Lass alles raus, was in Dir steckt

Um Potentiale zu entfalten braucht es kleine, überschaubare Gemeinschaften, deren Mitglieder sich zugehörig, geborgen und sicher fühlen. Sie begegnen einander auf eine ermutigende und inspirierende Weise und wachsen gemeinsam über sich hinaus. Solche Gemeinschaften vereint die Akademie für Potentialentfaltung, AfP. Dr.-Ing. Martina Dressel ist seit der Gründung im Jahr 2015 Mitglied – in ihrem Gastartikel gibt sie Impulse, wie Berufseinsteiger ihr Potential entdecken und entfalten können.

In einem winzigen Apfelkern steckt großes Potential: Aus ihm kann ein großer Baum wachsen, der ein schattiges Plätzchen bietet und jedes Jahr saftige, gesunde Früchte trägt. Dazu müssen jedoch bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden: Passende Bedingungen zum Keimen, der richtige Boden, genug Licht und Wasser um wachsen zu können, und natürlich Pflege. Ähnlich ist es auch für uns Menschen: Wir möchten unser einzigartiges Potential entdecken, entfalten und zum Tragen bringen. Hier einige Impulse, die dazu beitragen können:

Hören Sie auf, Erwartungen anderer erfüllen zu wollen

Warum? Weil es niemandem gelingt. Weder Sie schaffen es, den Erwartungen anderer zu 100 Prozent gerecht zu werden, noch umgekehrt. Kein Mensch, nicht einmal Ihr Liebster oder Ihre Liebste, sind in der Lage, alle Ihre Erwartungen zu erfüllen. Sowohl Schuldgefühle als auch Schuldzuweisungen sind also fehl am Platz. Was dann? Geben Sie stets Ihr Bestes. Tun Sie es, unabhängig davon, ob Sie an einem Wettrennen, einem Wettkampf oder an einem Turnier teilnehmen. Geben Sie Ihr Bestes auch dann, wenn keine Prüfung ansteht, wenn weder ein Termin noch ein Chef Druck machen. Das setzt voraus, dass Sie vital sind, körperlich und mental stark, gut vorbereitet, fachlich sattelfest und alle Aktivitäten mit Freude, Hingabe und Leidenschaft ausführen. Verbinden Sie damit die Absicht, anderen Nutzen zu schaffen und weniger das Bedürfnis nach Applaus. Sobald Ihr volles Potential zum Tragen kommt, gehört Beifall wie selbstverständlich zu Ihrem Leben.

Lassen Sie es sein, andere zu kopieren

Sie ignorieren sonst Ihr einzigartiges Potential, das eines Genies. Es geht nicht um Nachahmung, sondern darum, die volle Tiefe Ihres Potentials zu erforschen. Jeder von uns ist ein Unikat! Entdecken Sie Ihr Alleinstellungsmerkmal. Suchen Sie dann eine Umgebung, die dafür optimale Wachstumsbedingungen bietet (analog zum Apfelbäumchen). Ein klares Ausschlusskriterium ist eine Umgebung, die Ihnen einreden will, dass Sie „erst noch in Ordnung gebracht werden müssen“. Solange Sie niemandem schaden, sind Sie so, wie Sie sind, völlig in Ordnung. Seien Sie allerdings offen, zu wachsen. Das kann bedeuten, viel zu arbeiten. Sie empfinden es jedoch niemals als harte Arbeit – und Vorsicht: falls doch, sind Sie auf einem Holzweg! Sie nehmen wahr, was gebraucht wird, übernehmen Verantwortung und erledigen sämtliche Tätigkeiten mit Freude und Hingabe. Praktische Erfahrungen, so schmerzhaft sie auch ausfallen können, sind wertvoller als alle Ratgeberliteratur. Es gibt ihn nicht, „den einen Weg“ für alle. Haben Sie Mut, ausgetretene Pfade zu verlassen, unabhängig davon, was andere sagen oder für „normal“ erklären.

Was genau macht Sie einzigartig?

Beantworten Sie dazu drei Fragen. Beziehen Sie auch Rückmeldungen anderer ein.

  • Leidenschaft Was tun Sie voller Freude? Wobei vergessen Sie die Zeit? Wobei hüpft Ihr Herz?
  • Leistung Worin sind Sie richtig gut? Was geht Ihnen auffallend leicht von der Hand? Was gelingt Ihnen in zwei Stunden, wo andere zwanzig benötigen? Nehmen wir an, es gäbe dafür Olympische Spiele. Sie trauen sich zu, in dieser Disziplin eine Medaille zu gewinnen.
  • Wertschöpfung Womit können Sie anderen großen Nutzen schaffen, eine Wertschöpfung generieren, die diese anerkennen und adäquat vergüten? Finden Sie den Bereich, an dem die drei Teilmengen sich überschneiden.

Es geht im Leben nicht darum, besser zu sein als andere, sondern darum, sein einzigartiges Potential zur vollen Blüte zu bringen, zum Nutzen von uns allen.

www.akademiefuerpotentialentfaltung.org

Das letzte Wort hat: Sophia Langner, Historikerin und Autorin

Die Autorin von „Die Herrin der Lettern“ ist promovierte Historikerin und nutzt das Pseudonym Sophia Langner. Sie hat in Köln Geschichte, Germanistik und Anglistik studiert, anschließend ging sie an die University of St. Andrews/Schottland, wo sie nach der Promotion mehrere Jahre unterrichtet und in einem internationalen Projekt zum europäischen Buchdruck geforscht hat. Seit 2018 ist sie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz tätig. Die Fragen stellte Kerstin Neurohr

Foto: Sophia Langner
Foto: Sophia Langner

Frau Langer, Ihr Roman „Die Herrin der Lettern“ spielt 1554 in Tübingen. Womit hat die Protagonistin Magdalena Morhart am meisten zu kämpfen?
Magdalena Morhart muss sich in einem der schwersten Gewerbe der frühen Neuzeit behaupten: Beim Buchdruck kann eine Fehlentscheidung, zum Beispiel eine zu hohe Auflage, schnell den finanziellen Ruin bedeuten. Als Frau hatte sie keine Ausbildung, das waren erschwerte Voraussetzungen für eine erfolgreiche Leitung des Betriebes. Doch sie musste durchhalten, sonst hätten sie und ihre jüngeren Kinder ins Armenhaus gemusst. Zudem gab es hohe Konkurrenz im Druckgeschäft, die politischen Verhältnisse waren instabil – Stichwort Reformation – und es gab eine schwere Pestwelle.

Eine Reise in die Vergangenheit: Was würden Sie Magdalena Morhart fragen, wenn Sie ihr persönlich begegnen würden?
Eine Reise ins 16. Jahrhundert wäre äußerst spannend und es fallen mir sehr viele Fragen an Magdalena Morhart ein. Hat sie es zum Beispiel bereut, während der schweren Pestwelle weiterhin in Tübingen zu bleiben, obwohl bereits alle Professoren und Studenten aus der Universitätsstadt vor der Pest geflohen waren? Und wie bewertet sie abschließend ihre Publikationsentscheidungen – gab es Bücher, die sie leider aus Mangel an Mitteln nicht drucken konnte?

Was können Berufseinsteigerinnen von Magdalena Morhart lernen?
Um nur ein Beispiel zu nennen: Im Roman bietet sich Magdalena Morhart mehrmals die Gelegenheit, die Druckerei zu verkaufen und somit ein leichteres Leben zu führen. Doch die Angebote liegen weit unter dem wahren Wert der Druckerei. Also bleibt Magdalena Morhart standhaft und verkauft sich – und die Druckerei – nicht unter Wert. Sie weiß, dass ihre Bücher eine höhere Qualität als die ihrer Konkurrenten auszeichnet. Daher lernt sie im Verlauf des Romans selbstbewusster zu agieren.

Was hat Sie als Historikerin dazu bewogen, einen Roman zu schreiben?
Viele Frauen spielten eine wichtige Rolle in den Buchdruckereien von damals. Einige von ihnen leiteten die Betriebe sogar selbstständig und zudem sehr erfolgreich. Doch dies ist selbst Experten kaum bekannt. Ich habe jahrelang zu Magdalena Morhart geforscht, viele neue Quellen gefunden und internationale Vorträge gehalten, wobei ich immer auf großes Interesse gestoßen bin. Daher wollte ich diese Erfolgsgeschichte auch einem größeren Publikum näherbringen.

In welcher Rolle sind Sie persönlich eher auf Widerstände gestoßen, als Wissenschaftlerin oder Autorin?
Anfänglich wurde meine Autorität von einigen Studenten nicht ganz anerkannt. Während meiner Promotion an der University of St. Andrews habe ich allerdings erfreut festgestellt, dass sich immer mehr internationale Wissenschaftlerinnen untereinander vernetzen, Karriere-Tipps austauschen und sich gegenseitig auch in solchen Fällen unterstützen. Diese Entwicklung hat auch in Deutschland zugenommen und wird durch die neuen Medien zusätzlich begünstigt.

Besser so! Weiter so!

Die Frauen steigen auf – und zwar manchmal anders als gedacht. Als Aktivistinnen starten sie Bewegungen, im Management machen sie Unternehmen kreativer, attraktiver, innovativer. Wer sich der Gender-Vielfalt heute noch entgegengestellt, verhindert eine positive Entwicklung – und wird schon bald vom Markt und vom Kunden dafür abgestraft. Von André Boße

„Frauen, steigt auf!“ – so stand es auf dem Titelbild des karriereführer frauen in führungspositionen vor knapp zehn Jahren. Was seitdem passiert ist? Nun ja, die Kanzlerin ist noch immer Kanzlerin (zumindest bei Redaktionsschluss). Und auch weiterhin dürfen Frauen in der katholischen Kirche keine Priesterweihe empfangen. Aber das war es dann auch schon mit den Dingen, die sich nicht gewandelt haben. An vielen anderen Stellen hingegen gab es in der vergangenen Dekade eine Menge Veränderungen.

Pionierinnen durchbrechen Mauern

Manchmal reden wir dabei von einzelnen Frauen, die eine sehr dicke Mauer durchbrochen haben. Fangen wir beim Fußball an, die Schiedsrichterin Bibiana Steinhaus leitet seit September 2017 als erste Frau und absolut tadellos Bundesligaspiele, Imke Wübbenhorst stieg Anfang 2019 als Trainerin bei einer höherklassigen Männermannschaft ein, Dagmar Baumgärtner ist seit 2015 Präsidentin des fünftklassigen Fußballklubs VFC Plauen. Diese Frauen sind drei Pionierinnen unter vielen – und weitere werden folgen. Wie negativ es mittlerweile auffällt, wenn geschlechtliche Diversität ignoriert wird, bekam Fritz Keller Präsident des Deutschen Fußballbundes DFB, Ende Februar zu spüren: Im Aktuellen Sportstudio zeigte ihm die Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein ein Foto des aktuellen DFB-Vorstandes: 17 Männer, eine Frau, Silke Raml, zuständig für Frauen- und Mädchenfußball. „Das wird sich ändern“, stammelte Keller verlegen. Hoffentlich. Er wird sich daran messen lassen müssen. Denn dieses Vorstandsbild mit den vielen grauen Anzügen wirkte so zeitgemäß wie ein Telefon mit Wählscheibe.

Frau verdient mehr als Mann? Geht auch!

Und noch eine Premiere: Jennifer Morgan ist seit 2019 Co-CEO von SAP und damit die erste Frau, die ein DAX-Unternehmen leitet. Morgan übernimmt die Position als Teil einer Doppelspitze zusammen mit Christian Klein, interessant hierbei: Jennifer Morgan verdient etwas mehr als ihr männlicher Vorstandskollege. Das hat zwar nichts mit einem umgedrehten Gender-Gap zu tun, sondern mit anderen Versorgungszahlungen, dennoch: Die Nachricht, dass eine Co-Chefin mehr verdient als der Co-Chef, ist in der Welt und zeigt: So geht es auch.

Führungs-Frauen-Floskel-Bingo

Männer, die ihre Domänen verteidigen, tun das häufig mit Floskeln. Die AllBright-Stiftung hat die meistgehörten in einen Führungs-Frauen-Floskel-Bingo zusammengestellt, zusammen mit dem Ratschlag: „Ergeben seine Antworten eine ganze Bingo-Reihe, sollten Sie sich unbedingt nach einem anderen Arbeitgeber umsehen – egal, ob Sie ein Mann sind oder eine Frau“. Einige der Floskeln lauten: „Dieser Gender-Hype wird sich auch wieder legen“, „Frauen sind eben keine guten Netzwerker“, „Bei uns spielt das Geschlecht keine Rolle, was zählt ist die Qualifikation“, „Dass Frauen im Unternehmen diskriminiert werden, habe ich noch nie erlebt“.

www.allbright-stiftung.de/bingo

Bemerkenswert ist auch, wie selbstverständlich bei der letztjährigen strategischen Personalverschiebung auf den mächtigsten politischen Posten in Europa die Frauen auf besondere Positionen gekommen sind. Ursula von der Leyen leitet die EU-Kommission, Christine Lagarde die Europäische Zentralbank (EZB), Teil des neuen Direktoriums der EZB ist seit Anfang 2020 Isabel Schnabel, das zentrale Ressort „Marktoperationen“ hat sie von ihrer Vorgängerin Sabine Lautenschläger übernommen: Das zeigt, dass es Kernbereiche in ehemaligen Männerdomänen (und das Zentralbankgeschäft war eine solche) gibt, die heute fortlaufend von weiblichen Verantwortlichen besetzt werden.

Aktivistinnen bewegen die Welt

Grundlegend ist darüber hinaus ein Phänomen, das derzeit abseits der Chefsessel und Machtpositionen zu beobachten ist: Die junge Generation stellt die Art, wie gesellschaftliche, ökonomische und politische Debatten geführt werden, auf den Kopf. Besonders beim Thema Klimawandel. Initiiert und geführt werden diese Bewegungen von jungen Frauen, von Greta Thunberg und ihrer „Fridays for Future“-Bewegung, in Deutschland von der Klima-Aktivistin Luisa Neubauer. Und eine besonders eindrucksvolle Stimme bei der Schwester-Bewegung „Scientists for Future“ ist die promovierte Chemikerin, YouTuberin und Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim. Moment – ist es um sie nicht zuletzt ein bisschen ruhig geworden? Ja, stimmt. Mai-Thi ist nämlich zum ersten Mal Mutter geworden. Deshalb hat sie auf auch auf YouTube eine Pause eingelegt – will aber selbstverständlich bald wieder einsteigen, und zwar ohne Angst, in der Zwischenzeit an Followern oder Relevanz verloren zu haben.

Ein weiterer Name, der zuletzt die Welt bewegt hat: Alexandria Ocasio-Cortez von der amerikanischen Demokratischen Partei, 30 Jahre alt, Kurzform: AOC. Als junge Politikerin hat sie im Kongress gehörig Wind gegen die Politik und das Gehabe des Präsidenten gemacht, in die Partei kam sie als Quereinsteigerin, die nicht brav den quälenden Weg durch die Gremien ging, sondern – ganz im Sinne der Aktivistinnen – über ihr Engagement nach oben kam. Gläserne Decken in der US-Politik? Gibt es viele. Aber AOC hatte genügend Wucht und Inhalte, um sie zu umgehen. Und wenn sie Gegenwind spürt, weil ihre direkte und unkonventionelle Art, politisch zu kommunizieren, provoziert?  Reagiert sie auf Twitter sehr souverän und abgeklärt. Nicht einmal Facebook-Chef Mark Zuckerberg konnte da mithalten: Bei dessen Anhörung im US-Kongress brachte AOC ihn im Herbst 2019 gehörig ins Schwitzen, sie unterbrach ihn, wenn er zu schwafeln begann, fragte scharf nach, wenn es nötig war.

Junge Generation erwartet Diversität

„Mächtig weiblich“ lautete die Überschrift eines Dossiers des Handelsblatts, das mit Blick zurück auf 2019 das „Jahr der Frauen“ ausgerufen hatte. Schon ein paar Wochen zuvor hatten sich im Handelsblatt Wiebke Andersen und Christian Berg, Geschäftsführer der AllBright-Stiftung, in einem Gastbeitrag für mehr Diversität in den Führungspositionen der Unternehmen eingesetzt. „Die öffentliche Wahrnehmung in Deutschland hat sich verändert“, schrieben die beiden, „vor allem die junge Generation erwartet heute, dass Unternehmen für Chancengleichheit und Diversität ebenso Sorge tragen wie für Nachhaltigkeit.

Kreativer, innovativer, attraktiver

Eine Studie der Internationalen Arbeitsorganisation ILO aus dem Jahr 2019 belegt, in wie vielen Bereichen Frauen in Führungspositionen einem Unternehmen helfen. Mehr als 57 Prozent der 12.000 global befragten Unternehmen bestätigten, dass Gender Diversity die Business Performance verbessert. Rund zwei Drittel der Unternehmen, die über ein aktives Monitoring-System für Geschlechtervielfalt in Führungspositionen verfügen, konnte die Gewinne steigern- Fast 57 Prozent der befragten Unternehmen gaben an, eine Verbesserung bei der Akquise und Unternehmensbindung von Fachkräften zu verzeichnen. Mehr als 54 Prozent berichteten über firmeninterne Performancesteigerungen in den Bereichen Kreativität, Innovation und unternehmerischer Offenheit. Zugleich verbessere sich laut Selbsteinschätzung die Außenwirkung des Unternehmens.

www.ilo.org

Frauen im Topmanagement gelten als gute Indikatoren für die Veränderungsfähigkeit von Unternehmen und für eine gesunde Unternehmenskultur. Das zieht junge Talente an, Männer wie Frauen. An Führungsteams festzuhalten, die nur aus mittelalten männlichen Wirtschaftswissenschaftlern aus Westdeutschland bestehen, ist keine zukunftsfähige Strategie.“ Die Veränderung komme spät in Deutschland, aber sie komme unaufhaltsam – und sie werde nun Fahrt aufnehmen: „Die hervorragend ausgebildeten Frauen sind da, Gelegenheit für Neubesetzungen gibt es reichlich. Mit einer einfachen Alibi-Frau im Vorstand wird es bald nicht mehr getan sein.“

Frauen fördern? Befördern wäre besser!

Drei Parteien können laut Wiebke Andersen und Christian Berg einen Beitrag dazu leisten –wobei die Frauen selbst dabei nicht genannt werden. Denn dass die Frauen es können und wollen – das stehe außer Frage. Im Fokus stehen daher vielmehr erstens die Unternehmen, die Frauen in der Führung weniger als Problem, mehr als Chance und ungenutztes Potential betrachten sollten. Der Appell: „Aufhören, Frauen immer nur zu fördern, um sie stattdessen einfach zu befördern.“ Zweitens verlangen Andersen und Berg von der Politik, konsequent die Weichen zu stellen, zum Beispiel, indem sie das Ehegattensplitting in seiner jetzigen Form abschaffe, zusätzliche „Vätermonate“ beim Elterngeld einführe und im Öffentlichen Dienst „vorbildhaft einen Frauenanteil von 40 Prozent in den Führungspositionen durchsetzt“. Der dritte und vielleicht schlagkräftigste Bereich sei die „kritische Öffentlichkeit, die ihre Macht nutzt, Chancengleichheit in den Unternehmen einfordert und ihre Arbeitsplatzwahl und ihr Konsumverhalten daran ausrichtet, wie es beispielsweise schon bei Nachhaltigkeit geschehen ist“.

Diversitäts-Siegel auf Produkten

Wer heute bewusst nachhaltig konsumieren möchte, achtet beim Einkauf auf die diversen Siegel und Zertifizierungen. Folgt man dem Gedanken von Wiebke Andersen und Christian Berg, wären für Produkte und Dienstleistungen auch „Diversität“-Zertifikate denkbar, als Kennzeichen dafür, dass hinter der Entwicklung und Produktion eines Produkts oder einer Dienstleistung Vielfalt steckt. Dieses Siegel sollte aber nicht dazu dienen, das Gewissen des Konsumenten zu beruhigen. Diversität ist schließlich ein Wert, der direkt auf die Qualität einwirkt. Weil nämlich eine Vielfalt der Beteiligten zu einer Vielfalt der Perspektiven führt – und diese dafür sorgt, dass das Resultat robuster und durchdachter ist. Das ist keine These, sondern wird durch Studien belegt.

„Delivering Through Diversity“ ist der Titel einer internationalen McKinsey-Untersuchung, die sich auf ein simples Ergebnis herunterbrechen lässt: „Je diverser, desto erfolgreicher“. Unternehmen, die sich durch einen hohen Grad an Diversität auszeichneten, hätten eine größere Wahrscheinlichkeit, überdurchschnittlich profitabel zu sein. Besonders groß sei dieser Zusammenhang beim Frauenanteil im Topmanagement – also im Vorstand plus zwei bis drei Ebenen darunter. „Unternehmen, die hier besonders gut abschneiden, haben eine 21 Prozent größere Wahrscheinlichkeit, überdurchschnittlich erfolgreich zu sein“, heißt es in der Studie. In Deutschland sei der Effekt besonders deutlich: Bei deutschen Unternehmen mit einem hohen Anteil weiblicher Führungskräfte im Topmanagement verdoppele sich die Wahrscheinlichkeit eines überdurchschnittlichen Geschäftserfolgs sogar.

„Der Zusammenhang zwischen Vielfalt im Management und Geschäftserfolg ist real“, kommentiert Julia Sperling, Partnerin bei McKinsey und als Medizinerin und Neurowissenschaftlerin besonders im Bereich Healthcare Systems tätig. „Die Förderung von Talenten mit unterschiedlichen Hintergründen, Männer wie Frauen, unterschiedliche Ethnien und wissenschaftliche Hintergründe, ist damit sowohl eine Frage der Gerechtigkeit als auch eine Business-Priorität.“

Alle, wirklich alle Parameter sprechen also dafür, dass dieser Weg weder zu Ende ist, noch dass er gestoppt werden kann. Mögen die Männer ihre vermeintlichen Domänen schützen, wie sie wollen: Vor zehn Jahren hieß es „Frauen, steigt auf!“. Heute sagen wir „Frauen, macht weiter so!“ In wiederum zehn Jahren werden wir eine noch viel diversere Welt haben – und uns verwundert fragen, wieso es nicht schon viel früher so gender-gerecht zugegangen ist.

Buchtipp: Die letzten Tagen des Patriarchats

Neben Sophie Passmanns Buch „Alte weiße Männer“ zählt Margarete Stokowskis Buch „Die letzten Tage des Patriarchats“ zu den meistdiskutierten Veröffentlichungen der letzten Zeit. Während Sophie Passmann in ihrem „Schlichtungsversuch“ die Männer reden lässt und selbst beobachtet (und wiederum ihre Beobachtungen notiert), zeigt sich Stokowski in ihren Analysen kämpferischer: In zehn Kapiteln sammelt sie kurze Texte über „Feminismus“ und „Männer“, „Bekloppte Zustände“ und „Gewalt“. Am Ende ergibt sich eine Sprache eines „neuen Feminismus“, der lacht und provoziert, wettert und trauert.

Margarete Stokowski: Die letzten Tage des Patriarchats. Rowohlt 2018. 12 Euro. (Amazon-Werbelink)

karriereführer recht 1.2020 – Mit Recht die Welt verbessern

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Cover karriereführer recht 1-2020

Mit Recht die Welt verbessern

Wenn die junge Juristengeneration heute an Karriere denkt, geht es nicht nur um Geld und Statussymbole. Die Sinnhaftigkeit des Tuns nimmt an Bedeutung zu, gerade mit Blick auf die dringenden globalen Themen. Wollen Kanzleien für die Top-Talente attraktiv sein, müssen sie darauf reagieren. In den Fokus geraten dabei Mandate, die ethischen Standards entsprechen und nachhaltige Entwicklung fördern.

Kanzlei-Karriere: Mit Sinn und Verstand

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Wenn die junge Juristengeneration heute an Karriere denkt, geht es nicht nur um Geld und Statussymbole. Die Sinnhaftigkeit des Tuns nimmt an Bedeutung zu, gerade mit Blick auf die dringenden globalen Themen. Wollen Kanzleien für die Top-Talente attraktiv sein, müssen sie darauf reagieren. In den Fokus geraten dabei Mandate, die ethischen Standards entsprechen und nachhaltige Entwicklung fördern. Ein Essay von André Boße

Wenn Kanzleien heute nach hervorragendem Nachwuchs suchen, dann bewerben sich diese Talente nicht bei den potenziellen Arbeitgebern. Eher läuft es so: „Typischerweise bewerben wir uns um die besten Nachwuchstalente. Wir müssen als attraktiver Arbeitgeber die jungen Talente überzeugen“, sagt Dr. Tim Odendahl. Der Anwalt ist Partner bei der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft Ebner Stolz in Köln, dort für die Bereiche M&A, Gesellschaftsrecht und Nachfolgeplanung zuständig. In den Gesprächen mit jungen Kandidaten hat er vor einiger Zeit eine Veränderung festgestellt: „Die Frage der Nachhaltigkeit wird immer häufiger in den Gesprächen thematisiert.“ Ein besonders wichtiger Punkt sei dabei die nachhaltige Ausrichtung der juristischen Tätigkeit in der Kanzlei. „Wobei“, sagt Tim Odendahl, „sich Nachhaltigkeit nicht nur auf Umweltaspekte, sondern auch auf soziale Aspekte wie Diversity, Work-Life-Balance oder Pro-Bono-Tätigkeiten für Non-Profit-Organisationen bezieht.“

Der Nachwuchs will zwar auch weiterhin Karriere machen und gutes Geld verdienen, aber nicht um jeden Preis. Dafür bitte: mit Sinn.

Konkret hatte sich dieses neue Bewusstsein zuletzt auf einer Bewerbermesse an der juristischen Fakultät der Universität Köln gezeigt, wie Tim Odendahl erzählt. Dort wurde er von Interessierten gefragt, inwieweit die Kanzlei Ebner Stolz papierlos arbeite. „Wer hier keine authentische und überzeugende Antwort liefern kann, hat im Rennen um die besten Talente heute keine Chance mehr.“ Dr. Jörg Schneider-Brodtmann, Partner der Stuttgarter Kanzlei Menold Bezler, bestätigt, dass sich Bewerber heute mit neuen Themen beschäftigen. „Noch vor ein paar Jahren hat kaum ein junger Jurist im Bewerbungsprozess nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder nach alternativen Karrieremodellen gefragt. Inzwischen sind diese Fragen Standard, und als Kanzlei stellen wir uns längst darauf ein.“

Spaß und Sinn wichtiger als Geld

Umwelt und Soziales, Ressourcenschonung und Klimaschutz – durch das, was jungen Juristinnen und Juristen heute mit Blick auf ihre Karriere wichtig ist, ergibt sich ein neues Bild: Der Nachwuchs will zwar auch weiterhin Karriere machen und gutes Geld verdienen, aber nicht um jeden Preis. Dafür bitte: mit Sinn. Belegt wird diese Entwicklung von den aktuellen Zahlen des Trendence Absolventenbarometers 2020, das die Wünsche und Bedürfnisse junger Juristen analysiert. An Bedeutung gewonnen hat dabei neben der Innovationskraft des Arbeitgebers auch dessen ethischer Anspruch: „Das Wechselspiel von Gewinnstreben und moralischen Idealen wird kritischer betrachtet, was zum allgemeinen Trend in der Gesellschaft passt“, heißt es in der Zusammenfassung der Studie. Dieser Punkt zeige sich insbesondere bei Frauen.

Absolventenbarometer: Weniger Arbeit gewünscht

Sind junge Juristen in den Beruf eingestiegen, steigt bei ihnen der Wunsch nach mehr Freizeit und finanziellen Möglichkeiten, um diese Zeit entsprechend nutzen zu können. Zu diesem Ergebnis kommt das Trendence Absolventenbarometer 2020: Seit 2017 sank die Wunscharbeitszeit bei Referendaren und Volljuristen jährlich um etwa eine Stunde, die Erwartung an das Gehalt stieg dagegen von 2018 auf 2020. „Hier wird ein gesellschaftliches Umdenken sichtbar, in dem Arbeit nicht mehr den Stellenwert genießt wie noch vor wenigen Jahren“, sagt Trendence-Geschäftsführer Robindro Ullah. „Arbeitgeber, die diesen Trend anerkennen und berücksichtigen, können nachhaltig punkten.“

Fragt man die junge Juristen-Generation nach ihrer Definition, was für sie im Job „persönlicher Erfolg“ bedeutet, belegt die Antwort „Schaffen von Sinnvollem“ Rang zwei – so wichtig war dieser Aspekt beim Absolventenbarometer noch nie. Darüber steht auf Platz eins lediglich noch der Spaß an der Arbeit. Zwei Dinge sind bemerkenswert: Erstens ist der Aspekt „ein hohes Einkommen“ auf Rang fünf zurückgefallen, zweitens unterscheiden sich bei diesen Einschätzungen Juristen von Bewerbern aus den Wirtschaftswissenschaften: Hier liegt das hohe Einkommen weiterhin auf Platz zwei.

Was bedeutet dieser Wandel für die Kanzleien? „Es ist Zeit für ein Umdenken“, heißt es in der Zusammenfassung der Ergebnisse des Absolventenbarometers. Wer als Arbeitgeber seine Attraktivität steigern möchte, müsse sich dem Kulturwandel stellen – „und wenn er bereits erfolgt sein sollte, ist eine von dieser Kultur geprägte Kommunikation unerlässlich.“ Heißt konkret: Es reicht heute nicht mehr aus, verlässliche und finanziell lohnende Karrieren sowie spannende Einstiegsmöglichkeiten zu bieten. Gefragt ist auch, über das „Warum“ zu erzählen: „Warum sollte ich in Ihrer Kanzlei anfangen, und was kann ich damit Sinnvolles bewirken?“, nennt Trendence-Geschäftsführer Robindro Ullah die zwei entscheidenden Fragen.

Nachhaltigkeit bestimmt Mandate

Worauf sich Kanzleien heute zudem gefasst machen sollten: Auf klare Fragen zur Sinnhaftigkeit von Mandaten. „Verantwortungsvolle, langfristig denkende Juristen haben sicher schon immer ihre Mandate ganzheitlich beurteilt, nicht nur nach dem monetären Erfolg“, ordnet Jörg Schneider-Brodtmann, Partner bei Menold Bezler, ein. „Wir erleben im Moment aber, dass sich die junge Generation besonders intensiv mit der Zukunft unseres Planeten beschäftigt. Das mag über kurz oder lang auch in die Beratung hineinspielen. “Hinzu komme, dass es auch jenseits der rechtlichen Grenzen ethische Maßstäbe gibt, die es zu achten gelte. „Ich denke da nur an die sogenannte Cum-Ex-Thematik, bei der Wirtschaftsanwälte eine unrühmliche Rolle gespielt haben“, sagt Jörg Schneider-Brodtmann.

Was treibt Unternehmen an?

Allein durch Profit angetrieben zu sein, funktioniert laut dem Anbieter von Fachinformationen, Software und Services Wolters Kluwer heute nicht mehr. Immer häufiger reife die Erkenntnis, dass wir sinnstiftend handeln müssen und dass wir alle Mitglieder derselben globalen Gemeinschaft sind. Der Purpose unterstütze uns dabei, einige grundlegende Fragen über unser Rolle in dieser Gesellschaft zu beantworten. Warum existieren wir als Unternehmen überhaupt? Wo ist unser Platz in der Gesellschaft? Was tragen wir zum Wohlergehen unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, unserer Kundinnen und Kunden und der Welt insgesamt bei? Weitere Infos unter: www.wolterskluwer.de

Tim Odendahl von Ebner Stolz bestätigt die nachhaltigen Auswirkungen dieses schließlich öffentlich gemachten organisierten und milliardenschweren Steuerbetrugs: „Im Steuerrecht hat die Erfahrung des Cum-Ex-Skandals gezeigt, wie gefährlich eine wirklichkeitsfremde aggressive Optimierungsberatung sein kann.“ Es sei damals vorgekommen, dass die Kanzlei eine solche Cum-Ex-Beratung abgelehnt habe – „teilweise damals zur Verärgerung mancher Mandanten, die uns heute danken“. Die Debatte mit den Cum-Ex-Fällen wirkt in der Kanzlei bis heute noch, sagt Tim Odendahl: „Die Auseinandersetzungen damit haben tatsächlich unseren Blick auf die Mandate noch einmal geschärft: Wie ethisch vertretbar ist eine bestimmte Gestaltung und kann sich der Wind gegebenenfalls drehen?“

Dass sich beim Blick auf die Ethik die Ansprüche der jüngeren und älteren Generation unterscheiden, erlebt man nicht nur bei der Debatte um „Fridays For Future“: Auch in der anwaltlichen Praxis komme es zu ethisch orientierten Generationenkonflikten, sagt Tim Odendahl. Zum Beispiel bei der Nachfolgeberatung in Familienunternehmen: „Teilweise akzeptieren neue Generationen bestimmte Beteiligungen der Familienholding, etwa in der Kohle- oder Waffenindustrie, nicht mehr.“ In diesen Fällen geht es explizit nicht um juristische, sondern um ethische Argumente – wobei sich das mit Zunahme der Regularien sowie steigenden Risiken bei ethisch kritischen Beteiligungen ändern kann.

Für Jörg Schneider- Brodtmann von Menold Bezler gewinnt daher die Kompetenz an Bedeutung, für den Mandanten ein Berater auf Augenhöhe zu sein, mit Verständnis für sein Anliegen und einen Blick auf nachhaltige Lösungen. „Anwälte müssen sich flexibel auf ihr Gegenüber und dessen Anforderungen einstellen und sich selbst manchmal mehr zurücknehmen. Ich glaube, das fiel früheren Anwaltsgenerationen noch etwas schwerer als jungen Kollegen heute.“

Mit Recht die Welt verbessern

Immer, wenn sich Gesellschaften mit ihren Infrastrukturen und Techniken wandeln, rücken neue Rechtsfragen auf die Agenda. Kanzleien sind dann gefragt, mit ihrem juristischen Know-how Entwicklungen zu prüfen und voranzubringen – wobei der Fokus heute mehr denn je auf Ansätze gerichtet ist, die Nachhaltigkeit fördern und gegen Ungleichheiten ankämpfen. Im Kern steht dabei die Frage, inwieweit das Recht eine globale nachhaltige Entwicklung fördern sollte, insbesondere beim Kampf gegen die Erderwärmung.

Völkerrechtsblog

Der Völkerrechtsblog versteht sich als eine internationale Plattform für Beiträge zu Fragen des internationalen öffentlichen Rechts und der internationalen Rechtswissenschaft. Die Initiative zur Gründung entstand im Rahmen des Arbeitskreises junger Völkerrechtswissenschaftler* innen (AjV). Der Schwerpunkt der Einträge und Diskussionen liegt dabei auf Themen, die sich mit dem Kampf gegen den Klimawandel und globale Fragen der sozialen Gerechtigkeit beschäftigen. Der Blog ist somit auch ein Forum, das zeigt, welchen Beitrag Juristen zu einer nachhaltigen Entwicklung leisten können.

www.voelkerrechtsblog.org

Wie das in der Praxis ausschaut, zeigt ein Mandat der Kanzlei Kümmerlein aus dem Ruhrgebiet, die als Projektmanager für die Planung von Stromtrassen tätig ist. „Als Projektmanager stehen wir hier im Lager der Genehmigungsbehörde und unterstützen diese dabei, eine rechtmäßige Entscheidung über ein beantragtes Projekt zu treffen“, sagt Dr. Michael Neupert, Partner bei Kümmerlein mit den Schwerpunkten Öffentliches Wirtschaftsrecht, Umwelt- und Planungsrecht sowie Baurecht. Die Anwälte sind bei diesem Mandat nicht beliehen, „das heißt, die Verantwortung für die Entscheidung bleibt bei der Behörde“, präzisiert Neupert. „Unser Job besteht darin, das Material, das im Laufe eines solchen Verfahrens zusammenkommt so zu strukturieren und aufzubereiten, dass die Behördenmitarbeiter schneller und zielgerichteter zu den Fragen kommen, über die sie entscheiden müssen.“

Schließlich dauerten die Genehmigungsverfahren häufig deshalb so lange, weil ihr Volumen so groß ist: „Da kommen schnell einmal ein paar Dutzend Aktenordner Antragsunterlagen, Stellungnahmen, Einwendungen und Gutachten zusammen. Das muss alles im Planfeststellungsbeschluss verarbeitet werden, der wiederum alle möglichen Rechtsgebiete von Abfall- bis zum Wasserrecht betrachten muss und am Ende schnell 500 Seiten dick sein kann.“ Dabei legen die Juristen der Behörde kein fertiges Werk auf den Tisch, sodass die nur noch entscheiden muss. „Wir stehen zeitweise in beinahe permanentem Austausch mit der Behörde.“ Auch der Draht zum Projektträger ist eng, um Nachfragen zu klären oder Präzisierungen vorzunehmen. Neupert sagt: „Letztlich arbeiten also alle Beteiligten gemeinsam an dem Ziel, ein Projekt rechtssicher zu verwirklichen.“

Sinn fördert Zufriedenheit

Stellt sich die Frage, ob einer Juristin oder einem Juristen Tätigkeiten mit Sinn tatsächlich mehr erfüllen. „Man darf sich nichts vormachen: Anwalt zu sein, ist ein stressiger Beruf“, stellt Michael Neupert von Kümmerlein klar. „Und dieser Stress ist erst einmal nicht deshalb geringer, weil ein Projekt zur Energiewende oder sonst einem ‚guten‘ Zweck dient.“ Zudem sollte Juristen ohnehin klar sein, dass man auch diese Themen häufig von zwei Seiten betrachten könne. Der Ausbau der Erneuerbaren Energien sei dafür ein gutes Beispiel, „denn wir sehen, dass Windenergieanlagen durchaus umstritten sind.“ Dennoch: Ihm persönlich gefalle es, als Jurist Nachhaltigkeit zu fördern. „Mir fällt das berufliche Tun leichter, wenn sich dieses Vorhaben in eine große gesellschaftliche Entwicklung einfügt und in diesem Sinne ein ‚Zukunftsprojekt‘ ist“, sagt Neupert.

Sämtliche dieser jungen Unternehmen formulieren mittlerweile die Förderung der Nachhaltigkeit als Haupt-, mindestens aber als Nebenzweck, kein Businessplan kommt heute ohne die Erläuterung des positiven Einflusses der Geschäftsidee auf die Umwelt aus. (Tim Odendahl)

An solchen Zukunftsprojekten arbeiten insbesondere viele junge Firmen, Tim Odendahl von Ebner Stolz berät solche Start-Ups als Jurist. „Sämtliche dieser jungen Unternehmen formulieren mittlerweile die Förderung der Nachhaltigkeit als Haupt-, mindestens aber als Nebenzweck“, sagt der Partner, „kein Businessplan kommt heute ohne die Erläuterung des positiven Einflusses der Geschäftsidee auf die Umwelt aus.“ Was den Juristen dabei begeistert? „Wenn man Kollegen von neuen Mandanten erzählt – und vor den Umsatzzahlen oder dem Deal-Volumen erst einmal vom CO2-Einsparvolumen berichtet.“ Keine Frage: Hier verschiebt sich etwas. Das tut gut. Und das ist sinnvoll.

Buchtipp

Eine Generation, die lange Zeit als unpolitisch belächelt wurde, steht auf, organisiert Proteste, an denen landesweit Hunderttausende und weltweit Millionen teilnehmen. Angesichts schwindender Ressourcen und globaler Vermüllung stellen sie die Forderung nach nachhaltigem Klima- und Umweltschutz. Acht Autoren und Aktivisten, Mitglieder des Jugendrates Generationen Stiftung, warnen nicht nur vor den Gefahren, denen sich die heutigen 14- bis 25-Jährigen ausgesetzt sehen. In genau recherchierten Beiträgen, die mit den Erkenntnissen anerkannter Wissenschaftler abgeglichen sind, stellen sie konkrete Forderungen, nehmen uns alle in die Verantwortung und entwerfen eine Vision, die die Kraft hat, Generationen zu vereinen. Mit einem Vorwort von Harald Lesch. Der Jugendrat der Generationenstiftung, Claudia Langer (Hrsg.): Ihr habt keinen Plan, darum machen wir einen! Blessing 2019, 12 Euro. (Amazon-Werbelink)

Der Robot-Rechtler Prof. Dr. Dr. Eric Hilgendorf im Interview

Eric Hilgendorf ist Jura-Professor in Würzburg, wo er die Forschungsstelle „RobotRecht“ leitet, eine Denkfabrik, die sich mit den juristischen Folgen der Digitalisierung und Automatisierung beschäftigt. Dabei hat der promovierte Philosoph immer auch die größeren Zusammenhänge im Blick. Wie fit also ist das Recht mit Blick auf die Folgen der Digitalisierung? Hilgendorf sagt, es sei gut gerüstet – und entwickele sich auch im Zeitalter der digitalen Revolution Schritt für Schritt. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Prof. Dr. Dr. Eric Hilgendorf, geboren 1960 in Stuttgart, studierte Philosophie, Neuere Geschichte und Rechtswissenschaft in Tübingen. Die Promotion zum Doktor der Philosophie absolvierte er mit einer Arbeit über „Argumentation in der Jurisprudenz“, die juristische Promotion mit einer Untersuchung über die „Strafrechtliche Produzentenhaftung in der Risikogesellschaft“. Die Arbeit wurde mit dem Preis der Reinhold und Maria-Teufel- Stiftung ausgezeichnet. 1996 folgte die Habilitation für die Fächer Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie mit der Publikation „Zur Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Werturteilen im Strafrecht“. Seit dem Sommersemester 1997 ist er Professor für Strafrecht und Nebengebiete in Konstanz, seit dem Sommersemester 2001 Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtstheorie, Informationsrecht und Rechtsinformatik an der Universität Würzburg. Dort leitet er die Forschungsstelle „RobotRecht“.

Herr Prof. Hilgendorf, wer künftig in einem autonom fahrenden Auto unterwegs ist, könnte denken, dass ihn die Autonomie der Maschine auch aus der Verantwortung entlässt. Warum ist das aus juristischer Sicht ein falscher Gedanke?
Grundsätzlich kann derjenige haften, der vorsätzlich oder fahrlässig eine Ursache für einen Schaden setzt. Wer zum Beispiel weiß, dass sein autonom fahrendes Fahrzeug einen gefährlichen Defekt aufweist, trotzdem das Fahrzeug in Gang setzt und so einen Schaden verursacht, der haftet sowohl zivil- als auch strafrechtlich. Noch deutlicher ist die Situation bei der Halter-Haftung: Der Halter wird zur Verantwortung gezogen, ganz unabhängig davon, welchen Autonomiegrad sein Fahrzeug besitzt. Für das Haftungsrecht besitzen die verschiedenen Autonomiegrade von Fahrzeugen also nur eine geringe Bedeutung.

Rechtsphilosophisch betrachtet: Können Maschinen überhaupt eine Schuld tragen oder eine Verantwortung besitzen?
Nach dem in unserer Kultur entwickelten Schuldverständnis können Maschinen nicht schuldhaft handeln, weil wir „Schuld“ – übrigens ein hochgradig unbestimmter Begriff – mit Vorstellungen wie „freiem Willen“ und „Person“ verbinden. Andere Kulturen, zum Beispiel die asiatische, aber auch die afrikanische, tun sich hier leichter: Wenn man das Konzept „Verantwortung“ nicht analog zum Konzept der „Schuld“ bestimmt, sondern nur als „Zuständigkeit für die Kompensation eines Schadens“ versteht, könnte der Gesetzgeber auch Maschinen zu Subjekten von Verantwortung erheben. Er hat dies bei bestimmten Personenverbänden, den „juristischen Personen“, auch bereits schon getan, obwohl diese „juristische Personen“ streng genommen keine individuelle Schuld auf sich laden können. Der Gesetzgeber ist bei der Festlegung von Verantwortung weitgehend frei, und insbesondere ist er nicht an philosophische Vorstellungen von „personalen Akteuren“, „freiem Willen“ und ähnlichen Begriffen gebunden. Das bedeutet natürlich nicht, dass diese philosophischen Debatten nicht auch für die Gesetzgebung von großem Interesse sind.

Es dürfte in den kommenden Jahren zu vielen Präzedenzfällen kommen, in denen entschieden werden muss, wer welchen Anteil der Schuld an Unfällen mit autonom handelnden Systemen hält. Sind die Gerichte und Anwälte darauf vorbereitet und ist die Gesetzeslage darauf vorbereitet?
Durch die Einführung der Paragraphen 1a und 1b des Straßenverkehrsgesetzes hat der Gesetzgeber eine solide Basis für das automatisierte Fahren geschaffen. Meines Erachtens sind die meisten Fragen auf der Grundlage des gegebenen Rechts zu beantworten. Ich traue deshalb der juristischen Praxis zu, mit den allermeisten Problemen fertig zu werden. Es wird natürlich auch neue Problemlagen geben, etwa im Zusammenhang mit selbstlernenden Systemen – und diese werden den Gesetzgeber herausfordern. Insgesamt glaube ich aber, dass wir mit dem geltenden Recht gut zurechtkommen werden.

Maschinen werden nicht müde, sie sind nicht aggressiv – und sie wollen auch nicht ihrer Freundin imponieren.

Sie sprechen bei autonom fahrenden Autos von „geborenen Opfern“. Was meinen Sie damit?
Die Fahrzeuge sind so programmiert, dass sie die Gefährdung von Menschen strikt vermeiden. Genau das kann aber auch missbraucht werden, zum Beispiel, indem man vom Gehweg aus die Hand in den Straßenverkehr reckt: Das mit leistungsstarken Sensoren ausgestattete autonome Fahrzeug wird dann anhalten. Damit ist jeder Form von Schabernack Tür und Tor geöffnet.

Warum sind sie dennoch ein Verfechter der autonom fahrenden Autos?
Vielleicht sollte man nicht gleich von autonomen Fahrzeugen sprechen, sondern vom Fahren mit mehr und mehr autonomen Funktionen. Automatisierte Brems- und Ausweichsysteme, um nur zwei Beispiele zu nennen, werden den Verkehr sicherer machen. Man sollte nicht vergessen, dass ein Großteil der Unfälle auf menschliche Fehler zurückzuführen ist. Maschinen werden nicht müde, sie sind nicht aggressiv – und sie wollen auch nicht ihrer Freundin imponieren. Vollständig autonom fahrende Fahrzeuge wird es zwar in Deutschlands Städten so bald nicht geben. Wenn solche Autos aber auf separaten Fahrspuren oder in anderen für sie geschaffenen störungsfreien Umgebungen unterwegs sein können, würden sie viele Vorteile bringen – nicht nur im Hinblick auf die Sicherheit, sondern auch mit Blick auf die Bequemlichkeit des Reisens.

Wie werden sich Gerichtsverhandlungen ändern, wenn sich nach Unfällen mit Robotern oder autonom fahrenden Autos mithilfe von Daten der Unfallhergang rekonstruieren lässt? Müssen diese Daten – den Datenschutz zum Trotz – vor Gericht verwendbar sein?
Ja, die Daten sollten verwertbar sein, und sind es ja zum Teil schon heute. Onboard-Datenspeicher würden die Gerichte wesentlich entlasten. Gestritten wird ja meist nicht über die Rechtslage, sondern über Faktenfragen wie: Wer hat wem die Vorfahrt genommen?

Ich vermute, dass wir mittel- und langfristig in einer Gesellschaft leben werden, in der grundsätzlich nichts mehr geheim bleibt.

Was ordnen Sie im Zweifelsfall höher ein, die Klärung einer Schuld- und Haftungsfrage oder den Datenschutz?
Datenschutz ist sehr wichtig, man darf ihn aber nicht verabsolutieren. Der Schutz personenbezogener Daten tritt zurück, wenn es zum Beispiel um die Aufklärung von Straftaten geht. Dies gilt auch für den Straßenverkehr. Ich vermute, dass wir mittel- und langfristig in einer Gesellschaft leben werden, in der grundsätzlich nichts mehr geheim bleibt. Die Sensoren sind überall. Wir brauchen daher neue Konzepte, um die vollständige Beobachtbarkeit aller unserer Handlungen mit unserem grund- und menschenrechtlich verbürgten Schutz von Privatheit zu versöhnen.

Auch in den Fabriken wird es verstärkt zum Einsatz von autonomen Systemen kommen. Wird das Arbeitsrecht auf diese „Future Factories“ reagieren müssen?
Schon immer waren Menschen in ihrem Arbeitsverhältnis besonders gefährdet, und es überrascht deshalb nicht, dass das Arbeitsschutzrecht gerade in Deutschland eine lange Geschichte hat. Konzepte wie die „Humanisierung der Arbeitswelt“ sollten auch im Zeitalter der Digitalisierung verteidigt und sogar ausgebaut werden.

Konzepte wie die ‚Humanisierung der Arbeitswelt‘ sollten auch im Zeitalter der Digitalisierung verteidigt und sogar ausgebaut werden.

Werden diese Systeme die Industriearbeit wandeln, wird der Arbeiter nicht mehr in der Fertigung tätig sein, sondern in der Überwachung?
Wir werden körperlich schwere Arbeiten an Maschinen delegieren, die dann von Menschen überwacht werden – oder von anderen Maschinen. Dies heißt, dass Arbeitsplätze wegfallen werden. Viele Menschen werden mit Maschinen eng kooperieren. Was das bedeutet, und welche Probleme dabei auftreten können, ist noch kaum erforscht. Wir werden jedenfalls darauf achten müssen, dass der Mensch nicht ins Hintertreffen gerät. Die Gewerkschaften, aber auch die Politik sollten die Entwicklung der Industriearbeit deshalb genau verfolgen.

Man sagt gerne, die Digitalisierung verändere alles und sei disruptiv. Gilt das auch für das Recht – stellen Digitalisierung, Automatisierung und Traumatisierung das Recht auf den Kopf, braucht das Recht ein digitales Update?
Nein. Die disruptive technische Entwicklung findet nicht außerhalb des Rechts statt, sondern innerhalb des gegebenen Rechtsrahmens. An der Würzburger Forschungsstelle „RobotRecht“ bearbeiten wir die damit angedeuteten Themen schon seit zehn Jahren. Strafrecht, Verfassungsrecht, Zivilrecht gelten auch für neueste technische Entwicklungen. Natürlich entwickelt sich das Recht nicht so schnell wie die Technik, das tut seiner Geltung aber keinen Abbruch. Das Recht kennt, von wenigen Ausnahmesituationen abgesehen, keine radikalen Umbrüche. Recht entwickelt sich evolutionär, von Fall zu Fall, von Erfahrung zu Erfahrung. Daran wird auch die digitale Revolution, die wir gerade erleben, nichts ändern.

EuGH zu Facebook-Datentransfer in die USA: Sind Standardvertragsklauseln rechtmäßig?

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Seit Jahren versucht der Datenschützer Max Schrems die irische Datenschutzbehörde dazu zu bringen, gegen die Datenübermittlung Facebooks in die USA vorzugehen. Nun muss der EuGH entscheiden: Darf Facebook aus Europa Daten in die USA schicken? Die Schlussanträge des EuGH-Generalanwalts liegen inzwischen vor. Droht ein zweites Safe Harbor? Von Rechtsanwalt Christian Solmecke, LL.M, Gesellschafter der Kanzlei Wilde Beuger Solmecke

Seit nunmehr sechs Jahren kämpft der Österreicher Max Schrems gegen Facebook und um Beantwortung der enorm wichtigen Frage, ob Facebook Daten aus Europa in die USA versenden darf. Schon 2013 hatte Schrems, damals österreichischer Jurastudent, heute bekannter Datenschutzaktivist, bei der irischen Datenschutzbehörde eine Beschwerde gegen Facebook eingereicht.

Schrems brachte schließlich 2015 das umstrittene „Safe Harbor“-Abkommen zu Fall, das die Datenübermittlung zwischen Unternehmen in der EU und den USA ermöglichen sollte. „Safe Harbor“ wurde kurz darauf durch den sogenannten EU-US Privacy Shield ersetzt. Beim Privacy Shield handelt es sich um eine Art freiwilliges Gütesiegel für Unternehmen, welche sowohl in Europa als auch zum Beispiel in den USA tätig sind. Schrems EuGH-Erfolg führte jedoch nicht zur Erledigung der Streitigkeit, denn Facebook erklärte, sich stattdessen auf eine andere Rechtsgrundlage zu stützen, nämlich auf sogenannte Standardvertragsklauseln. Diese Standardvertragsklauseln, die von der EU herausgegeben wurden, nutzen Unternehmen, die sich nicht dem Privacy Shield unterworfen haben, um Daten in die USA vermeintlich rechtswirksam zu übertragen.

Angesichts der Rechtslage in den USA und der Überwachungspraxis der US-Sicherheitsbehörden sei klar, dass Facebook gar nicht gewährleisten könne, dass das in den Standardvertragsklauseln vorgesehene Datenschutzniveau eingehalten werden könne.

Schrems befürchtet jedoch auch hierbei, dass seine Daten in den USA nicht sicher sind. Angesichts der Rechtslage in den USA und der Überwachungspraxis der US-Sicherheitsbehörden sei klar, dass Facebook gar nicht gewährleisten könne, dass das in den Standardvertragsklauseln vorgesehene Datenschutzniveau eingehalten werden könne. Daher wehrte er sich auch gegen die Übertragung seiner Daten auf Grundlage der verwendeten Standardvertragsklauseln.

Der Fall landete erneut vor dem EuGH. Im Dezember 2019 veröffentlichte der EuGH nun die Schlussanträge des Generalanwalts in der Sache. Seiner Auffassung nach sind die von Facebook verwendeten Standardvertragsklauseln rechtlich nicht zu beanstanden. Auf Grundlage der verwendeten Standardvertragsklauseln jedenfalls könne Facebook ein Datentransfer aus der EU in die USA nicht untersagt werden. Über das Privacy Shield müsse hingegen gar nicht erst geurteilt werden. Dennoch ließ er Zweifel an dem Beschluss der Kommission zum Privacy Shield durchblicken im Hinblick auf die Rechte auf Achtung des Privatlebens, auf Schutz personenbezogener Daten und auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Doch es ist unwahrscheinlich, dass die Luxemburger Richter – so wie im Fall „Safe Harbor“ – erneut die gesamte Grundlage der Datenübermittlung in die USA kippen werden. Ein Urteil wird in einigen Monaten erwartet. Dann zeigt sich, ob der EuGH sich dem Generalanwalt anschließen wird.

Der digitale Nachlass

Kaum jemand befasst sich mit seinem digitalen Nachlass. Obwohl dieser sowohl ideelle als auch finanzielle Werte umfassen kann. Wissenschaftler haben sich daher im Rahmen einer Studie mit den wichtigsten praktischen, rechtlichen und technischen Fragen des Vererbens von digitalen Daten und Vermögenswerten beschäftigt. Von Christoph Berger

„Nur wenige Menschen machen sich Gedanken darüber, dass zum Vermögen auch der digitale Nachlass gehört“, sagt Christine Lambrecht, Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz. Daher förderte das von ihr geführte Ministerium eine gemeinsam vom Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie SIT, der Universität Regensburg sowie dem Institut für Informations-, Gesundheits- und Medizinrecht (IGMR) an der Universität Bremen erarbeitete Studie, die rechtliche und technische Fragen rund um das Thema digitaler Nachlass klärt und Handlungsempfehlungen an Erblasser, Erben, Vorsorgebevollmächtigte, Unternehmen sowie den Gesetzgeber gibt.

Denn der digitale Nachlass kann viel umfassen: Social-Media-Accounts bei Twitter, YouTube oder LinkedIn, Online-Konten bei Amazon oder Ebay sowie Guthaben bei PayPal, E-Books, digitale gekaufte Bilder oder kostenpflichtige Accounts bei Streaming- Dienstleistern. All dies sei, wie die Wissenschaftler schreiben, gemäß der erbrechtlichen Vorschriften des BGB grundsätzlich vererblich. Doch oft würden diese Dinge beim Erstellen eines Testaments nicht bedacht, so die Autoren weiter. Zudem gebe es Unsicherheiten, wie digitale Werte praktisch vererbt werden könnten. Was die Erben vor Probleme stelle. So sei es bereits sehr schwierig bis unmöglich herauszufinden, welche Online-Konten und -Accounts der Verstorbene überhaupt hatte und wie ein Zugriff darauf möglich sei.

Studie „Der digitale Nachlass. Eine Untersuchung aus rechtlicher und technischer Sicht“

Wer hingegen festlegen will, was mit seinen Daten und Accounts passieren soll, kann dies beispielsweise über eine Festlegung im Testament regeln und sollte die Zugangsdaten zu sämtlichen Online-Konten und -Accounts sicher bei einem Notar oder einer Vertrauensperson hinterlegen. Die Studie bietet unter anderem auch Textvorlagen für eine Vorsorgevollmacht und für letztwillige Verfügungen. Was die andere Seite, die Dienstanbieter betrifft, so empfiehlt Ulrich Waldmann, Wissenschaftler am Fraunhofer SIT, in den AGB deutlich auf den digitalen Nachlasses hinweisen und den Nutzern Möglichkeiten einzurichten, ihre Nutzerkonten so zu konfigurieren, dass im Sterbefall zum Beispiel die Löschung, Archivierung oder vollständige Übergabe des Kontos an die Erben erfolgen wird. Außerdem hätte die Untersuchung der allgemeinen Geschäftsbedingungen bei den Anbietern ergeben, dass nicht alle die Vererbbarkeit von Konten und Inhalten bereits in ihren AGB regeln würden. Hier könnten Vorkehrungen getroffen werden, wie Verbraucher besser dabei unterstützt werden können, ihre Ansprüche durchzusetzen.

Dem Gesetzgeber und der Verwaltung empfehlen die Wissenschaftler, im Zentralen Testamentsregister auch (notarielle) Vorsorgeurkunden registrieren zu können, im ,Beurkundungsgesetz könnte die Möglichkeit geschaffen werden, dass Notare Ausfertigungen von Urkunden auch in elektronischer Form erteilen können, um den Nachweis der Legitimation eines Vorsorgebevollmächtigten im Rechtsverkehr zu erleichtern. „Alternativ wäre es auch aus Sicht des digitalen Bereichs sinnvoll, das Elektronische Urkundenarchiv zu einem Vollmachts- und Titelregister weiterzuentwickeln“, schreiben sie.

 

 

„Der Beruf der Anwältin ist ein freier Beruf“

Die Anwaltsbranche wird noch immer von Männern dominiert. Warum dies so ist und was es als Frau und Anwältin braucht, beruflich erfolgreich zu sein, darüber sprach der karriereführer mit Mechtild Düsing, der Preisträgerin des Maria- Otto-Preises des Deutschen Anwaltvereins 2019. Die Fragen stellte Christoph Berger

Zur Person

Mechtild Düsing studierte in Münster und München Rechtswissenschaften. 1973 erhielt sie ihre Zulassung als Rechtsanwältin. Noch im selben Jahr gründete sie ihre eigene Kanzlei. 1983 wurde sie zur Notarin ernannt. Aus diesem Amt schied sie 2014 aufgrund der gesetzlichen Altersgrenze aus. Düsing ist Fachanwältin für Verwaltungsrecht, Erbrecht und Agrarrecht. Von 2005 bis 2009 sowie von 2011 bis 2019 war sie Mitglied des Vorstands des Deutschen Anwaltsvereins Berlin. 2017 war sie Preisträgerin des von Frauen u(U)nternehmen e.V. vergebenen Unternehmerinnenpreises Nord Westfalen, 2019 Preisträgerin des Maria-Otto-Preises des Deutschen Anwaltvereins. Mechthild Düsing ist zum dritten Mal verheiratet und Mutter von drei erwachsenen Kindern. Sie ist Partnerin in der Kanzlei Meisterernst, Düsing, Manstetten in Münster.

www.meisterernst.de

Frau Düsing, Sie erhielten 1973 die Zulassung zur Rechtsanwältin. Wie stellte sich die Situation damals für junge Anwältinnen in Kanzleien dar?
Das war schwierig. Teilweise wurde damals gesagt: ‚Von Frauen in unserem Geschäft halten wir nichts.‘ Ich habe mir dann gesagt ‚Was soll‘s?‘, ich wollte mich sowieso selbstständig machen. Ich bin dann nur für drei Monate zu einem Anwalt gegangen, der ganz plötzlich Unterstützung brauchte, aber auch von vornherein gesagt hat: ‚Das ist aber nur vorübergehend.‘ Nach drei Monaten habe ich dort dann aufgehört und meine eigene Kanzlei gegründet.

War die Gründung der eigenen Kanzlei auch ein Weg, damit Sie Ihre Vorstellungen verwirklichen konnten?
Auf jeden Fall. Ich wollte eine politisch linke Anwältin sein, bin eine 1968erin. Mein Ziel war es, mich auf Verwaltungsrecht zu spezialisieren, weil ich vor allem den Bürger gegen den Staat vertreten wollte. Das konnte man bei vielen Anwälten überhaupt nicht machen. Daher der Wunsch zur Selbstständigkeit. Also kaufte ich mir das neueste Schreibmaschinenmodell, ein Schild für die Kanzleitür sowie einige Formulare. Dann habe ich begonnen.

Was sind seit damals, 47 Jahre ist das her, die Haupterrungenschaften der Frauen?
Damals gab es im Grunde keine Frauen. Beim Oberlandesgericht Hamm waren sechs Prozent Anwältinnen, und die meisten von denen waren zu Hause, die sind überhaupt nicht bei Gericht erschienen. Meist war ich alleine unter Männern. Diese Situation hat sich ziemlich verändert. Dort sind jetzt 30 Prozent Anwältinnen, von denen sehr viele bei Gericht sichtbar sind.

Inzwischen überflügeln die Frauen ja sogar die Männer bei den Studienabschlüssen und Zulassungen, trotzdem gilt die Branche noch als von Männern dominiert. Sehen Sie das auch so?
Ja, an sich schon. Viele Frauen sind zwar zur Anwaltschaft zugelassen, treten dann aber doch nicht so in Erscheinung. Viele arbeiten bestimmt nicht Vollzeit oder arbeiten als Syndikusanwältinnen in Unternehmen. Zeitweilig tauchen bestimmt auch einige in die Familie ab.

Die meisten Anwälte arbeiten ja in kleinen und mittleren Kanzleien. Dort spiel die sogenannte „gläserne Decke“ eigentlich keine Rolle.

Wo sehen Sie die gläserne Decke für Anwältinnen, an der meist Schluss mit der Karriere ist?
Im Anwaltsberuf gibt es die ja nicht. Anwältin ist Anwältin. Natürlich gibt es in den Großkanzleien in den Chefetagen kaum Frauen. Das ist dort wie überall: Frauen in den Chefetagen sind die Minderheit. Aber die meisten Anwälte arbeiten ja in kleinen und mittleren Kanzleien. Dort spiel die sogenannte „gläserne Decke“ eigentlich keine Rolle, Frauen sind dort stark im Kommen.

Was bräuchte es, dass sich das Verhältnis weiter angleicht?
Oftmals haben die Frauen Bedenken, dass sich Familie und Beruf nicht so gut vereinbaren lassen, wenn man Anwältin ist. Deswegen wollen viele in Unternehmen oder bei der Staatsanwaltschaft unterkommen. Oder bei anderen Behörden. Der Beruf Anwältin scheint in deren Augen zu wenig Familie zuzulassen.

Ist das nicht so?
Dem Anwaltsberuf geht immer der Ruf voraus, dass man zehn Stunden täglich arbeiten müsse. Viele Männer haben es auch so gemacht. Aber das muss absolut nicht sein. Und ich selber habe es auch nicht so gemacht. Ich habe mich selbstständig gemacht, drei Kinder großgezogen – teilweise alleinerziehend, da habe ich acht Stunden pro Tag gearbeitet. Und dies auch nur von montags bis freitags. Das ging alles. Natürlich habe ich Personal bezahlt. Das ist das Schöne am Anwaltsberuf: Man kann so viel verdienen, dass man auch Personal für Küche und Haushalt bezahlen kann. Das sollte einem auch bewusst werden: Als Anwältin kann man mehr verdienen als bei Gericht oder der Staatsanwaltschaft.

Sie setzen sich aber nicht nur für die Gleichberechtigung in der Rechtsbranche ein, sondern sehen das Thema als einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs. So haben Sie maßgeblich am Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen mitgewirkt.
Ich bin Feministin und habe mich von Anfang an für die Frauen eingesetzt. Aber mein Hauptanliegen war zu Beginn tatsächlich, die Freiheitsrechte des Bürgers gegenüber dem Staat zu vertreten. Das habe ich auch gemacht – überwiegend den Staat verklagt.

Diese Angst der Frauen, der Beruf des Anwalts ließe sich mit Familie nicht vereinbaren, stimmt nicht.

Sehen Sie das Recht demnach auch als ein Instrument, um zu mehr Gleichberechtigung zu kommen?
Auf jeden Fall, das habe ich auch in vielen Punkten versucht. Bei Hochschulstart habe ich zum Beispiel versucht und teilweise dafür gesorgt, dass Kindererziehungszeiten als Härtefall anerkannt werden, dass Arbeit mit Kindern mehr anerkannt wird.

Was ist Ihr Tipp für Juristinnen, die an der Schwelle Studium-Beruf stehen?
Ich kann nur sagen: Der Anwaltsberuf ist der interessanteste Beruf, den es gibt. Man kann sich die Fälle aussuchen, man kann selbst entscheiden, was man macht. In anderen Berufen bekommt man Arbeit vorgelegt und muss diese dann ausführen. Ich habe nie etwas gemacht, was ich nicht machen wollte. Man kann gut verdienen, dass man sich im Haushalt Entlastung einkaufen kann. Und man sollte keine Angst haben, dass dies nicht geht. Als ich anfing, gab es weder Ganztagskindergärten noch Ganztagsschulen. Heute ist alles einfacher. Und wenn man noch einen Mann hat, der mitarbeitet, dann wird es noch einfacher. Diese Angst der Frauen, der Beruf des Anwalts ließe sich mit Familie nicht vereinbaren, stimmt nicht. Der Beruf der Anwältin ist ein freier Beruf. Außerdem sollte man sich, wenn man in einer Kanzlei arbeitet, nicht mit den ‚billigen‘ Fällen abspeisen lassen, sondern auch die interessanten und finanziell lukrativen für sich einfordern.

Und was wünschen Sie sich von den Männern?
Ich denke, dass sich die Männer in Familie und Haushalt mehr engagieren. Auch deshalb wird für Frauen vieles einfacher.

Arbeiten mit Lawbots

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Das Marktforschungs- und Analyseunternehmen Gartner prognostiziert, dass bis 2023 ein Viertel der internen Rechtsanfragen von virtuellen Rechtsassistenten (VLAs), sogenannten Lawbots oder Rechts-Chatbots, bearbeitet werden. Dies werde die Effizienz und Reaktionsfähigkeit von Rechtsabteilungen und Kanzleien steigern. Von Christoph Berger

Die Themen Automatisierung, Künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen sowie die Verarbeitung natürlicher Sprache machen auch vor der Rechtsbranche keinen Stopp. Vielmehr werden die technischen Entwicklungen Kanzleien und Rechtsabteilungen auf dem Weg in die Zukunft sinnvoll begleiten. „Obwohl VLAs, Rechts-Chatbots und Lawbots wie ein Hype erscheinen mögen, kann ihr Einsatz in Rechtsabteilungen erhebliche Vorteile bringen“, sagt demnach auch Zack Hutto, Direktor in der Abteilung Rechtund Compliance bei Gartner. Durch den Einsatz der entsprechenden Technologien könnten Kanzleien und Rechtsabteilungen ihre Effizienz sowie die Reaktionsfähigkeit ihrer Organisation deutlich steigern.

Die VLAs können in diesem Zusammenhang Anfragen aufnehmen und zuordnen, rechtliche Anfragen prüfen, die Notwendigkeit einer rechtlichen Überprüfung feststellen und routinemäßige Abläufe automatisiert abarbeiten. Die Analysten von Gartner gehen davon aus, dass bis 2023 ein Viertel der internen Anfragen auf diesem Weg bearbeitet werden. Hutto ist daher auch überzeugt: „Rechtsabteilungen werden durch erhöhte Effizienzgewinne, verbesserte Mitarbeiterzufriedenheit und durch mehr Möglichkeiten, Rechtsexperten wieder mit höherwertigen Tätigkeiten zu beauftragen, profitieren.“

Schlechte Lawbot- Lösungen könnten eine noch größere Belastung für die Rechtsabteilungen darstellen.

Allerdings weisen Hutto und seine Kollegen auch darauf hin, sich nicht zu sehr auf VLAs zu verlassen. Sie sollten als Teil einer breit angelegten Strategie der Rechtsdienste angenommen werden, da ein stückweiser Ansatz mit schlecht konzipierten VLAs eher verwirrend oder aufdringlich als hilfreich sein kann. Und, so Hutto: „Schlechte Lawbot- Lösungen könnten eine noch größere Belastung für die Rechtsabteilungen darstellen.“ Zumindest könnten Anwälte manuelle Nacharbeiten erledigen müssen, im schlimmsten Fall sogar daran arbeiten, die Beziehungen zu den abgeschreckten internen Kunden wiederherzustellen.

Um dieses Szenario zu vermeiden, wird die Installation eines Experten für Rechtstechnologie empfohlen, der die zunehmende Automatisierung der internen Kernarbeitsabläufe unterstützt. In einer solchen Position müsste das notwendige Wissen über Rechtsabläufe, selbst wenn diese ein großes Automatisierungspotenzial aufweisen, gepaart mit dem erforderlichen Technologie- Know-how vorhanden sein. Allerdings gilt auch für Lawbots selbst, dass sie aus der Sicht des Rechts zu betrachten sind und einer solchen Überprüfung standhalten müssen: sei es in Bezug auf den Datenschutz oder die Risiken, die mit Falschauskünften der virtuellen Gesprächspartner verbunden sind.

Cyberkriminalität

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Die Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime Nordrhein-Westfalen (ZAC NRW) ist auf Cyberkriminalität spezialisiert, ihr obliegt die Verfahrensführung in herausgehobenen Ermittlungsverfahren in diesem Bereich. karriereführer sprach mit Oberstaatsanwalt Markus Hartmann, der als Hauptabteilungsleiter die Einheit leitet. Die Fragen stellte Christoph Berger

Zur Person

Markus Hartmann ist Volljurist. Er ist Oberstaatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Köln und seit 2016 Leiter der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime Nordrhein-Westfalen (ZAC NRW). Zuvor war Hartmann Dezernent in der Cybercrime-Zentralstelle für den OLG-Bezirk Köln, die in der ZAC NRW aufgegangenen ist und seit 2015 deren kommissarischer Leiter.

Herr Hartmann, die Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime Nordrhein- Westfalen (ZAC NRW) wurde zur Bekämpfung digitaler Verbrechen eingerichtet. Dabei kann der Begriff „Cyberkriminalität“ viel beinhalten. Wie stellt er sich aus dem Blick Ihrer Einheit dar, welche Bereiche/Aspekte beinhaltet er?
Klassischerweise unterscheidet man Cyberkriminalität im engeren Sinne, also Straftaten, die sich gegen das Internet, Datennetze, informationstechnische Systeme oder deren Daten richten, und Cyberkriminalität im weiteren Sinne. Darunter versteht man generell Straftaten, die mittels Informationstechnik begangen werden. In der Praxis verläuft die Trennlinie häufig fließend. Wir beobachten, dass sich immer mehr analoge Deliktsformen digitale Entsprechungen oder Mischformen herausbilden. Ein Beispiel ist der Handel mit Betäubungsmitteln, der zunehmend über Webshops in Internet und Darknet abgewickelt wird.

Wie beurteilen Sie die Gefährdung von Gesellschaft und Wirtschaft in Deutschland durch diese Tatbestände?
Cybercrime hat sich zu einem wesentlichen Bedrohungsfaktor für das Wirtschaftsleben entwickelt. Das Allianz Risk Barometer 2020 benennt im globalen Maßstab Cybersicherheitsvorfälle als Unternehmensrisiko Nr. 1. Auch national sind digitale Straftaten mittlerweile überaus relevant. Einer Studie des Branchenverbandes Bitkom zufolge soll sich der wirtschaftliche Gesamtschaden durch Cybercrime auf mehr als 100 Milliarden Euro jährlich belaufen. Gesellschaftlich betrachtet, wirkt sich die umfassende Digitalisierung auf alle Lebensbereiche aus. 70 Prozent der Bundesbürger nutzen Online-Banking. Schon diese Zahl macht deutlich, wie groß das Betätigungsfeld von Cyberkriminellen ist. Wirksame Strafverfolgung ist ein wesentlicher Beitrag, das Vertrauen der Nutzer in digitale Infrastrukturen zu erhalten. Außerdem sollte man die Auswirkungen der Digitalisierung und korrespondierender Kriminalität auf die demokratischen Prozesse im Blick behalten. Elektronische Manipulationen und Hackerangriffe auf Wahlen sind ein reales Risiko. Aber auch die Zunahme strafbarer Hasspostings in den sozialen Medien zeigt deutlich, dass der Schaden durch Cybercrime deutlich gravierender sein kann als lediglich finanziell.

Und bei welchen Ermittlungsverfahren kommen Sie und Ihre Kolleg*innen dann tatsächlich zum Einsatz?
Die ZAC NRW ist zuständig für herausgehobene Fälle digitaler Kriminalität, was sich aus bestimmten Indikatoren ergibt. Beispiele wären etwa die Tatbegehung aus dem Bereich der organisierten Cyber- und Darknetkriminalität, Angriffe auf kritische Infrastrukturen oder ein hoher technischer Ermittlungsaufwand im Bereich der Computer- und Informationstechnik.

Ist das Recht in Deutschland auf viele dieser Tatbestände überhaupt ein- und ausgerichtet?
Grundsätzlich möchte ich festhalten, dass wir mit dem gegebenen Rechtsrahmen durchaus in der Lage sind, effektive Strafverfolgung zu betreiben. Trotzdem bleiben einige Baustellen. Man sollte zum Beispiel über die Einführung eines Straftatbestandes des Betriebs krimineller Marktplätze im Netz nachdenken. Denn diese Infrastrukturen sind der Nährboden für weite Teile der Cyberkriminalität. Durch die schnelle Fortentwicklung der technischen Gegebenheiten gilt es vor allem, das Recht, insbesondere strafprozessual, der technischen Entwicklung kontinuierlich anzupassen.

Immer mehr analoge Deliktsformen bilden digitale Entsprechungen oder Mischformen heraus.

Was ist dafür notwendig?
Eine wesentliche Aufgabe ist es, die Zusammenarbeit zwischen Justiz, Wissenschaft und Wirtschaft zu verbessern. Wir benötigen eine vertrauensvolle Kooperation, um schnell handeln zu können, dass immer noch hohe Dunkelfeld zu verringern und die tatsächlichen Ermittlungsmöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden technisch zu ergänzen.

Cyberkriminalität hat auch viel mit Technik und den damit verbundenen Möglichkeiten zu tun. Welche Fähigkeiten bzw. welches Wissen braucht es für Ihre Arbeit?
Der Kern der Arbeit der ZAC NRW ist juristisch. Gleichwohl sind die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte der ZAC NRW auch ambitionierte Hobbyinformatiker. Wir greifen außerdem auf die technische Expertise spezialisierter Polizeidienststellen und von Sachverständigen zurück.

Stehen Ihrer Abteilung auch die benötigten digitalen Möglichkeiten zur Verfügung, um die Ihnen zugewiesenen Fälle entsprechend zu bearbeiten – zum Beispiel Überprüfungssoftware, um große Datenmengen möglichst schnell auszuwerten – oder arbeiten Sie dafür mit anderen Institutionen und Behörden zusammen?
Wir arbeiten stets interdisziplinär und kooperieren wo nötig mit Partnern aus Wissenschaft und Wirtschaft. Große Datenmengen sind eine wesentliche Herausforderung. Daher untersuchen wir in verschiedenen Grundsatz- und Forschungsprojekten, wie die technischen Möglichkeiten – etwa durch den Einsatz von KI – verbessert werden können.

Beim Thema Legal Tech geht es unter anderem auch darum, Fälle möglichst zu standardisieren und automatisiert abarbeiten zu können. Für die Effizienz. Ist das auch eine Methode für Ihre Abteilung?
Die ZAC NRW hat derzeit 21 Planstellen. Das ist für eine staatsanwaltschaftliche Zentralstelle ein ordentlicher Personalansatz. Den Einsatz von Legal Tech betrachten wir in unserem Grundsatzdezernat, das entsprechende Projekte vorantreibt.

Sie wirken auch bei regionalen und überregionalen Aus- und Fortbildungsmaßnahmen mit. Um was geht es dabei und wen schulen Sie?
Wir bilden gemeinsam mit der Justizakademie NRW, aber auch in eigenen Veranstaltungen Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in den technischen und rechtlichen Fragen wirksamer Strafverfolgung im digitalen Raum aus. Denn die Bekämpfung von Cybercrime ist nicht nur Aufgabe der Zentralstelle, sondern der Justiz insgesamt.

ZAC NRW

Die ZAC NRW führt Cybercrime- Ermittlungsverfahren von herausgehobener Bedeutung. Sie ist darüber hinaus zentrale Ansprechstelle für grundsätzliche, verfahrensunabhängige Fragestellungen aus dem Bereich der Cyberkriminalität für Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden Nordrhein-Westfalens und anderer Länder sowie des Bundes. Ferner steht sie als Kontaktstelle für die Zusammenarbeit mit Wissenschaft und Wirtschaft zur Verfügung, soweit dies mit ihrer Aufgabe als Strafverfolgungsbehörde vereinbar ist.

Gründen der Kanzlei von morgen

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Das Geschäftsmodell der Rechtsberatung steckt in einem Dilemma: Für die reine Wissensvermittlung – die Beratung – kommt heute kaum noch jemand in die Kanzlei. Dank Globalisierung und Internet sind Informationen heute zu jedem Thema und jeder Rechtsfrage jederzeit überall kostenfrei aufbereitet und verständlich abrufbar. Die reine Beratung, was früher Kernkompetenz der Anwälte war, tritt in den Hintergrund und stattdessen spielen nun Kompetenzen in Krisenmanagement, Konfliktlösung, Empathie, Kommunikation und Verhandlungsgeschick, strategisches und systemisches Verständnis eine wachsende Rolle. Von Dr. Geertje Tutschka, PCC

Die Autorin

Dr. Geertje Tutschka, PCC , Managing Partner: CLP-Consulting for Legal Professionals. Rechtsanwalt in Deutschland/Europaanwalt Österreich. (www.consultingforlegals.com) Autorin zahlreicher Fachbücher zu Kanzleientwicklung, u.a. „Kanzleigründung und Kanzleimanagement”, DeGruyter 2018 „Erfolgreiche Kanzleigründung – leicht gemacht“ e-book, MKG Spezial 2018 „Die Anwaltskanzlei als erfolgreiches Unternehmen“, e-book, MKG Spezial 2020 ausgebildeter und zertifizierter Coach (International Coaching Federation – ICF), Ausbilderin im Legal Coaching (www.CLPAcademy. com) Spezialist für Leadership, Kanzleientwicklung und Personal Branding für Rechtsanwälte.

„Die Zukunft der Anwaltschaft wird weiblich“ titelte schon 2013 die Prognos Studie des Deutschen Anwaltvereins (DAV) und meinte damit, dass die klassischen Kompetenzen für den Anwaltsberuf wie Durchsetzungskraft, analytisches Denken, pragmatische Lösungen eher „typisch männlich“ waren; von der Branche zukünftig jedoch eher „typisch weibliche“ Eigenschaften eingefordert werden würden. Das ist nichts Neues. Auch andere klassische Beraterberufe entwickelten sich in den letzten Jahren in diese Richtung. Die Beraterbranche wird zunehmend nahbarer, menschlicher. Damit unterscheidet sich der Berater von morgen von Algorithmen und technischen Lösungen. Aber auch von anderen Beratern. Gleichwohl gehen mit der Digitalisierung der Rechtsbranche Innovationen im Legal Tech-Bereich einher, die nicht nur ganze Geschäftsfelder der Anwaltschaft plötzlich in Luft auflösen, sondern auch die Notwendigkeit, Strukturen und Prozesse in den Kanzleien zu überarbeiten und neu zu definieren.

Die Arbeitsweise von Juristen hat sich grundlegend verändert. Vorbei ist die Zeit der vollen Schreibtische, der aussagekräftigen Kanzlei-Bibliotheken und prestigeträchtigen Besprechungszimmer. Der Anwalt ist heute zumindest per E-Mail direkt und immer für jeden erreichbar und kommt damit endlich auf die Augenhöhe des Mandanten. Das tut der Branche gut, auch wenn sie sich eine gewisse Wehmut leistet.

Die neuen Generationen leben dies hingegen ganz selbstverständlich – bringt es doch auch mehr Flexibilität und Mobilität und damit eine bessere Work-Life-Balance. Und noch etwas kommt hinzu: Kanzleiteams werden vielfältiger. Während noch vor wenigen Jahren die Sekretariate ausschließlich von Frauen und die Anwaltszimmer von Männern besetzt waren, wird nun durchgemischt. Schon heute sind knapp 40 Prozent der Berufsträger weiblich, in den Universitäten studieren mehr Frauen als Männer Jura. Auch Juristen aus dem Ausland, Juristen mit Migrationshintergrund, bekennende Schwule und Lesben und auch engagierte Mütter und Väter sind heute in den Kanzleien zu finden.

Kanzleien wollen Schritt halten

Da werden Innovation-Hubs ins Leben gerufen, um mit ambitionierten Junganwälten oder zugekauften IT-Nerds Legal Tech-Anwendungen zu kreieren und neue Geschäftsfelder zu entdecken. Talent Development soll mit hippen Formaten und flexiblen Arbeitszeitkonten die Generation Y abholen, die sich nicht mehr allein durch Geld und Status stimulieren und lenken lässt. Frauenförderprogramme sollen endlich die zukünftigen Partnerinnen aus den eigenen Reihen nicht nur entwickeln, sondern vor allem halten. Der Kampf um die sogenannten High Potentials und zukünftigen Führungskräfte ist längst entbrannt, ebenso wie um gute und zuverlässige Mitarbeiter.

Somit ist es auch an der Zeit, neue Fragen zu stellen: Wie kann meine Rechtsberatung meinem Klienten und dessen Familie/Kunden helfen? Und: Welchen Nutzen hat meine Rechtsberatung für meinen Klienten?

Doch ist die Anwaltschaft damit in der Zukunft angekommen? Jein. Sie hat sich auf den Weg gemacht. Manchmal eher einen Schritt nach vorn und zwei zurück. Und nun sind wir da: Irgendwo zwischen status- und hierarchieorientierten Autokratien, gewinnorientierten Solitären und wettbewerbssuchenden Hochleistungs-Rennpferden auf der einen Seite und kooperativen Netzwerken, gesellschaftlicher, ökologischer und politischer Verantwortung sowie der Suche nach persönlicher Selbstverwirklichung jenseits von Status und Reichtum auf der anderen Seite. Und die Studierenden- und Zulassungszahlen steigen weiter: Gebiete wie das Sportrecht, Vereinsrecht, Expatriationsrecht und Asylrecht entwickeln sich gerade erst ebenso wie das Geschäftsmodell rund um Datensicherheit, Bitcoin und Blockchain. Und auch in diplomatischen, politischen und gesellschaftlichen Gremien sind Juristen immer mehr gefragt. Somit ist es auch an der Zeit, neue Fragen zu stellen: Wie kann meine Rechtsberatung meinem Klienten und dessen Familie/Kunden helfen? Und: Welchen Nutzen hat meine Rechtsberatung für meinen Klienten?

Der Anwalt von morgen sollte die Krise des Mandanten nicht nur rechtlich, sondern auch menschlich erfassen, deren Stadium bestimmen und die passenden Methoden auswählen können, um den Mandanten aus der Krise herauszuführen. Das sind nicht in erster Linie rechtliche Schritte, sondern eine Kommunikation, die das Sicherheitsbedürfnis des Mandanten anspricht. Der Mandant fühlt sich verstanden und der Anwalt kann die Informationen des Mandanten besser einordnen und verstehen, aber auch die Strategie und Taktik sowie das Mandatsmanagement darauf abstimmen. Das führt zu einer vertrauensvollen und nachhaltigen Mandantenbeziehung, aber eben auch zur für den Mandanten passenden Rechtslösung. Das Geschäft wird belebt. Der Anwalt kann auf menschlicher Ebene wirklich helfen und fühlt sich in seiner Arbeit erfüllt und sinnstiftend.

Im Mittelpunkt wird also der Mensch mit seinen Ängsten und Bedürfnissen, seinem Charisma und seiner Persönlichkeit, seinen Talenten und Fähigkeiten, seiner Empathie und seiner Fähigkeit zu und seinem Bedürfnis nach Gemeinschaft, Kommunikation und Beziehung stehen. Schlicht mit all dem, was ihn unverwechselbar macht. Was ihn von jeder reproduzierenden, effektiven Maschine unterscheidet. Aber soll das heißen, dass die Kanzlei von gestern die Kanzlei von morgen ist, dass der hemdsärmelige Feld-, Wald- und Wiesenanwalt als Einzelkämpfer mit Charisma, Charme und Schreibmaschine und unkonventionellem Netzwerk der Gewinner ist? Was ihn zum Überlebenskünstler macht, ist seine Flexibilität und Offenheit gegenüber Veränderungen. Was ihm allerdings fehlt, ist Professionalisierung und Nachhaltigkeit. Hier werden zunehmend Post-Graduate-Ausbildungen gefragt sein, die keine „Zählpunkte“ bei der Fachanwaltsfortbildung bringen. Nicht austauschbar zu werden – weder gegenüber dem konkurrierenden Kollegen noch gegenüber Legal Tech-Anbietern kann somit durch eine einzigartige Kombination aus verschiedenen Fachkompetenzen sowie Berufs- und Lebenserfahrung erreicht werden.

Der Jurist an sich ist ein Zauderer und Bedenkenträger, spätestens nachdem er erfolgreich das 2.Staatsexamen absolviert hat. Da leistet die Ausbildung ganze Arbeit.

Sogenannte Cross Competencies können auch in anderen Bereichen erworben werden: beispielsweise in der Absolvierung zweier akademischer Fachausbildungen, wie etwa Medizin, BWL oder MINT-Fächern. Eine sinnvolle ressourcenschonende Alternative kann die Implementierung von sogenannten agilen Teams sein. Dies sind Teams aus gemischten Berufsgruppen, die in kurzen Hierarchieebenen die verschiedenen Kompetenzen in schnellen umfassenden Entscheidungsprozessen bündeln. Erste Vorstöße waren in den Zusammenschlüssen verschiedener Berufsgruppen – wie Anwälten mit Medizinern im Arzthaftungsrecht, Anwälten mit Sachverständigen oder Architekten im Verkehrsunfallrecht/Bauhaftungsrecht oder Anwälten mit Steuerberatern – gemacht worden.

Statistisch gesehen wagen nur 25 Prozent der Berufsanfänger den Schritt ins kalte Wasser der Selbstständigkeit und gründen unmittelbar nach dem 2. Staatsexamen ihre Kanzlei; sicherlich manche nicht ganz „freiwillig“ und andere nur „pro forma“, sodass wohl tatsächlich von weniger als 15 Prozent ambitionierten Gründern ausgegangen werden kann. Bemerkenswert genug, dass hier keine Start-Up Szene existiert, sondern diese ausschließlich dem Legal Tech Bereich vorbehalten ist. Und dies, obwohl zwei von drei Anwälten das Ziel einer eigenen Kanzlei/Partnerschaft von Anfang an verfolgen und es sich nach etwa acht Berufsjahren im Durchschnitt verwirklichen. Was sagt uns das? Der Jurist an sich ist ein Zauderer und Bedenkenträger, spätestens nachdem er erfolgreich das 2.Staatsexamen absolviert hat. Da leistet die Ausbildung ganze Arbeit. Um heute die Kanzlei von morgen zu gründen, sollte niemand acht Jahre seines Lebens investieren, um das Geschäft, so wie es gestern war, zu verstehen. Im Gegenteil: die eigene Kanzlei schon bei der Gründung neu, frei und frisch zu denken, ist das Erfolgsrezept.

Die drei Herausforderungen der Rechtsbranche:

  • Digitalisierung, Legal Tech und disruptive Innovationen
  • Konkurrenzdruck, Einkommensverlust durch Kollegen und Branchenfremde
  • Gender- und Generationsshift

Was sich in der Legal-Branche bewegt:

  • Kultur- und Strukturwandel (für die Digitalisierung und disruptive Innovation)
  • Kooperation (für den Konkurrenzkampf)
  • Diversity (für den Gender- and Generation Shift)

Wohin sich die Rechtsbranche bewegen wird:

  • Personal Development/ Wertewandel / holistischer Ansatz
  • Cross competencies: KulturSprachen-Verständnis / MINT/ Soft Skills / BusinessDevelopment / Entepreneurship
  • Agile Kooperationsteams / Netzwerke / Mitgestaltung in Politik und Gesellschaft