soll 2021 starten.

Unsere Vision: Wir wollen so viele Systeme von Sammelfahrzeugen und Verarbeitungsschiffen wie möglich etablieren, am besten vor jeder Flussmündung.

Meine Aufgabe als Schiffbauingenieur war es bei dieser Studie, für einen gebrauchten Mehrzweckfrachter ein Konzept zu schreiben, wie man den Frachter zu einem Müllverarbeitungsschiff umbauen kann. Wie werden die Logistik und der Verarbeitungsprozess ablaufen? Welche Maschinen brauchen wir dafür? Wie viel Platz muss das Schiff haben? Welches Schiff kommt dafür überhaupt infrage? Entstanden ist ein kompletter Entwurf für solch ein Schiff, inklusive eines 3-D-Modells. Bevor der SeeElefant zum Einsatz kommt, müssen wir noch Erfahrungen zusammentragen. Dazu sammeln wir derzeit mit den SeeHamstern und der SeeKuh in Asien, aber auch vor Deutschlands Küsten und demnächst in Südamerika Müll ein. Dieser wird analysiert: Wie sieht das Material aus? Welche Art von Kunststoffen finden wir? Schwimmt in Südamerika anderer Plastikmüll im Meer als in Asien? Was kann man mit dem Material machen? Nur mit diesen Erfahrungen können wir die Maschinen richtig auslegen. Theoretische Daten reichen dazu nicht aus, wir müssen sie durch reale Fänge verifizieren. Gleichzeitig suchen wir natürlich nach Investoren für den SeeElefanten, um das Projekt wirklich bis 2021 umsetzen zu können.

Mit der zweiten Generation der See-Kuh, die derzeit im Bau ist, wird der Müll in recycelbare und nicht recycelbare Stoffe aufgeteilt. Organik, zum Beispiel Algen und Muscheln, werden aussortiert und ins Meer zurückgeführt. Bisher wird der Recycling-Müll noch unsortiert an lokale Recycling-Firmen gegeben. Künftig soll der SeeElefant die Funde zu sortenreinen Kunststoffballen pressen, die an Land zu neuen Produkten verarbeitet werden können. Geplant ist auch eine Verölung direkt auf dem SeeElefanten. Wir beobachten derzeit den Markt und forschen selber an Möglichkeiten, wie man auf dem Schiff den Kunststoff in Öl zurückverwandeln kann. Das Problem bislang: Der Prozess ist sehr energieaufwendig und störungsanfällig. Für den nicht-recycelbaren Anteil an Müll, etwa Kunststoffverbunde, Netze oder Sonderstoffe, sehen wir eine thermische Anlage an Bord vor. So kann aus der Reststoff- Fraktion immerhin wertvolle Energie gewonnen werden, mit der wir unsere Sammelfahrzeuge und die Bordsysteme des SeeElefanten antreiben können.

Mehr zur Umweltorganisation
One Earth – One Ocean:
www.oneearth-oneocean.com

Unsere Vision: Wir wollen so viele Systeme von Sammelfahrzeugen und Verarbeitungsschiffen wie möglich etablieren, am besten vor jeder Flussmündung. Denn wenn erst gar kein Müll mehr ins Meer gelangt, ist schon viel geholfen. Wir wissen, dass das Ganze im Grunde eine Symptombekämpfung ist. Eigentlich müsste man viel tiefer einsteigen, bei Bildung und beim Aufbau von Abfallwirtschaftssystemen, vor allem in asiatischen Ländern. Aber diese Prozesse dauern zu lange. Wir wollen heute schon verhindern, dass weiteres Plastik in die Meere gelangt. Wenn es erst einmal ins offen Meer getrieben ist, ist es eigentlich schon zu spät.

Als Maschinenbauingenieur bei der KEYOU GmbH

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Servus! Ich bin Daniel. Am liebsten halte ich mich in den Alpen auf, im Winter zum Skifahren und im Sommer zum Wandern. Durch die Gletscherschmelze ist der fortlaufende Klimawandel deutlich erkennbar. Darum liegt meine Motivation darin, als Maschinenbauingenieur meinen Beitrag zur nachhaltigen Verkehrswende zu leisten. Das schaffen wir nur gemeinsam – also packen wir es an!

Schon während meiner Schulzeit reifte in mir der Entschluss, dass ein Studium im Maschinenbau genau das Richtige für mich ist. Meine Stärken in der Schulzeit lagen immer in den technisch-naturwissenschaftlichen Fächern. Da ich in der Nähe von Aachen aufgewachsen bin, lag es nahe, an der RWTH Aachen mein Studium zu beginnen. Im Jahr 2015 hielt ich erfolgreich meinen Abschluss als M.Sc. in den Händen. Nach dem Studium habe ich in Bayern über den externen Arbeitgeber Vispiron GmbH in der Motorenentwicklung bei BMW gearbeitet.

Der Einstieg in das Berufsleben verlief reibungslos. Hier kam mir sicherlich meine vierjährige Erfahrung als studentische Hilfskraft bei der FEV GmbH in Aachen zugute. Somit hatte ich ein Grundverständnis über die technischen Aufgabenstellungen. Mir hat die Arbeit an den Verbrennungsmotoren bei BMW viel Freude bereitet, aber durch den Abgasskandal von VW und die öffentliche Diskussion um Abgasemissionen und Klimaerwärmung wurde ich auf nachhaltigere Lösungen aufmerksam.

Zu dieser Zeit kontaktierte mich die Keyou GmbH via Xing. Hey, da ist ja ein Start-up in der Münchener Umgebung, das versucht, einen Verbrennungsmotor mit Wasserstoff am Markt zu etablieren. Für mich war das die perfekte Synergie: weiter am Verbrennungsmotor zu arbeiten, der auch noch umweltschonend ist, ohne Treibhausgasemissionen oder weitere kohlenstoffbasierte Emissionen. Somit war klar, in welche Richtung mein nächster Schritt gehen musste – the perfect match!

Der große Unterschied zwischen einem Start-up und einem Großkonzern ist, dass bei einem Start-up nicht sämtliche Experten für alle Themengebiete vorhanden sind, sondern man sich die Themengebiete selbst erarbeiten muss.

Mit dem Einstieg bei der Keyou hat für mich eine unfassbar spannende Zeit begonnen. Ich war der erste festangestellte Ingenieur. In einem kleinen Team entwickeln wir derzeit unseren ersten Wasserstoffverbrennungsmotor. Hierfür habe ich die Projektleitung und muss mich um alle Themen des Motors kümmern. Der große Unterschied zwischen einem Start-up und einem Großkonzern ist, dass bei einem Start-up nicht sämtliche Experten für alle Themengebiete vorhanden sind, sondern man sich die Themengebiete selbst erarbeiten muss. Dies ist extrem herausfordernd, aber im Umkehrschluss ist die Lernkurve extrem steil, was man so sicherlich niemals in einem Großunternehmen erleben würde.

Das spannendste Projekt ist ganz klar, unseren ersten Wasserstoffverbrennungsmotor zu entwickeln. Dass sich dieser in naher Zukunft auf der Straße etabliert und es ersten Fahrzeugen ermöglicht, klimaneutrale Mobilität auf Basis des in Verruf geratenem Verbrennungsmotors bereitzustellen, macht die Sache mehr als interessant. Der größte Spaßfaktor an meiner Arbeit liegt darin, die Zukunft mitgestalten zu können. Ebenso wie das Zusammenarbeiten mit vielen anderen Ingenieuren von Entwicklungspartnern, die uns bei der Arbeit unterstützen und unsere Vision mit Begeisterung teilen.

Ideen-Sharing Kultur-, Buch- und Linktipps

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Karte der erneuerbaren Energien

Neue Karten aus dem Verlag Diercke zeigen auf einen Blick die Energielandschaften Deutschlands: Wo konzentrieren sich in Deutschland welche erneuerbaren Energien? Es gibt Karten mit einzelnen erneuerbaren Energieträgern und den Raumstrukturen, die bei ihrer Nutzung entstehen, sowie eine Kombination und Überlagerung dieser Ebenen. Diese zeigen, dass in Abhängigkeit von den naturräumlichen und klimatischen Gegebenheiten sowie von der wirtschaftlichen Nutzung einer Region ganz unterschiedliche Energielandschaften entstanden sind. Die Karte ist online und als App erhältlich.

Erde als Modell

Foto: AdobeStock/ Brazhyk
Foto: AdobeStock/ Brazhyk

Weitere Infos: Beim Verständnis dafür, wie sich die Öko- und Klimasysteme auf der Welt gegenseitig beeinflussen, welche Folgen die Erderwärmung hat und welche technischen Lösungen wirklich nützlich sind, hilft es, die Erde als Modell zu betrachten. Das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK) bietet auf seiner Homepage eine Gratis-Broschüre, die ein unkompliziertes Potsdam Earth Model (kurz: POEM) vorstellt. Unterschieden werden dabei die Bereiche Erdatmosphäre, Wasser, Erde und Eis.

www.pik-potsdam.de

Mit VR-Brille durch den Hamburger Hafen

Foto: Discovery Dock
Foto: Discovery Dock

Was passiert eigentlich alles im Hamburger Hafen? Im Discovery Dock können Besucher auf eine Mehr Infos: virtuelle Rundreise gehen und den Hafen aus ungewohnter Perspektive erleben. Das Angebot gilt als die weltweit einzige und erste Mixed-Reality-Erlebniswelt, die einen Hafen spielerisch und interaktiv erlebbar macht. Eine 50-minütige Tour führt hinter die Kulissen: Auf ein Modell wird mit modernster Multimediatechnologie alles projiziert, was der Hafen zu bieten hat: vom Containerterminal bis zum Alten Elbtunnel, Schiffsrouten, die Köhlandbrücke. Mithilfe einer VR-Brille schlüpfen die Besucher in die Rolle eines Containerbrückenfahrers und können selbst Hand anlegen. Auch ein Trockendock der Werft Blohm+Voss wird per Virtual Reality dargestellt. Dazu gibt es zahlreiche Hintergrundfakten, um die Abläufe im Hafen zu erklären. Ein Besuch ist sicherlich nicht nur für Schiffbauingenieure spannend.

www.discovery-dock.de

Werden Flugtaxis akzeptiert?

 

Foto: AdobeStock/chesky
Foto: AdobeStock/chesky

Wie stehen die Bundesbürger zum Thema Flugtaxi, an dem sowohl Start-ups als auch etablierte Luftfahrtkonzerne derzeit verstärkt arbeiten? Das wollte der Digitalverband Bitkom wissen und befragte rund 1000 Bundesbürger ab 16 Jahren. 49 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass Flugtaxis in Zukunft alltäglich sein werden. Fast jeder zweite ist der Meinung, Flugtaxis seien eine gute Ergänzung zum öffentlichen Personen-Nahverkehr. 57 Prozent sind der Überzeugung, dass Flugtaxis vor allem auf sehr speziellen Routen eingesetzt werden, etwa vom Bahnhof zum Flughafen. Unter den Jüngeren zwischen 16 und 29 halten sogar 54 Prozent Flugtaxis für eine gute ÖPNV-Ergänzung, 61 Prozent sehen sie dabei auf sehr speziellen Routen. Allerdings geht rund jeder Zweite davon aus, dass Flugtaxis nur etwas für Reiche sein werden. 58 Prozent der über 65-Jährigen wollen, dass Flugtaxis verboten werden. Nur rund jeder dritte Befragte würde gern einmal solch ein Gefährt ausprobieren – Jüngere weit eher als Ältere.

Quelle: www.bitkom.org

Mit Digitalisierung die Welt retten

Cover Erde 5.0Wie können mithilfe der Digitalisierung die zentralen Probleme der Menschen und des Planeten – Hunger, Armut, Ungleichheit, Klimawandel und Ressourcenverschwendung – gelöst werden? Das zeigt Karl-Heinz Land, Autor, Speaker und Experte zum Thema Digitale Transformation, in seinem neuen Buch „Erde 5.0. Die Zukunft provozieren“. Er gibt Impulse für einen anderen Kapitalismus, für Sinn- und Zirkulärwirtschaft, für Bildung und ein bedingungsloses Grundeinkommen sowie eine solidarische Weltgesellschaft in der fünften industriellen Revolution. Seine Vision: Mithilfe von Technologie können wir die Welt zu einem besseren und lebenswerten Ort auf globaler Ebene umgestalten.

Karl-Heinz Land: Erde 5.0 Die Zukunft provozieren. Future Vision Press 2018. 19,80 Euro (Werbelink)

Mikrochips designen

Früh übt sich, wer ein guter Elektroingenieur werden will: Im Rahmen des Schülerwettbewerbs „Invent a Chip“ können die Schüler am Institut für Mikroelektronische Systeme (IMS) der Leibniz Universität Hannover aus erster Hand von Profis lernen, wie sie Mikrochips designen. Der Wettbewerb des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und des Technologieverbands VDE findet bereits zum 18. Mal statt, 1600 Jugendliche nehmen teil. Bis Anfang September arbeiteten zehn Teams mit Unterstützung der Profis an ihren Ideen, zum Beispiel Mikrochips für die sichere Medikamentenausgabe, für schlaue Katzenklappen und intelligente Lampen. Die besten Anwendungen werden am 28. Oktober im Rahmen des Mikrosystemtechnik-Kongresses in Berlin der Öffentlichkeit präsentiert und bei der Preisverleihung prämiert.

Mehr Infos: www.invent-a-chip.de

Das letzte Wort hat: Lasse Rheingans, Geschäftsführer Rheingans Digital Enabler

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Lasse Rheingans übernahm im Oktober 2017 eine Digitalagentur in Bielefeld mit rund zehn Mitarbeitern. Einen Monat später führte er den Fünf-Stunden-Tag ein: Arbeiten nur von 8 bis 13 Uhr, bei gleichbleibendem Gehalts- und Urlaubsanspruch. Schon in seiner vorherigen Position hatte Rheingans sich zwei Nachmittage freigenommen, um Hobbys, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Er hat dabei gemerkt: Wenn man konzentriert arbeitet, kann man seine Tagesziele auch bis mittags schaffen. Also wagte er das Experiment mit allen mittlerweile 16 Mitarbeitern seiner Agentur. Die Fragen stellte Sabine Olschner

Wie verlief der Einstieg in den Fünf-Stunden-Tag in Ihrer Agentur?
Ich habe das Team gefragt, was es von der Idee hält. Einige waren überrascht, aber keiner hat Nein gesagt. Also sind wir gemeinsam ins kalte Wasser gesprungen. Wir haben schnell gemerkt, was wir an unseren Prozessen und Arbeitsabläufen ändern müssen, damit es funktioniert. Die Qualität der Ergebnisse für den Kunden durfte natürlich nicht leiden, ebenso wenig die zugesagten Deadlines. Wir erklären unseren Kunden schon beim ersten Kontakt offen, wie wir arbeiten, das ist wichtig für die weitere Zusammenarbeit.

Gab es keinerlei Vorbehalte seitens der Mitarbeiter?
Nach anfänglicher Skepsis hat die Begeisterung schnell überwogen. Die Umstellung war harte Arbeit, wir waren plötzlich einem ganz anderen Druck ausgesetzt als früher. Aber alle haben gemeinsam nach Lösungen gesucht, weil jeder wollte, dass es funktioniert. Wäre das nicht so gewesen, hätten wir den Fünf-Stunden-Tag wieder abgeschafft. Wir sind stolz darauf, dass es bis heute gut klappt.

Was hat sich konkret in Ihrer Agentur verändert?
Jeden Freitag definieren wir gemeinsam mit dem Projektmanagement Wochenziele für die folgende Woche, daraus leiten sich die Tagesziele für jeden Einzelnen ab. Alle arbeiten sehr fokussiert und hoch konzentriert, um diese zu erreichen. Dazu haben wir Räume und Ecken geschaffen, in die sich die Mitarbeiter zurückziehen können, um in Ruhe zu arbeiten oder sich für kurze Absprachen zu treffen. Die Lautstärke im Büro wurde reduziert, manche tragen Kopfhörer für die bessere Konzentration. Handynutzung und Smalltalk wurden weitgehend abgeschafft, Meetings finden immer mit Agenda und Moderator statt, der für Effizienz sorgt. Ein Support-Team nimmt alle Kundenanrufe entgegen und bearbeitet sie weitgehend, sodass die Mitarbeiter nicht aus ihrer Arbeit herausgerissen werden. Einmal am Tag stehen sie dem Support-Team für offene Fragen zur Verfügung. Alles in allem haben wir gemerkt, dass es das Miteinander enorm fördert, wenn alle das gleiche Ziel haben: den Feierabend um 13 Uhr.

Buchtipp

Cover Die 5 Stunden RevolutionLasse Rheingans: Die 5-Stunden-Revolution. Wer Erfolg will, muss Arbeit neu denken. Campus 2019. 24,95 Euro (Werbelink)

Wie wirkt es sich auf das soziale Leben in der Agentur aus, wenn Sie kaum noch Zeit haben, miteinander zu reden?
Das ist in der Tat ein Thema, welches offen in einem unserer Team-Workshops zum Fünf-Stunden Tag angesprochen wurde: Wir brauchen mehr Team-Events, um einen Fünf-Stunden-Tag schaffbar zu machen. Warum? Weil jeder den anderen gut kennen muss, um optimal effizient zusammen arbeiten zu können.

Wie vermeiden Sie, dass es nicht doch zu längeren Arbeitszeiten kommt?
Wenn ein Kollege krank oder im Urlaub ist oder ein Projekt dringend abgeschlossen werden muss, kommt es natürlich auch mal zu Überstunden. Auch wenn jemand sein Wochenziel nicht erreicht, muss er in der nächsten Woche mehr arbeiten. Es kommt aber nie vor, dass jemand länger als acht Stunden am Tag im Büro ist. Und das ist dann ja immer noch kürzer als früher ein herkömmlicher Arbeitstag. Am Ende geht es tatsächlich nicht unbedingt um „harte fünf Stunden“. Sondern um ein Arbeitsumfeld und eine Arbeitskultur, in der optimale Ergebnisse möglich sind. Viele Studien zeigen, dass ein Acht-Stunden Tag nicht unbedingt sinnvoll ist.

karriereführer ärzte 2019.2020 – Die Zukunft der Medizin

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Cover karrierefuehrer ärzte 2019-2020

Die Zukunft der Medizin

Künstliche Intelligenz, vernetzte Daten und Big Data als DiagnoseTool: Das Potenzial der digitalisierten Transformation ist enorm. Genutzt wird es in Deutschland sehr selten, Hürden sind der Datenschutz oder eine konservative Sicht auf den Ärzteberuf. Experten sagen: Das muss sich ändern. Denn die Zukunft der Medizin werde so oder so digital sein. Zu groß sind die Vorteile für die Patienten und das gesamte Gesundheitssystem.

Weg frei für eine neue Medizin

Künstliche Intelligenz, vernetzte Daten und Big Data als DiagnoseTool: Das Potenzial der digitalisierten Transformation ist enorm. Genutzt wird es in Deutschland sehr selten, Hürden sind der Datenschutz oder eine konservative Sicht auf den Ärzteberuf. Experten sagen: Das muss sich ändern. Denn die Zukunft der Medizin werde so oder so digital sein. Zu groß sind die Vorteile für die Patienten und das gesamte Gesundheitssystem. Ein Essay von André Boße

Wie sieht sie aus, die Zukunft der Medizin? Wer im Jahr 2019 eine Arztpraxis betritt oder die Notaufnahme in einem Krankenhaus besuchen muss, wird zunächst einmal feststellen: Die Gegenwart unterscheidet sich in vielen Fällen nur wenig von der Vergangenheit. Natürlich gibt es in jedem Behandlungszimmer einen Computer, wenn auch häufig ein recht altes Modell. Selbstverständlich erfolgen Datenerfassung und Rezeptausgabe größtenteils digital. Doch von einer digitalen Revolution, wie sie andere Bereiche erfasst, ist wenig zu spüren.

Datenschutz vs. Digitalisierung der Medizin

Woran liegt das? Prof. Dr. Erwin Böttinger ist Mediziner und Leiter des Digital Health Center am Hasso-Plattner-Institut, einer Denkfabrik in Potsdam, die sich den Prozessen der digitalen Transformation widmet. Zusammen mit dem Arzt Jasper zu Putlitz hat er das Buch „Die Zukunft der Medizin“ herausgegeben, eine Sammlung von neuen Ansätzen für ein digitales Gesundheitssystem und innovative medizinische Techniken. Im Gespräch macht Erwin Böttinger deutlich, warum sich Deutschland im Gesundheitswesen mit der Digitalisierung so schwertut:

Digitalisierung: Politischer Druck

Apps auf Rezept, Online-Sprechstunden einfach nutzen und überall bei Behandlungen auf das sichere Datennetz im Gesundheitswesen zugreifen – das sind die Ziele eines „Gesetzes für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation“, das das Bundeskabinett am 10. Juli 2019 beschlossen hat. Auch bei der Einführung der elektronischen Krankenakte geht es voran: Apotheken (bis 2020) und Krankenhäuser (bis 2021) sind nun verpflichtet, sich an die dafür notwenige Telematikinfrastruktur anzuschließen. Arbeit steht mit Blick auf den Datenschutz an: Die derzeit gültigen Regulierungen zur elektronischen Krankenakte haben bereits 15 Jahre auf dem Buckel. Ein Update in Form eines neuen Datenschutzgesetzes ist nötig. Dennoch: Zum 1.1.2021 soll die elektronische Krankenakte in Deutschland eingeführt werden.

„In der Bundesrepublik gibt es einen speziellen Umgang mit Daten zu den Themen Gesundheit und Medizin. Diese besitzen eine Sonderstellung, gelten als unbedingt schützenswert. Ja, diese Daten sind sensibel. Jedoch führt diese Vorsicht dazu, dass die Digitalisierung der Medizin und des Gesundheitssystems arg ins Stocken geraten ist. Und darunter leiden die Patienten, die nicht von einer verbesserten Versorgung profitieren können.“

Im Sinne des Patienten wäre es, wenn das gesamte System einen Paradigmenwechsel erfährt: „Wir müssen weg von der standesberuflich dominierten und krankheitsorientierten Medizin, hin zu einer kundenzentrierten und personalisierten Medizin, die sich als Dienstleisterin für die Patienten versteht. Es ist nicht mehr zeitgemäß, dass die Ärzte denken, sie wüssten am besten, was gut für den Patienten ist, während dieser selbst häufig im Dunkeln tappt.“

Wann kommt die elektronische Krankenakte?

Dementsprechend fordert Erwin Böttinger eine „bürgerzentrierte Demokratisierung“ im Gesundheitswesen. Grundlage dafür seien insbesondere elektronische Patientenakten, die systematisch Daten zur Gesundheit und klinischen Versorgung von Patienten in digitalem Format sammeln: Daten wie Alter, Gewicht und weitere demografische Merkmale, dazu Informationen über verabreichte Medikamente und Allergien, den Impfstatus und Laborwerte, Vitalfunktionen und abrechnungsrelevante Informationen. Während solche digitalen Akten in vielen Ländern wie den USA langsam, aber sicher zu Standards werden, hängt Deutschland hinterher. Immerhin hat das Bundesgesundheitsministerium 2021 als Startjahr für das Projekt festgelegt (siehe Kasten).

Künstliche Intelligenz ist die Schlüsseltechnologie der Zukunft – gerade im Bereich Gesundheit.

Doch noch lagern laut Böttinger in Deutschland die Daten weiterhin in „Gesundheitsdatensilos“, die kaum vernetzt oder überhaupt vernetzbar seien: „In der Regel werden Gesundheitsdaten in der klinischen Versorgung in Krankenhaus oder Praxisinformationssystemen lokal am Ort der Gesundheitsdienstleistung auf sogenannten ‚On-premise‘-IT-Infrastrukturen vorgehalten.“ Diese „Silos“ sorgen dafür, dass digitale Zukunftstechniken zwar ihr Potenzial andeuten, aber noch kaum einsetzbar sind.

KI: Großes Potenzial liegt brach

Ein Beispiel dafür ist die Künstliche Intelligenz – kurz KI. Diese ist „die Schlüsseltechnologie der Zukunft – gerade im Bereich Gesundheit“, heißt es in einer Studie des Beratungsunternehmens PwC über „Die Revolution der Medizin“. KI könne dazu beitragen, Krankheiten früher zu erkennen, Menschen besser zu versorgen und die Gesundheitsausgaben allein in Europa in den kommenden zehn Jahren um einen dreistelligen Milliardenbetrag zu senken. Eingesetzt werden können zum Beispiel bildgebende Verfahren: „Maschinelles Lernen kann den Arzt bei der Auswertung etwa von Röntgenbildern unterstützen und sorgt so für präzisere Diagnosen.“ Technologien wie „Natural Language Processing“ sind in der Lage, Sprache zu erfassen und auf Basis von Algorithmen zu verarbeiten. „Sie helfen dem Arzt so, Entscheidungen zu treffen“, heißt es in der Studie.

KI erkennt Hautkrebs zuverlässiger

Forscher des Nationalen Centrums für Krebserkrankungen in Heidelberg (NTC) sowie des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) wollten im Rahmen einer Studie herausfinden, wer ein Melanom zuverlässiger von einem harmlosen Muttermal unterscheiden kann: renommiere Ärzte oder ein von Data-Experten und Forschern entwickelter Algorithmus. Nur sieben der insgesamt 157 beteiligten Dermatologen schnitten besser ab als der Computer, 136 kamen auf schlechtere Ergebnisse. Zwar sei das Beispiel unterkomplex und werde den tatsächlichen Herausforderungen in der Praxis nicht gerecht, jedoch zeige das Ergebnis, dass Algorithmen die „klinische Beurteilung von Hauttumoren sinnvoll ergänzen können“, sagt Jochen Sven Utikal, Leiter der Klinischen Kooperationseinheit des DKFZ.

Hinzu kommen sogenannte „Wearables“: „Bislang vor allem als Fitness-Tracker eingesetzt entwickeln sie sich zum medizinischen Instrument, etwa zur Selbstüberwachung von Werten bei chronischen Krankheiten.“ KI bietet in der Medizin also großen Mehrwert, doch bis es soweit ist, dass man diesen nutzen kann, sei der Weg steinig. Denn Künstliche Intelligenz basiert eben auf der Basis von großen Datenbeständen – und diese müssen zunächst einmal aufgebaut werden, was mit den Informationen in „Silos“ kaum möglich ist. Damit sich dies ändert, müssten daher schnell regulatorische Fragestellungen, etwa im Bereich Datenschutz, geklärt werden, fordern die Studienautoren. Dieses noch zu überwindende Hindernis ist vermutlich auch der Hauptgrund, warum laut PwC-Studie 64 Prozent der deutschen Entscheider in der Gesundheitswirtschaft zwar die Veränderungskraft von KI erkennen, aber erst 30 Prozent konkrete Schritte eingeleitet haben.

Arztprofil von morgen: Menschen führen, innovativ denken

Wie aber kann es gelingen, bei diesem Thema voranzukommen? Die Studie fordert, das Vertrauen von Ärzten in die Künstliche Intelligenz zu stärken, auch vor dem Hintergrund, dass KI überall dort, wo sie sich etabliert, die Arbeitsumfelder verändert. „Künstliche Intelligenz wird Stellen im Gesundheitswesen nicht ersetzen, aber die Stellenprofile stark verändern“, schreiben die Autoren der PwC-Studie. „Das spüren vor allem die Mitarbeiter, die sich mit der Diagnostik von Krankheiten wie Krebs und Erkrankungen aus den Fachrichtungen Neurologie und Kardiologie beschäftigen.“ Von Ärzten verlange das ein hohes Vertrauen in das intelligente Diagnosewerkzeug. „KI belohnt sie aber mit kürzeren Wartezeiten auf das Ergebnis und mehr Zeit für den einzelnen Patienten. Routineabläufe können im Gesundheitswesen künftig an lernende Computersysteme delegiert werden, während bei Mitarbeitern vor allem die Fähigkeiten gefragt sein werden, die menschliche Intelligenz erfordern: Probleme lösen, Menschen führen, Innovationen schaffen.“

Bleibt die Frage, ob die Patienten bereit sind, KI-Techniken einzusetzen oder einsetzen zu lassen – gerade beim so sensiblen Thema Gesundheit. Auch hier fragte die PwC-Studie nach und kam zu dem Ergebnis, dass „gut die Hälfte der Versicherten künftig bereit wäre, sich auf Künstliche Intelligenz in der Medizin einzulassen, knapp die Hälfte kann sich vorstellen, kleinere Eingriffe durch einen Roboter durchführen zu lassen.“ Die Bereitschaft hänge allerdings stark davon ab, wie genau und wie schnell Diagnose- und Therapieinstrumente arbeiteten. In der Akzeptanz sei zudem ein deutlicher Unterschied zwischen den Industriestaaten und Schwellenländern festzustellen: „Während Menschen in ärmeren Ländern offener für Roboter und maschinelles Lernen sind, zeigen Versicherte in reichen Ländern mit einem hoch entwickelten Gesundheitssystem mehr Skepsis.“ Umso wichtiger sei es, in Deutschland einen kontinuierlichen Austausch mit der Öffentlichkeit zu pflegen und diese von den Mehrwerten zu überzeugen – wobei es bedeutsam ist, Fragen der Ethik, der Regulierung und des Datenschutzes von Beginn an mitzudenken.

Neue Erkenntnisse in der Molekularbiologie sorgen dafür, dass Ärzte und Forscher heute viel mehr über die Entstehung von Krankheiten wissen. In den Operationssälen bieten Roboter ganz neue Möglichkeiten chirurgischer Eingriffe.

Medizin steckt voller digitaler Dynamik

Eines steht für Erwin Böttinger, Leiter des Digital Health Center am Hasso-Plattner-Institut, fest: Eine Medizin ohne digitalen Wandel wird den Anschluss verlieren: „Wir beobachten, dass gerade in allen medizinischen Bereichen enorme Fortschritte gemacht werden, in der Organisation des Gesundheitssystems genauso wie in der Forschung oder den verschiedenen Therapieansätzen.“ So sorgen neue Erkenntnisse in der Molekularbiologie dafür, dass Ärzte und Forscher heute viel mehr über die Entstehung von Krankheiten wissen. In den Operationssälen bieten Roboter ganz neue Möglichkeiten chirurgischer Eingriffe. „In der Medizin steckt sehr viel Dynamik“, sagt Böttinger. „Das alles stimmt mich optimistisch, dass es bei Krankheiten wie Alzheimer und Demenz, bei Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu wesentlichen Durchbrüchen kommen kann.“ Grundlage für diese medizinischen Fortschritte seien ebenfalls Techniken wie Künstliche Intelligenz mit ihren Deep-Learning-Verfahren, Big Data oder Robotik. „Umso wichtiger ist es, dass wir in Deutschland verstehen, dass wir uns derzeit wegen unserer übermäßigen Vorsicht beim Thema Datenschutz bewusst vom globalen Fortschritt abkoppeln“, sagt Böttinger.

Buchtipp

Cover Die Zukunft der MedizinDie Zukunft der Medizin

Der von Erwin Böttinger und Jasper zu Putlitz herausgegebene Band versteht sich als Standardwerk zu Innovationen, die Medizin und Gesundheitssystem revolutionieren. Autoren aus den Bereichen Digital und Medizin stellen in Fachbeiträgen neue Techniken vor, darunter medizinische Ansätze wie Operationen mit Genomen, Nanosystemen für die personalisierte Medizin oder Roboter-Gehhilfen. Auch auf die Informations- und Datentechnologien, die die Data-Organisation der Medizin revolutionieren sollen, werden vorgestellt.

Erwin Böttinger, Jasper zu Putlitz (Hrsg.): Die Zukunft der Medizin. Disruptive Innovationen revolutionieren Medizin und Gesundheit. ISBN-13: 978-3954663989 (Werbelink)

Am Ende der Entwicklung könnte ein neues Berufsbild des Arztes entstehen: Man geht häufig nicht mehr nur zu ihm, wenn man krank ist, sondern sucht ihn regelmäßig auf, um mit ihm gemeinsam und auf Grundlage einer Vielzahl von Daten darüber zu beraten, wie man gesund bleibt. An die Stelle einer Krankheitsdiagnose steht proaktives Gesundheitsmanagement. Ins Zentrum der Medizin rückt die Vorsorge – und zwar deutlich weitergedacht als heute, denn neben allgemeinen Ratschlägen können Arzt und Besucher individuell schauen, wie es gelingen kann, die Gesundheit zu erhalten. Das ist gut für den Patienten – und entlastet das gesamte Gesundheitssystem.

Die PwC-Studie hat bei drei Fallbeispielen durchgerechnet, wie der Einsatz Künstlicher Intelligenz Kosten vermeiden kann. So zeigten klinische Studien, dass sich bereits aus den Gesundheitsdaten von Zweijährigen ablesen lasse, wie hoch ihr Risiko für Adipositas ist. „Durch gezielte Präventionsmaßnahmen ließen sich etwa 90 Milliarden Euro in den kommenden zehn Jahren einsparen“, heißt es in der Studie. Künstliche Intelligenz ermögliche zudem die Früherkennung von Demenz mit einer Genauigkeit von 82 bis 90 Prozent. „Wird die Krankheit in einem frühen Stadium erkannt, lassen sich in den kommenden zehn Jahren rund 8 Milliarden Euro einsparen.“ Mit Blick auf den Brustkrebs ermögliche KI nicht nur die Früherkennung, sondern auch eine passgenaue Therapie. „So kann Künstliche Intelligenz voraussagen, wie ein Patient voraussichtlich auf die Chemotherapie reagiert. Das Einsparpotenzial in diesem Bereich wird für die kommenden zehn Jahre auf 74 Milliarden Euro geschätzt.“ Genau hier liege das revolutionäre Potenzial von KI-Techniken in der Medizin, wie Michael Burkhart feststellt, bei PwC Leiter des Bereichs Gesundheitswirtschaft: „Bislang standen wir immer vor einem Zielkonflikt: entweder die Versorgungsqualität zu verbessern oder die Kosten für die Versicherten zu senken. KI macht beides zugleich möglich.“ Die Sache rechnet sich also – weshalb sich Einsteiger auf eine digital geprägte Zukunft einstellen dürfen.

Krebsforscher Prof. Dr. Dr. Guy Ungerechts im Interview

Wie viel wissen wir heute über die vielen verschiedenen Krebserkrankungen? Und welche neuen Ansätze gibt es, die Chancen für Patienten zu verbessern? Prof. Dr. Dr. Guy Ungerechts ist leitender Oberarzt am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg. Im Gespräch verrät er, wie Viren im Kampf gegen den Krebs helfen können und warum er die Doppelbelastung aus Klinikalltag und Krebsforschung für sich positiv bewertet. Die Fragen stellte André Bosse.

Zur Person

Prof. Dr. Dr. Guy Ungerechts (46) ist leitender Oberarzt am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg und leitet die Klinische Kooperationseinheit Virotherapie am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ). In präklinischen Studien konnten Ungerechts und sein Team um Laborleiterin Dr. Dr. Christine Engeland erfolgreich nachweisen, dass onkolytische Masernviren, die von Impfstammviren abgeleitet wurden, gezielt Krebszellen vernichten können. Darüber hinaus ist Prof. Ungerechts außerordentlicher Professor an der University of Ottawa und Affiliated Investigator am Ottawa Hospital Research Institute (OHRI) in Kanada.

Herr Prof. Ungerechts, Krebs gilt heute als Volkskrankheit. Müsste man beim Krebs aber nicht vielmehr von einer ganzen Reihe verschiedener Volkskrankheiten sprechen?
Das ist richtig, denn den einen Krebs gibt es im Grunde gar nicht. Wir reden vielmehr von Hunderten sehr unterschiedlichen Erkrankungen, die jeweils nach ihren eigenen Therapiekonzepten verlangen. Gemeinsam haben alle Krebserkrankungen eine maligne Transformation von Zellen. Jedoch entsteht diese bei den verschiedenen Krebsarten aus unterschiedlichen Ursprüngen und beinhaltet zum Teil auch ganz unterschiedliche Mechanismen.

Was zur Folge hat, dass die Frage, wann Krebs heilbar sein wird, wenig zielführend ist.
Periodisch und gerne dann, wenn sich neue Therapieansätze durchsetzen, vermelden die Medien hoffnungsvoll, der große Durchbruch sei gelungen oder stehe kurz bevor. Wir müssen mit solchen Meldungen aber vorsichtig sein. Dafür ist die Erkrankung eben einfach zu heterogen.

Was weiß die moderne Medizin denn heute über die verschiedenen Krebserkrankungen? Kommen die Ärzte mit großen Schritten voran oder tappt man in vielen Fällen noch im Dunkeln, was die Entstehung und die Therapie betrifft?
Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass das Wissen rapide zunimmt, übrigens nicht nur in der Krebsforschung, sondern in vielen medizinischen Bereichen. Das entscheidende Stichwort ist dabei die Vernetzung. Relevante Informationen sind heute deutlich schneller greifbar als noch vor einigen Jahren. Dadurch ergibt sich wiederum die Herausforderung, aus der Fülle an Informationen diejenigen herauszugreifen, die wirklich von Bedeutung sind.

Woraus ergibt sich denn diese große Informationsmenge?
Eben aus der Heterogenität der Krebserkrankungen. Im Grunde bringt jeder Patient eine individuelle Geschichte mit, er besitzt sozusagen eine eigene Krebsidentität. Diese hängt von sehr vielen Faktoren ab, sodass es wichtig ist, dass die medizinischen Teams interdisziplinär zusammenarbeiten – und zwar nicht nur der Chirurg mit dem Onkologen: Gerade Bioinformatiker und Datenspezialisten sind wichtig, damit die Menge an Daten begreifbar und nutzbar wird.

Relevante Informationen sind heute deutlich schneller greifbar als noch vor einigen Jahren. dadurch ergibt sich wiederum die Herausforderung, aus der Fülle an Informationen diejenigen herauszugreifen, die wirklich von Bedeutung sind.

Damit wird die Krebsforschung zu einem echten Digitalthema.
Aus diesem Grund gibt es Konsortien wie zum Beispiel „Cancer Core Europe“, die das Ziel haben, Daten zu sammeln und so aufzubereiten, dass sie in der Medizin optimal im Sinne des Patienten eingesetzt werden können.

Am NCT forschen Sie an der Virotherapie und machen dabei beachtliche Fortschritte. Wie genau können Viren dabei helfen, bestimmte Krebserkrankungen zu besiegen?
Die Idee basiert auf der Beobachtung, dass bestimmte Viren, die einen Krebspatienten infizieren, einen günstigen Einfluss auf den Verlauf der Tumorentwicklung nehmen können. Grund dafür ist, dass sich eine Reihe von Viren – darunter Masern- oder Pockenviren – besonders gut und gerne in maligne transformierten Zellen vermehren. Vor allem deshalb, weil diese Viren in gesunden Zellen stärker bekämpft werden. Von Natur aus bietet das Krebsgewebe also besonders gute Wirtszellen für Viren. Daraus folgen zwei Ansätze, erstens können die Viren durch eine Infektion des Tumors die Zahl der Krebszellen selbst reduzieren. Vielleicht noch bedeutsamer ist der zweite Effekt, dass durch die Infektion des Krebsgewebes dort tumorspezifische Antigene sehr effektiv präsentiert werden. Noch wissen wir recht wenig über diese Antigene, was wir aber erkennen, ist, dass durch ihre Entstehung im Kontext der viralen Infektion das Immunsystem mit Blick auf den Tumor wieder aufmerksamer wird.

Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass das Wissen rapide zunimmt, übrigens nicht nur in der Krebsforschung, sondern in vielen medizinischen Bereichen.

Die Antigene alarmieren sozusagen das Immunsystem.
Genau, sie wecken es auf, wenn man so will. Es ist ja so, dass in einem menschlichen Körper täglich maligne Zellen entstehen, die nur deshalb nicht zu einer manifesten Tumorerkrankung auswachsen, weil sie vom Immunsystem erfolgreich erkannt und bekämpft werden. Bei Krebspatienten ist also eine Toleranz eingetreten: Bei ihnen toleriert das Immunsystem die Vermehrung von Krebszellen. Die durch die Viren hervorgerufenen Antigene sind möglicherweise in der Lage, diese Toleranz zu durchbrechen, sodass das Immunsystem den Kampf gegen die malignen Zellen wieder erfolgreich führen kann.

Was zeichnet die Viren aus, die Sie für diese Therapie nutzen?
Wir arbeiten im Grunde mit einem onkolytischen Masernvirus, das auch bei der Masernimpfung eingesetzt wird. Wir gehen aber noch weiter, in dem wir die Viren im Labor gentechnisch verändern. Wir pflanzen zum Beispiel das Erbgut bestimmter sogenannter Checkpoint-Antikörper ein, die nicht den Krebs direkt bekämpfen, sondern Immunzellen des Patienten aktivieren, die dann besonders effektiv gegen den Tumor ankämpfen. Wobei es dabei die infizierten Krebszellen selbst sind, die dieses Erbgut auslesen und damit dafür sorgen, dass sich die Antikörper genau dort verbreiten, wo sie im Sinne des Patienten wirken. Ziel dieser Idee ist es also, das Immunsystem immer weiter anzustacheln. Wenn man so will versuchen wir, dafür zu sorgen, dass der Fuß von der Bremse genommen wird.

Die Grundannahme lautet also: Der menschliche Körper ist selbst in der Lage, den Krebs zu besiegen.
Mit Blick auf bestimmte Krebserkrankungen, ja. Eine positive Folge kann sein, dass die Therapie weniger toxisch ist. Die Viren gehen gezielt in das maligne Gewebe. Und nur dort werden die Antikörper oder andere Immunmodulatoren dann gebildet.

Was mir hilft, ist sowohl in der Klinik als auch in der Forschung tätig zu sein. Ich will weder das eine noch das andere missen.

Als Onkologe und Krebsforscher werden Sie beide Seiten kennen: Gescheiterte Therapien bei Patienten und unheilbare Krebsarten auf der einen Seite, die Hoffnung auf neue Ansätze auf der anderen. Wie gelingt Ihnen die Balance?
Man sollte sich als Einsteiger keine falschen Vorstellungen machen: Die Arbeit und die Erfahrungen im Bereich der medizinischen Onkologie bleiben nicht einfach im Kittel hängen. Im Kontakt mit den Patienten geht es sehr häufig um die ganz existenziellen Dinge, nicht wenige von ihnen werden in wenigen Wochen versterben. Es ist also ein Beruf, der zwangsläufig mit der Periode am Ende eines Lebens zu tun hat. Das ist in anderen medizinischen Bereichen zum Teil deutlich anders. Deshalb ist es wichtig, sich vorab zu überlegen: Ist das was für mich? Wobei man diese Frage wahrscheinlich erst dann beantworten kann, wenn man eine Zeit lang in diesem Bereich tätig gewesen ist. Das PJ im Studium gibt zum Beispiel eine erste Ahnung, danach sollte man unbedingt in sich hineinhorchen.

Was hören Sie, wenn Sie in sich hineinhorchen?
Was mir hilft, ist sowohl in der Klinik als auch in der Forschung tätig zu sein. Ich will weder das eine noch das andere missen. Klar, es handelt sich um eine Doppelbelastung, und es ist anstrengend, nach einem Tag in der Klinik abends noch ein Laborseminar zu geben oder an einem Paper zu arbeiten. Ich persönlich empfinde das jedoch als positiv. Ich denke, ich hätte größere Probleme mit der klinischen Onkologie, wenn ich nicht regelmäßig in der Forschung das Gefühl bekommen würde, an potenziell positiven Veränderungen mitzuarbeiten. Mit ganz kleinen Schritten arbeiten wir im Labor daran, die Situation zumindest einiger Patienten in der Zukunft ein bisschen besser zu machen. Gelingt uns das auch nur bei einem oder zweien, hat sich die Arbeit schon gelohnt. Diese Perspektive gibt Hoffnung und Kraft, was mir im klinischen Alltag sehr hilft und die vermeintliche Doppelbelastung für mich mehr als aufwiegt.

 

Nationales Centrum für Tumorerkrankungen

Das NTC Heidelberg ist eine gemeinsame Einrichtung des Universitätsklinikums Heidelberg (UKHD), des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg und der Deutschen Krebshilfe. Ziel des NCT ist es, vielversprechende Ansätze aus der Krebsforschung möglichst schnell in die Klinik zu übertragen. Dieses gilt sowohl für die Diagnose als auch die Behandlung sowie in der Nachsorge oder der Prävention. In der Tumorambulanz profitieren die Patienten von einem individuellen Therapieplan, den fachübergreifende Expertenrunden, die sogenannten Tumorboards, erstellen. Die Teilnahme an klinischen Studien eröffnet den Zugang zu innovativen Therapien.

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Die Karrierewege von Ärzten

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Die ärztliche Ausbildung beginnt mit einem Hochschulstudium. Aber wie es nach dem Universitätsabschluss weitergeht, ist oft nicht klar. Welche Karrierewege warten und worauf Absolventen achten müssen, zeigt die Deutsche Apotheker- und Ärztebank in ihrem Karrierekompass. Der „karriereführer ärzte“ greift die wichtigsten Punkte auf.

Assistenzärzte in Weiterbildung

Nach ihrer Approbation stehen „Assistenzärzten in Weiterbildung“ zwei Wege offen: Sie können sich im Krankenhaus oder in ärztlichen Praxen anstellen lassen. In dieser Zeit unterstützen sie bei der Betreuung und der Behandlung von Patienten, übernehmen allgemeine Dokumentationen oder helfen bei Operationen.

Facharzt

Nach der Facharztausbildung heißt es erneut, sich zwischen stationär oder ambulant zu entscheiden. Bei der stationären Laufbahn arbeiten Fachärzte als Assistenzärzte in Krankenhäusern oder ambulanten Praxen. Sie assistieren bei Operationen und übernehmen die Betreuung und Behandlung der Patienten auf der Station oder in der Praxis. Ihr Eintrittsalter liegt im Durchschnitt bei Ende 20.

Oberarzt

Zwischen 30 und 35 Jahren liegt das durchschnittliche Alter der stationären Oberärzte. Sie führen Operationen und komplexe Behandlungen durch und haben dank der täglichen Stationsarbeit einen intensiven Patientenkontakt. Außerdem sind sie für die Ausbildung der Assistenzärzte zuständig. Sie tragen Führungsverantwortung und unterstehen dem zuständigen Chefarzt. Je nach Größe der Station teilt ein Oberarzt sich die Verantwortung mit weiteren Oberärzten. Der leitende Oberarzt übernimmt wie alle anderen Oberärzte in einem Krankenhaus die Durchführung von Operationen und komplexeren Behandlungen. Oberärzte haben den Facharzttitel, oft auch mit Schwerpunktqualifikation, und können, wenn sie leitende Oberärzte sind, mehrere Jahre Berufserfahrung vorweisen. Sie übernehmen dann auch die strategische Organisation der Station und die Vertretung des Chefarztes. Alle Oberärzte haben Dokumentationspflichten, müssen Dienstund Urlaubspläne erstellen und haben Budget- und Controllingaufgaben. Der leitende Oberarzt leistet außerdem Rufbereitschaft und trägt noch mehr Personalverantwortung.

Chefarzt

Auch der Chefarzt verfügt über den Facharzttitel, mehrjährige Berufserfahrung, er kann wirtschaftliche Kenntnisse vorweisen und hat in der Regel promoviert. Das Eintrittsalter als Chefarzt in einem Krankenhaus liegt durchschnittlich zwischen 35 und 49 Jahren. Er ist für die Beratung und Kontrolle der Stations-(ober-)ärzte verantwortlich, übernimmt komplexe Operationen und die Behandlung von Privatpatienten.

Ambulante Laufbahn von Ärzten in einer Einzelpraxis

Schlagen Ärzte eine ambulante Berufslaufbahn ein, verfügen sie einerseits über eine hohe medizinische Freiheit, sind aber häufig einem Praxisinhaber unterstellt, der die Personal-, Raum- und Gerätekosten trägt.

Ambulante Laufbahn von Ärzten in Kooperationen

Wenn Ärzte in Kooperationen zusammenarbeiten, ergeben sich drei Arten von Anstellungsverhältnissen: eine Berufsausübungsgemeinschaft (BAG), ein medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) und Jobsharing. Angestellte Ärzte können außerdem eine Anstellung in einer Berufsausübungsgemeinschaft (BAG), im Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) oder im Jobsharing finden.

Ausführlichere Informationen zu den Karrierewege in den Heilberufen finden sich auf der Webseite der Deutschen Apotheker- und Ärztebank.