Chat GPT in der anwaltlichen Praxis

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Um von ChatGPT noch nichts gehört zu haben, bedarf es schon einiges an Erklärung. Einsiedelei, Exerzitien, monatelang kein Internet, dann kann das sein. Ansonsten spricht jede und jeder über ChatGPT. Seit die Software freigegeben wurde, haben Millionen von Menschen ausprobiert, wie es ist, wenn man einer Software in natürlicher Sprache eine Frage stellt und Sekunden danach eine in verständlicher Sprache verfasste Antwort erhält. Die Antworten sind, soweit man das sagen kann, oft verblüffend richtig. Manchmal abstrus falsch, manchmal sind sie nur allgemein nichtssagend. Aber gefühlt sind die Antworten meistens richtig. Für die Rechtsberatung in der Anwaltskanzlei stellen sich sofort spannende Fragen. Von Markus Hartung und Jörg Tepper

Über die Autoren

Markus Hartung, Rechtsanwalt, ist geschäftsführender Gesellschafter der Chevalier Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Jörg Tepper ist Rechtsanwalt und Co-Leiter der dortigen arbeitsrechtlichen Praxis. Chevalier ist eine auf innovativer Software basierende Kanzlei in Berlin, die ausschließlich Arbeitsrecht für Arbeitnehmer* innen unter der Marke Chevalier Rechtsanwälte anbietet sowie Verkehrsrecht unter der Marke freem.
Kann man ChatGPT in der Kanzlei einsetzen? Kann man Bearbeitungszeiten verkürzen? Kann man sich den langen Ausbildungsaufwand sparen, weil auch schon Green Beans (Berufsanfänger:innen) schwierige Fragen mit dem gesamten und von OpenAI aufgearbeiteten Weltwissen beantworten können? Dass dieses Wissen in der Regel von anderen Menschen geschaffen wurde, von ChatGPT aber ohne Angaben von Quellen aufgegriffen und anderweitig verwendet wird… nun ja, Urheberrecht und Internet, das ist eine andere Geschichte. Aber braucht man uns Anwält:innen denn noch, wenn doch im Moment jede und jeder juristische Fragen an eine Software stellen kann und vernünftig und überzeugend klingende Antworten erhält? Dass man die Richtigkeit als Laie nicht überprüfen kann, ist natürlich ein Problem, aber wir erleben häufig, dass Mandant:innen bereits genau wissen, was wir zu tun haben, weil sie es im Internet gefunden haben. Sie werden uns jetzt auch ChatGPT-Ergebnisse präsentieren, von deren Richtigkeit sie überzeugt sind. Dies hängt vor allem mit dem aus Sicht der Mandant:innen zunächst verständlichen Wunsch nach Bestätigung der eigenen interessenwahrenden Auffassung, nämlich wie ein bestimmter Sachverhalt zu bewerten ist, zusammen.

ChatGPT juristisch getestet

Wir haben ChatGPT natürlich juristisch getestet. Arbeitsrechtliches Grundlagenwissen auf niedrigem Niveau ist vorhanden. Bei spezielleren Fragen gibt es so überzeugend klingende wie nichtssagende Antworten, manche Antworten sind schlichtweg falsch – ehrlich gesagt, fast wie von einem Anwalt, der keine Ahnung hat, so etwas soll es ja auch geben. So beantwortet Chat-GPT die Frage, ob Ansprüche auf Urlaub bei langer Krankheit verfallen können und wenn ja, wann sie dann verfallen würden. In der Antwort von Chat-GPT ist lediglich die erste und die letzte Aussage richtig, der Rest ist unzutreffend bzw. undifferenziert: „Ja, Ansprüche auf Urlaub können bei langer Krankheit verfallen. Nach dem Bundesurlaubsgesetz müssen Urlaubstage spätestens bis zum Ende des Kalenderjahres, in dem der Anspruch entsteht, genommen oder abgegolten werden. Bei einer längeren Krankheit kann es vorkommen, dass dieser Zeitraum verstreicht und somit die Urlaubstage verfallen. Allerdings gibt es Ausnahmen: Wenn ein Arbeitnehmer länger als sechs Wochen arbeitsunfähig ist, kann er den Urlaub auf das Folgejahr übertragen. In einigen Tarifverträgen oder Arbeitsverträgen kann es auch Regelungen geben, die den Verfall von Urlaub bei Krankheit verhindern.” Im Rahmen einer Rechtsberatung, die mit dem Prinzip der berufsausübungslangen Fortbildung der Anwält*innen einhergeht, kann man den Ausbildungsaufwand von Berufsanfänger*innen vielleicht etwas minimieren, ganz sicher jedoch nicht darauf verzichten. In diesem Zusammenhang stellen sich auch einige interessante berufsrechtliche Fragestellungen, über die es sich lohnt nachzudenken.

Haftung verbleibt bei Berufsträger*innen

Unter anderem ergibt sich die Frage, ob die Rechtsberatung hier tatsächlich von Anwält*innen durchführt worden ist, wenn die Quelle ein Chatbot ist. Wer überprüft die Verlässlichkeit und Richtigkeit der durch die von OpenAI generierten Antworten und Ergebnisse, was die Frage hinsichtlich der weiterführenden Ausbildung von Berufanfänger*innen beantwortet. Die weitere wesentliche Frage nach der Haftung im Falle einer etwaigen Falschberatung hängt eng mit der zuvor gestellten Frage zusammen und ist eindeutig zu beantworten. Sie verbleibt bei den Berufsträger*innen.

Chatbots werden Freiräume schaffen

Viele Dinge kann die Software jetzt schon erstaunlich gut. Ignorieren dürfen wir sie keinesfalls. Unsere Kreativität für deren Einsatz ist gefragt.
Chatbots ermöglichen Kanzleien, Prozesse wie die der Mandatsannahme, der grundlegenden Informationsbeschaffung und die Herausarbeitung der maßgeblichen Frage(n) zu automatisieren, effizient zu gestalten und abzuwickeln. In diesem Zusammenhang sind virtuelle Assistenten denkbar, die als initialer Kontakt die Mandant:innenkommunikation führen. Wobei die Abfrage und spätere Eingabe der Daten und Informationen der Mandant*innen in ChatGPT die Frage nach der Gewährleistung der Einhaltung der Vorschriften der Datenschutz- Grundverordnung (DSGVO) sowie der berufsrechtlichen Schweigepflicht aufwirft, die künftig beantwortet werden muss. Im Übrigen wird Chat GPT grundsätzlich aber Freiräume schaffen, die es den Anwält:innen gestattet, sich der eigentlichen juristischen Bearbeitung und Problemlösung zu widmen, wodurch sich die Bearbeitungszeiten des Mandats verkürzen dürften. Für uns heißt das, dass wir künftig die Anwendungsmöglichkeiten von ChatGPT (und dessen Wettbewerbern, die am Horizont bereits zu sehen sind) mitdenken und uns immer fragen werden, welche Arbeiten von so einer Software schneller als von einem Menschen erledigt werden können. Juristisch wird die Software besser werden, da haben wir keine Zweifel. Viele Dinge kann die Software jetzt schon erstaunlich gut. Ignorieren dürfen wir sie keinesfalls. Unsere Kreativität für deren Einsatz ist gefragt.

Kuratiert

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Anspruch auf unentgeltliche Kopien von Prüfungsarbeiten der zweiten juristischen Staatsprüfung

Absolventen der zweiten juristischen Staatsprüfung haben gemäß Art. 15 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 5 Satz 1 der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) einen Anspruch darauf, dass ihnen das Landesjustizprüfungsamt unentgeltlich eine Kopie der von ihnen angefertigten Aufsichtsarbeiten mitsamt den zugehörigen Prüfergutachten zur Verfügung stellt. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig im Dezember 2022 entschieden. Durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) ist seit dem Jahr 2017 geklärt, dass die schriftlichen Prüfungsleistungen in einer berufsbezogenen Prüfung und die Anmerkungen der Prüfer dazu wegen der in ihnen jeweils enthaltenen Informationen über den Prüfling insgesamt – das heißt letztlich Wort für Wort – personenbezogene Daten des Prüflings darstellen. Macht in diesen Fällen der betroffene Prüfling das Recht auf Erhalt einer unentgeltlichen ersten Datenkopie geltend, muss das Prüfungsamt eine vollständige Kopie der schriftlichen Prüfungsarbeiten und der zugehörigen Prüfergutachten unentgeltlich zur Verfügung stellen.

Eine KI als Verteidigerin

Kann eine Künstliche Intelligenz Mandant*innen direkt vor Gericht vertreten und beraten? In den USA wäre es im Februar dieses Jahres im Rahmen der Anfechtung eines Strafzettels vor einem Verkehrsgericht fast dazu gekommen. Demnach war es der Plan des Unternehmens Donotpay, eine Gerichtsverhandlung vor einem Verkehrsgericht und die dortige Argumentation zur Anfechtung eines Strafzettels durch den Einsatz einer auf einem Smartphone installierten KI live mitzuverfolgen. Die KI sollte dem Angeklagten in Echtzeit passende Antworten über ein Headset mitteilen. Doch Ende Januar gab Donotpay-CEO Joshua Browder via Twitter bekannt, dass man erst einmal Abstand von der Idee nehme.

Einsatz von KI erfordert ein Update für das Arbeitsrecht

Der zunehmende Einsatz künstlicher Intelligenz stellt das Arbeitsrecht vor Herausforderungen, unter anderem beim Daten- und Diskriminierungsschutz, in Haftungsfragen oder bei der Entscheidung, ob eine Person abhängig beschäftigt ist oder selbstständig. Wo Aufgaben für die Gesetzgebung liegen und in welche Richtung Lösungen gehen können, hat der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Bernd Waas in einem neuen Gutachten für das Hugo- Sinzheimer-Institut (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung untersucht. Ein zentrales Ergebnis: Wenn Arbeitgeber Algorithmen zwischenschalten, wird Mitbestimmung der Beschäftigten noch wichtiger, so der Juraprofessor an der Universität Frankfurt/Main. Von Christoph Berger

Bleibeklauseln bei Aus- und Weiterbildungen

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Der Fachkräftemangel ist für Arbeitgeber im Allgemeinen eine Herausforderung. Für KMUs ist er ein Risiko für wirtschaftlichen Erfolg und eine Wachstumsbremse. Unternehmen begegnen der Knappheit bei der Ressource Personal häufig damit, dass sie (angehende) Fachkräfte bei ihrer Aus- und Weiterbildung finanziell unterstützen. Zur Absicherung dieser „Investition in die Zukunft“ ist in der Regel die Vereinbarung einer sogenannten Bleibeklausel vorgesehen. Was so eine Klausel regelt, und welche Anforderungen eingehalten werden müssen, wird nachfolgend gezeigt. Von Pascal Verma, Partner, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht bei der nbs partners Rechtsanwaltsgesellschaft mbH in Hamburg

Es gibt viele Konstellationen, in denen Unternehmen die Aus- oder Weiterbildung von Beschäftigten finanziell unterstützen. Es kann sich um die berufliche Weiterbildung handeln, zum Beispiel zum Steuerberater, Wirtschaftsprüfer oder zum Fachanwalt. Auch die Unterstützung bei den Kosten für eine Meisterschule im Handwerk oder die Übernahme von Studiengebühren für ein duales Studium kommen häufig vor. Die unterschiedlichen Ausgangssituationen haben aber eines gemeinsam: Typischerweise unterstützt der Arbeitgeber die Aus- oder Weiterbildung, um die höhere Qualifizierung des oder der Arbeitenden für eine Zeit in seinem Unternehmen zu nutzen. Umgesetzt wird dieses Ziel mit Bleibeklauseln. Das sind Vereinbarungen, nach denen sich der oder die Arbeitende zur Rückzahlung der Arbeitgeberleistungen verpflichtet, wenn die vereinbarte Bleibedauer nicht eingehalten wird. Um eine Bleibeklausel wirksam vereinbaren zu können, muss allerdings eine grundlegende Voraussetzung erfüllt sein: Die Maßnahme, zu der der oder die Beschäftigte die finanzielle Unterstützung erhält, muss den individuellen „Marktwert“ des oder der Beschäftigten erhöhen. Vermittelt die Weiterbildung lediglich betriebsbezogene Kenntnisse, von denen ausschließlich der aktuelle Arbeitgeber profitiert, ist die Bleibeklausel unzulässig. Zudem muss der Arbeitgeber ein Interesse daran haben, dass die in der Weiterbildung erworbenen Fähigkeiten auch in seinem Unternehmen eingesetzt werden. Ohne dieses Interesse ist die Bleibeklausel unzulässig. Die weiteren Voraussetzungen, damit eine Rückzahlungspflicht besteht, sind durch die Rechtsprechung in den vergangenen Jahren detailliert definiert worden.
Neben der genauen Vereinbarung der Rückzahlungstatbestände ist entscheidend, dass die Bleibeklausel nur einen zeitlich begrenzten Bleibedruck ausübt, der in einem angemessenen Verhältnis zu der unterstützten Aus- oder Weiterbildungsmaßnahme steht.
Dabei sind Fallgruppen herausgearbeitet worden, die einen gemeinsamen Nenner haben: Hält der oder die Beschäftigte gegenüber dem Arbeitgeber für die vereinbarte Zeit die Betriebstreue ein oder kann er oder sie die vereinbarte Betriebstreue aus einem Grund, der nicht aus seiner oder ihrer Sphäre stammt, nicht einhalten, so darf keine Rückzahlungspflicht bestehen. Das Bestehen der Rückzahlungspflicht ist daher nur in drei Fallgruppen anerkannt: bei Ausspruch einer unberechtigten Eigenkündigung, bei Ausspruch einer Arbeitgeberkündigung, die auf einem von dem oder der Beschäftigten zu vertretenden Grund beruht und bei einem Aufhebungsvertrag, der aufgrund einer Pflichtverletzung auf der Arbeitnehmerseite abgeschlossen wird. Neben der genauen Vereinbarung der Rückzahlungstatbestände ist entscheidend, dass die Bleibeklausel nur einen zeitlich begrenzten Bleibedruck ausübt, der in einem angemessenen Verhältnis zu der unterstützten Aus- oder Weiterbildungsmaßnahme steht. Für die Praxis hat das Bundesarbeitsgericht einen Regelstufenplan entwickelt, der, abhängig vom Weiterbildungszeitraum, für den der Arbeitgeber bezahlt freistellt, eine regelmäßig zulässige Bindungsdauer vorsieht. Dieser Plan reicht von einer zulässigen sechsmonatigen Bindungsdauer bei einer fortbildungsbezogenen Freistellung von bis zu einem Monat bis hin zu einer maximal fünfjährigen Bindungsdauer bei einer mehr als zweijährigen fortbildungsbezogenen Freistellung. Die Praxis zeigt allerdings, dass Bleibeklauseln fehleranfällig sind und ihre Überprüfung regelmäßig rechtliche Angriffsfläche bietet. Ist die Bleibeklausel fehlerhaft, führt dies in der Regel dazu, dass die Rückzahlungspflicht ganzheitlich entfällt. Für die Unternehmen ist es also wirtschaftlich wichtig, bei der Gestaltung von Bleibeklauseln sensibel und rechtlich gut beraten zu agieren. Für Beschäftigte, denen eine Bleibeklausel zum Abschluss vorgelegt wird oder die in der Vergangenheit eine Bleibeklausel abgeschlossen haben, kann eine fachmännische Überprüfung der Klausel von Interesse sein, da eine realistische Chance besteht, dass auch die konkret vorgesehene Klausel angreifbar ist.

Algorithmen und die Meinungsbildung

Die Nutzung digitaler Medien für Nachrichtenzwecke gewinnt immer weiter an Bedeutung. Damit steigt auch deren Bedeutung für die öffentliche und individuelle Meinungsbildung. Doch die Auswahl und Strukturierung der Inhalte auf den großen Online-Plattformen wird von Algorithmen bestimmt. Deren Zielstellungen und Vorgehensmodelle sind nicht immer transparent. Von Christoph Berger

Das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) veröffentliche Ende Dezember 2022 den Arbeitsbericht „Algorithmen in digitalen Medien und ihr Einfluss auf die Meinungsbildung“. Darin beschreiben die Autor*innen die Entwicklung bei der Informationsvermittlung weg von den Massenmedien Fernsehen, Radio und Presse hin zu Onlineplattformen wie Google, YouTube, Facebook, Twitter oder Instagram. Orientierten sich Rundfunk und Presse noch an journalistischen Prinzipien, sind es auf den Onlineplattformen Algorithmen, die darüber entscheiden, welche Meldungen welchen Personen in welcher Reihenfolge angezeigt werden. Die Kriterien bei dieser Selektion orientieren sich dabei nicht unbedingt an Werten der Sorgfalt und Vielfalt, sondern an den Interessen und der Aufmerksamkeit der Nutzer/innen sowie am Gewinnstreben der Informationsintermediäre, also den Vermittlerplattformen zwischen denjenigen, die Inhalte produzieren und denjenigen, die sie nutzen. Und aufgrund der täglichen und häufigen Nutzung nehmen sie Einfluss auf die Meinungsbildung. Mit der Folge: Es bilden sich sogenannte Filterblasen und Echokammern.

Zunahme von „Roboterjournalismus“

Dieses Medienverhalten der Nutzer*innen gepaart mit der Meldungsauswahl durch Algorithmen führt außerdem dazu, dass sich auch Falschnachrichten schnell verbreiten – ja, sogar großflächige Desinformations- und Manipulationskampagnen absichtlich initiiert und Gruppen von Nutzer*innen gezielt adressiert werden, um Meinungen und politische Entscheidungen zu beeinflussen. Wobei die Entwicklung auch vor dem klassischen Journalismus schon längst nicht mehr haltmacht. Laut dem Bericht würden auch dort inzwischen algorithmische Systeme eingesetzt, um zu testen, welche Schlagzeilen von Nutzer*- innen am ehesten angeklickt werden – ebenfalls mit dem Ziel, höhere Werbeeinnahmen zu erzielen. Insgesamt, so die Autor*innen, sei in den kommenden Jahren von einer Zunahme des automatisierten Journalismus, dem sogenannten Roboterjournalismus, auszugehen. Wobei die Leser*innen automatisierter Texte diese nicht ohne Weiteres von manuell erstellten Beiträgen unterscheiden könnten. Mit dem Medienstaatsvertrag, in den 2020 erstmals auch Medienintermediäre in den Anwendungsbereich aufgenommen wurden, sowie den darin formulierten Transparenzpflichten, sei ein erster Schritt der gesetzgeberischen Kontrolle erfolgt, heißt es weiter. Allerdings würden algorithmische Intermediäre bislang weder unter das rundfunkzentrierte Modell der Konzentrationskontrolle noch unter die medienstaatsvertragliche Plattformregulierung, die die Medienordnung in Deutschland prägt, fallen. Anders sehe es mit dem Gesetz über digitale Dienste und dem Gesetz über digitale Märkte aus. Insbesondere ersteres soll Risiken und Gefahren entgegenwirken, die sich für Einzelne und die Gesellschaft insgesamt aus der Nutzung, aber auch der Abhängigkeit von großen Onlineplattformen ergeben. Die Transparenzmaßnahmen würden die algorithmischen Systeme der großen Onlineplattformen mit dem Ziel betreffen, aufzuzeigen, wie algorithmische Entscheidungen getroffen werden und welche Effekte diese Entscheidungen auf die Gesellschaft haben. Dieses Gesetz soll in Deutschland ab dem 17. Februar 2024 gelten. Das Gesetz über digitale Märkte tritt bereits am 2. Mai 2023 in Kraft.

„Die Grundvoraussetzung ist Neugier.“

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Außergerichtliche Streitbeilegungsverfahren wie Mediationen und Schiedsverfahren nehmen zu. Und werden daher auch bei Kanzleien immer häufiger angefragt. Dr. Andreas Hacke erklärt im Gespräch, welche Unterschiede es zwischen den Verfahren gibt und welche Voraussetzungen Anwälte mitbringen sollten, um in diesem Segment ihre Mandantschaft erfolgreich zu beraten und zu begleiten. Für ihn ist außerdem klar: Mit außergerichtlichen Streitbeilegungsverfahren sollten sich Anwältinnen und Anwälte möglichst schon im Studium beschäftigen. Die Fragen stellte Christoph Berger

Zur Person

Dr. Andreas Hacke, Foto: Jochen Rolfes
Dr. Andreas Hacke, Foto: Jochen Rolfes
Dr. Andreas Hacke ist seit 2002 als Rechtsanwalt zugelassen und seit 2005 Partner der Sozietät Zwanzig Hacke Meilke & Partner. Er ist Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht. Zudem ist Andreas Hacke regelmäßig als Schiedsrichter (Vorsitzender, Einzelschiedsrichter oder parteibenannt) sowie als Wirtschaftsmediator und Schlichter mit der Lösung komplexer wirtschaftsrechtlicher Konflikte betraut. WhosWhoLegal führt ihn als „Thought Leader Germany“ (2020) und empfiehlt ihn in den Bereichen Schiedsverfahren und Mediation (zuletzt als „National Leader- Arbitration“ (2020), „National Leader – Mediation“ (2020) und „Global Leader Mediation“ (2019). Er hält Vorträge und unterrichtet in Schulungen und Workshops zu den Themen Schiedsverfahren, Wirtschaftsmediation, Verhandlungsführung und Konfliktmanagement. www.zhmp.de
Herr Dr. Hacke, Sie sind Experte für Schiedsverfahren und Mediation. Was sind die wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Verfahren außergerichtlicher Streitbeilegung? Das sind zwei ganz unterschiedliche Verfahren. Der wesentliche Unterschied lässt sich an der Rolle des jeweils eingesetzten neutralen Dritten festmachen. Ein Schiedsverfahren ist letztlich vergleichbar mit einem Gerichtsverfahren. Und zwar in der Weise, dass das Schiedsgericht eine verbindliche Entscheidung über die Streitigkeit trifft – ein Urteil sozusagen, den Schiedsspruch. In der Mediation ist das anders. Die Mediatorin oder der Mediator haben nicht die Macht, verbindlich über die Streiterledigung zu entscheiden, sondern sie unterstützen die Parteien dabei, selbst die Lösung eines Konflikts zu verhandeln. Auch wenn das Urteil im Schiedsverfahren verbindlich ist, findet es außerhalb der staatlichen Gerichtsbarkeit statt? Ja, genau. Das Schiedsverfahren ist eine echte Alternative zum staatlichen Gerichtsverfahren. Das heißt: Da, wo Parteien sich auf ein Schiedsverfahren verständigt haben, kann kein Gerichtsverfahren mehr stattfinden. Das Verfahren mündet in einem Urteil des Schiedsgerichts. Der Schiedsspruch hat die gleiche rechtliche Wirkung wie das Urteil eines staatlichen Gerichts. Es handelt sich um ein adversielles, ein gegensätzliches Verfahren, in dem Parteien ihre Rechtsstandpunkte durch Schriftsätze deutlich machen und in dem es eine mündliche Verhandlung vor dem Schiedsgericht gibt. Natürlich ist es denkbar, dass sich die Parteien auch im Rahmen eines Schiedsverfahrens, teilweise mit Unterstützung durch das Schiedsgericht, einvernehmlich auf einen Vergleich verständigen und damit das Schiedsverfahren vorzeitig beenden – ganz ähnlich, wie dies oft auch vor einem staatlichen Gericht passiert. Aber das ist nicht der Kern des Schiedsverfahrens. Der Kern ist eine streitige Auseinandersetzung, die auf einen Schiedsspruch hinausläuft. Wie setzt sich ein solches Schiedsgericht zusammen? Da gibt es unterschiedliche Varianten. Es gibt Schiedsgerichte, die nur aus einer Person bestehen, also einer Schiedsrichterin oder einem Schiedsrichter. Die meisten Schiedsgerichte bestehen aber aus drei Personen. Zudem ist die Zusammensetzung davon abhängig, nach welchen Regeln das Schiedsverfahren organisiert ist. Sehr häufig sehen die vereinbarten Schiedsregeln aber vor, dass jede Streitpartei berechtigt ist, eine Schiedsrichterin oder einen Schiedsrichter eigenmächtig zu benennen – gleichwohl müssen diese Personen neutral sein. Die beiden Schiedsrichter* innen haben dann die Aufgabe, eine Vorsitzende oder einen Vorsitzenden auszuwählen und ihrerseits zu benennen. Diese Person ist dann das sogenannte „Zünglein an der Waage“. So haben wir ein Schiedsgericht, das ausschließlich für den jeweiligen Fall zusammenkommt und nach dessen Erledigung auch wieder auseinandergeht. Es handelt sich demnach nicht um eine Institution, wie das bei einem staatlichen Gericht der Fall wäre. Und wie ist es bei der Mediation? Die Mediation ist im Grund nichts anderes als eine Verhandlung von Streitparteien. Mit dem Unterschied, dass diese Verhandlung durch einen Mediator geleitet und moderiert wird, der oder die aber keine Entscheidungsgewalt über die Sache hat. Gibt es für die beiden Verfahren jeweils typische Fälle, bei denen sie eingesetzt werden? Das lässt sich so nicht voneinander abgrenzen. Die Verfahren sind potenziell hintereinandergeschaltet. Führt die Mediation nicht zu einer Lösung, steht den Parteien frei, dasjenige Verfahren zur verbindlichen Streitbeilegung anzusteuern, das eben zugänglich ist. Ohne eine Verabredung wäre das immer das zuständige staatliche Gericht. Treffen die Parteien aber eine Schiedsvereinbarung, auch nach einer gescheiterten Mediation oder in deren Vorfeld, dann wäre das Schiedsverfahren das Forum, in dem der Fall verbindlich entschieden wird. Allerdings kann gesagt werden, dass Mediation da besonders sinnvoll ist, wo möglicherweise eine Zusammenarbeit der Parteien in Rede steht. Die Mediation ist darauf ausgerichtet, eine interessengerechte Zukunftslösung zu verhandeln – obwohl es genauso Mediationen zwischen Parteien gibt, die keine weitere Zusammenarbeit anstreben. Schiedsverfahren kommen häufig in internationalen Geschäftsbeziehungen zur Geltung. Warum? Weil die Parteien in Verträgen mit internationalem Gehalt sich nicht auf die Zuständigkeit eines staatlichen Gerichts in dem jeweiligen Staat der anderen Vertragspartei einigen können. Das wäre für die betroffene Partei dann fremdes Terrain. Da das für beide Parteien gleichermaßen gilt, einigen sie sich auf ein Schiedsgericht. Welche Rolle nehmen diese beiden außergerichtlichen Streitbeilegungsverfahren in der anwaltlichen Praxis ein? In meiner Wahrnehmung nehmen sie eine zunehmende Bedeutung ein. Hintergrund dafür ist, dass die Kenntnis über solche Verfahren in den letzten Jahren stark gestiegen ist. Gleichzeitig sind die Unternehmen nicht mehr bereit, voreilig in sehr langwierige und kostspielige Gerichtsverhandlungen hineingezogen zu werden. Die Anwaltschaft sieht sich damit stärker als früher der Nachfrage ausgesetzt, welche anderen Verfahren und Mittel es denn gäbe. Die Mandanten wünschen sich diesbezüglich dann auch Rat und fachkundige Begleitung in diesen Verfahren.
Als Mediator*in sind Sie in einer ganz anderen Rolle als Anwält*in: Sie sind angehalten die Interessen der Beteiligten zu ergründen und diese zu motovieren, auf Basis dieser Interessen eine Lösung zu finden.
Welche Fähigkeiten und Kompetenzen benötigen Mediator*innen, um erfolgreich die Vermittler*innen-Position einzunehmen? Das sind sehr viele und unterschiedliche. Die Grundvoraussetzung ist Neugier – auch als Mensch: Man muss an dem Konflikt anderer und deren Ursachen interessiert sein. Und es braucht ein Eigeninteresse, an der Lösung von Konflikten konstruktiv mitzuwirken. Darüber hinaus erfordert es ein Umdenken hinsichtlich der eigenen Rolle. Als Mediator*in sind Sie in einer ganz anderen Rolle als Anwält*in: Sie sind angehalten die Interessen der Beteiligten zu ergründen und diese zu motivieren, auf Basis dieser Interessen eine Lösung zu finden. Das setzt ein Beherrschen von ganz bestimmten Techniken voraus – vor allem Kommunikations-, Frage-, Moderations- und Visualisierungstechniken. Das ist Handwerkszeug auf Basis eines klaren Rollenverständnisses, das erlernt werden kann, aber auch etwas mit Neigung und Talent zu tun hat. Wer darf sich Mediator nennen bzw. braucht es dafür eine spezielle Ausbildung? Das ist etwas eigenwillig. Nicht-Jurist* innen brauchen keine weitere Ausbildung. Wer als Rechtsanwältin oder Rechtsanwalt agiert, braucht für die Tätigkeit als Mediator*in eine Mediationsausbildung. Die gibt es dann noch in Abstufungen. Ab welchem Punkt im Lebenslauf sollte man beginnen, sich mit außergerichtlichen Streitbeilegungsverfahren zu beschäftigen? Man kann nicht früh genug damit anfangen. Sinnvoll ist es, sich mit den Verfahrensarten und Techniken durchaus schon im Studium, spätestens im Referendariat oder beim Berufseinstieg intensiv zu beschäftigen – einfach auch, um auf die Anfragen der Mandantschaft vorbereitet zu sein.

Legal Engineer: An der Schnittstelle von IT und Recht

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Es ist eine Entwicklung, die sich durch sämtliche Branchen zieht. Egal ob im Ingenieurwesen, den Natur- oder Wirtschaftswissenschaften, der Bau- oder Medizinbranche – oder halt der Rechtsbranche. Die Welt der Unternehmen und Organisationen wird immer interdisziplinärer. Das hat auch mit der Digitalisierung zu tun, die dazu führt, dass fachspezifische Prozesse in digitalisierter und automatisierter Form abgebildet werden. Diejenigen, die diese Prozesse umzusetzen haben, benötigen Schnittstellenkompetenzen. So wie die oder der Legal Engineer. Von Christoph Berger

Im Oktober 2022 gab die EBS Law School bekannt, dass ihr Vorlesungsangebot im Schwerpunktbereich „Recht & Digitalisierung“ um eine Einführungsveranstaltung zu „Legal Engineering“ erweitert werde. Die Studierenden würden sich somit zukünftig verstärkt dem interdisziplinären Thema von Recht und Softwareentwicklung widmen. Denn: Legal Tech sei aus der Juristerei längst nicht mehr wegzudenken, Softwareanwendungen würden juristische Arbeitsabläufe und Prozesse sowie die Wettbewerbs- und Marktbedingungen beeinflussen. Dadurch hätten sich auch die Rollen der Akteur*innen auf dem Rechtsmarkt verändert, was vom Jurist*innen-Nachwuchs Schnittstellenkompetenzen verlange: Juristische Expert*innen bräuchten nicht nur das klassische Rechtswissen, sondern auch Kenntnisse aus den Bereichen Softwareentwicklung, Data Science oder Prozess- und Projektmanagement. Die zunehmende Rolle und Bedeutung von Technologie in der juristischen Unternehmens- und Institutionswelt stellt auch Dr. Dirk Schrameyer, LL.M. (USA), Associate Director Legal Digital & Platform Solutions bei Wolters Kluwer Deutschland, heraus. Basierend auf den Ergebnissen der Studie „Future Ready Lawyer 2022“ hat er die fünf wichtigsten Trends für Rechtsabteilungen und Anwaltskanzleien für 2023 identifiziert. An erster Stelle: Technologie. Sie spielt laut Schrameyer eine enorm wichtige Rolle bei der Auswahl und Bindung von Mitarbeiter*innen, bei der Gewinnung von Talenten sowie bei der Verbesserung von Produktivität und Leistung.

Für die Ohren

In der Podcast-Reihe zum „Weblaw Forum LegalTech 2022“ von Podcasts@Weblaw beschäftigen sich zahlreiche Beiträge nicht nur mit den Entwicklungen und Folgen der Digitalisierung für die Rechtsbranche, sondern auch mit Legal Engineering.
So sehen nicht nur 79 Prozent aller für die Studie befragten Jurist*innen die zunehmende Bedeutung von „Legal Tech“ als wichtigsten Trend in diesem Jahr an, auch 87 Prozent aller Unternehmensjurist*innen und 83 Prozent der Jurist*innen in Kanzleien halten es für äußerst oder sehr wichtig, für eine Rechtsabteilung oder Kanzlei zu arbeiten, die das technologische Potenzial voll nutzt. 78 Prozent der Anwält*innen in Kanzleien sagen außerdem, dass sie mehr nicht-juristisches Personal nutzen werden, 81 Prozent möchten vermehrt auf Drittanbieter oder externe Ressourcen zurückgreifen. Um genau diese Schnittstellenkompetenzen abbilden zu können. Legal Engineers sind vor diesem Hintergrund essentiell für die Zukunftsfähigkeit der Kanzleien. Von Seiten des Beratungsunternehmen Deloitte werden sie als universell einsetzbare Generalisten bezeichnet. Capgemini nennt sie Brückenbauer*innen und Übersetzer*innen, die mit ihren hybriden Qualifikationsprofilen in weniger hochstandardisierten Kontexten an der engen Verzahnung von Recht, Organisation, Daten und Technologie arbeiten.

Auf Menschen zugehen

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Philipp Bremer hatte neben seinem Beruf als Anwalt und Jurist schon immer vielfältige Interessen. Zum Beispiel spielte er nebenbei Theater. 2023 schloss er außerdem eine Ausbildung zum Gestalttherapeuten ab. Das Wissen daraus bringt ihn nicht nur menschlich voran, sondern auch beruflich. Aufgezeichnet von Christoph Berger

Zur Person

Seit Juli 2021 ist Philipp Bremer Leiter des Rechtsstaatsprogramms Naher Osten und Nordafrika mit Sitz in Beirut, Libanon. Zuvor war er dreieinhalb Jahre als Rechtsanwalt für eine internationale Wirtschaftskanzlei tätig, in dieser Zeit auch sechs Monate als externer Berater vor Ort in der Litigation Communications Abteilung eines internationalen deutschen Automobilherstellers. Er hat Rechtswissenschaften an der Universität Mannheim studiert, sein Rechtsreferendariat absolvierte er u.a. im Europäischen Parlament bei Axel Voss, MdEP in Brüssel und im Büro der Staatsministerin Prof. Maria Böhmer, MdB im Auswärtigen Amt. www.kas.de
Philipp Bremer war Interdisziplinarität und das Schauen über den Tellerrand der Jurist*innen-Bubble immer ein Anliegen. Das mag einerseits mit seinem Aufwachsen zu tun haben. Bremer ist international aufgewachsen, hatte schon immer viel mit anderen Kulturen und unterschiedlichsten Persönlichkeiten zu tun. Andererseits hatte er auch immer vielfältige Interessen. So gehörte er während seines Jurastudiums der Improvisationstheatergruppe der Uni an und spielte an einem kleinen Theaterhaus. Ein Hobby und eine Leidenschaft, die ihm nach dem Abschluss schnell einen Job in einer Großkanzlei einbrachte, obwohl Bremer es überhaupt nicht auf eine Laufbahn als Rechtsanwalt abgesehen hatte. Sein Ziel war es, in den diplomatischen Dienst zu kommen. Eine einzige Bewerbung verschickt er aber trotzdem. Um seine Chancen und Möglichkeiten auszuloten. „17 Minuten nach Abschicken meiner Bewerbung bekam ich von einem Partner der Kanzlei Antwort“, erinnert er sich. Die Kanzlei hatte gerade ein riesiges Mandat übernommen und suchte Anwälte mit Verhandlungskompetenzen. Im direkt darauffolgenden Telefonat sagte der Kanzleipartner: „Mir ist sehr positiv aufgefallen, dass Sie schon viel Theater gespielt haben. Das finde ich Klasse! Denn in Bezug auf Verhandlungen können wir jemanden gebrauchen, der einen starken Auftritt hat.“ Sprich: Improvisationsschauspieler*innen können mit ihrer Stimme und ihrem Auftritt arbeiten. Zudem sind sie reaktionsschnell. Alles Fähigkeiten, die auch im Gerichtssaal helfen. Ab diesem Moment wusste Philipp Bremer, dass er unter diesem Menschen arbeiten möchte. Ihm gefiel, dass nicht nur darauf geschaut wurde, ob er Schriftsätze verfassen kann, sondern der Blick ebenso auf andere Skills gelegt wurde. Noch heute dient ihm sein damaliger Chef als Vorbild für den Umgang mit Mitarbeitenden. Außerdem erinnert ihn die damalige Situation immer wieder daran, sich auch Themen abseits der Rechtsbranche zu widmen. Seine Theaterleidenschaft kam Philipp Bremer dann tatsächlich in seiner Kanzleizeit zu Gute. Und das nicht nur im Gerichtssaal. In Workshops vermittelte er Kolleginnen und Kollegen, was er von der Bühne mit in den Anwaltsberuf nehmen konnte. Das sei sowohl von Referendar* innen als auch von Associates und Partner*innen sehr gut aufgenommen worden. Gerade auch weil wahrgenommen wurde, dass es ein Anliegen der jüngeren Generationen ist, sich mit Soft Skills zu beschäftigen. Bremer sagt: „Es entwickelte sich eine große Bereitschaft und Offenheit dafür.“

Auf dem Weg zu sich selbst

Ebenfalls in seine Zeit bei der Großkanzlei fiel für Philipp Bremer die intensive Auseinandersetzung mit einer weiteren Tätigkeit, die, auf den ersten Blick, recht wenig Gemeinsamkeiten mit der Welt der Jurist*innen hat. Er begann berufsbegleitend eine Ausbildung zum Gestalttherapeuten. Eine persönliche Krise hatte ihn dazu gebracht, sich intensiver mit sich selbst zu beschäftigen. Als er im Rahmen dieser Selbstreflexion auf die Gestalttherapie stieß, war ihm schnell klar: „Ich habe Lust, das zu erlernen.“ Er zitiert Gestalttherapeut Werner Bock: „Was ist, darf sein. Was sein darf, kann sich verändern.“ Laut der Deutschen Vereinigung für Gestalttherapie geht es in dem Verfahren darum, der Vielfalt von Individualität gerecht zu werden. Die Therapeut*innen verstehen sich dabei weniger als Anleiter*innen, sie sind vielmehr Begleiter* innen ihrer Klient*innen, mit denen sie bewusst, dynamisch und experimentell neue Erfahrungen machen. Wobei erwähnt werden muss, dass Gestalttherapie von den Krankenkassen nicht anerkannt wird. Es handelt sich auch nicht um einen geschützten Beruf, der eine festgelegte Ausbildung zum Führen der Bezeichnung voraussetzt.

Verständnis und Offenheit für Mitmenschen

Nach Besuch eines Basiskurses war für Bremer aber klar: „Das macht Freude, erfüllt mich und hilft mir.“ Zudem konnte er sich die dreijährige Ausbildung aufgrund seines Gehalts als Anwalt leisten. Allerdings merkt er an: „Die Ausbildung neben dem Beruf zu absolvieren, war unfassbar anstrengend.“ Zahlreiche Wochenenden und eigentlich als Urlaub vorgesehene Zeit investierte er. Wobei nicht alle Kolleg*innen immer Verständnis für die von ihm frei gewählte Zusatzbelastung hatten. Doch die allermeisten akzeptierten es. Ebenso sein neuer Arbeitgeber: 2021 wechselte Bremer zur Konrad-Adenauer-Stiftung. Dort wurde er Leiter des Rechtsstaatsprogramms Naher Osten & Nordafrika mit Arbeitsort Beirut im Libanon. Noch einige Male musste er von dort nach Deutschland reisen, um die Ausbildung abzuschließen. „Der Abschluss war mir sehr wichtig, zumal für mich in den drei Jahren mit den Mitlernenden eine sehr wertvolle Gemeinschaft entstanden ist. Wir verbringen einfach gerne Zeit miteinander und schätzen uns“, sagt er. Doch während 14 der 16 Kursteilnehmer* innen inzwischen tatsächlich als Gestalttherapeut*innen arbeiten, bleibt Philipp Bremer Jurist: „Das, was ich gerade mache, erfüllt mich. Derzeit sehe ich überhaupt keinen Anlass, das zu ändern.“ Daher verzichtet er auch darauf, den endgültigen Abschluss durch die dafür notwendige und nachweisbare Praxiserfahrung und Supervision zu erlangen. Das Erlernte kann er aber durchaus auch beruflich nutzen – in Bezug auf sich, um mit Stress zurechtzukommen, aber auch im Miteinander und der Führung seines Teams: auf Augenhöhe, wertschätzend, unterstützend und empathisch. „Ich habe das Gefühl, Probleme schneller wahrnehmen zu können und sensibel darauf einzugehen“, erklärt Bremer. Somit sei der Teamspirit und die Teamdynamik extrem hoch. In der Zeit seines Wirkens in dem Verantwortungsbereich habe es erst einen Konflikt gegeben. Was ungewöhnlich ist, birgt doch schon das reale Umfeld mehr als ausreichend Konfliktpotenzial: „Hier im Libanon herrscht eine extreme Wirtschaftskrise, täglich gibt es mehrere Stunden ohne Strom, von einem Rechtsstaat ist hier wenig zu sehen. Alle Menschen leiden furchtbar. Erst gestern waren so viel Proteste in der Stadt, dass alle im Home Office bleiben mussten, weil Reifen auf den Straßen brannten und ein sicheres Durchkommen unmöglich war. All das nehmen die Mitarbeitenden natürlich mit nach Hause und bringen es mit ins Büro.“ Daher laute die erste Frage in den Teamsessions auch immer: „How are you feeling?“

Schriftsätze Kultur-, Buch- und Linktipps

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Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?

Cover Die Welt geht unter und ich muss trotzdem arbeiten?Im März 2020 änderte sich alles. Homeoffice war plötzlich die neue Norm. Alle mussten sich digitalisieren und transformieren – ob sie wollten oder nicht. Die Arbeit drängte weiter ins restliche Leben, zur Erwerbsarbeit kam noch mehr Carearbeit. Die Schere zwischen systemrelevanten Berufen und Bürojobs ging weiter auf. Covid hat uns gezeigt, was in der Arbeitswelt nicht mehr funktioniert – und ist nur eine der Krisen unserer Zeit. Und wir? Brennen aus, um bloß keine Deadline zu reißen. Was zur Hölle machen wir da eigentlich? Warum tun wir uns das an? Immer mehr Menschen stellen sich diese Fragen, einige ziehen Konsequenzen. In den USA hat der Trend sogar schon einen Namen: „The Great Resignation“, das große Kündigen. Es bricht eine neue Ära an, aber weder durch agile Methoden noch durch Yoga im Alltag wird es gelingen, ein für uns alle und für den Planeten verträgliches Wirtschaften zu realisieren. Wir müssen uns überlegen, wie Arbeit heute und morgen wirklich funktionieren kann – mit einem Fokus auf Gerechtigkeit, Zukunftsfähigkeit und den Menschen. Sara Weber: Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten? Kiepenheuer & Witsch 2023, 18 Euro

Das ökologische Grundgesetz

Cover Das ökologische GrundgesetzDieses Buch ist ein Plädoyer für die Entwicklung des liberalen und demokratischen Wohlfahrtsstaats zu einer ökologischen Verfassungsordnung. Univ.-Prof. Dr. Jens Kersten, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München, analysiert darin den ökologischen Status Quo des Grundgesetzes, weist auf den ökologischen Entwicklungsbedarf hin und zeigt, wie ein ökologisches Grundgesetz gestaltet werden könnte. Konkret formuliert er Vorschläge für eine Reform der Grundrechte, der Staatsstrukturprinzipien und des gesamten Staatsorganisationsrechts. Jens Kersten: Das ökologische Grundgesetz. C.H.BECK 2022, 34,95 Euro

Die Auslegung von Gesetzen

Cover Auslegung von GestzenDie Auslegung von Gesetzen ist ein Teilgebiet der juristischen Methodenlehre. Bereits Studienanfänger*innen sollten sich damit beschäftigen, Fragen der Gesetzesauslegung begleiten sie auf ihrem gesamten Berufsweg. Sie ist jedoch auch für Nichtjuristinnen und -juristen geeignet, die sich über juristische Auslegungsarbeit informieren wollen. Die Darstellung geht von einfachen Beispielen aus und vermittelt den Leser*innen so Schritt für Schritt das Grundhandwerkszeug, das sie für die Auslegung von Gesetzen benötigen. Ihnen wird vor Augen geführt, dass die Rechtswissenschaft von Auslegung und Argumenten lebt. Entnommen wurden die Beispiele dem Bürgerlichen Recht, dem Strafrecht und dem Verfassungsrecht, also den Rechtsgebieten, mit denen die Studierenden zuerst konfrontiert werden. Dr. Rolf Wank, Dr. Martin Maties: Die Auslegung von Gesetzen. Vahlen 2023, 18,90 Euro

Nachhaltigkeit und Unternehmensrecht

Cover Nachhaltigkeit und UnternehmensrechtDie Förderung eines nachhaltigen Unternehmertums verlangt eine Auseinandersetzung mit der internen Governance von Unternehmen als den Hauptakteuren auf Märkten der Real- und Finanzwirtschaft. Wie entsprechende Rechtsregeln aussehen könnten und inwieweit bestehende gesellschaftsrechtliche Kernkonzepte einer Neubewertung bedürfen, untersucht Anne-Christin Mittwoch, Professorin für Bürgerliches Recht, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht an der Universität Halle-Wittenberg, aus deutscher und europäischer Perspektive. Anne-Christin Mittwoch: Nachhaltigkeit und Unternehmensrecht. Mohr Siebeck 2022, 104 Euro

Erzählung: Wo willst du eigentlich hin?

Cover Wo willst du eigentlich hin?Tom ist von Selbstzweifeln geplagt: Er ist in seiner Führungsrolle als Teamleiter überfordert und hat gleichzeitig das Gefühl, sein Privatleben zu vernachlässigen. An einem chaotischen Morgen begegnet er auf dem Weg ins Büro einem alten Mann mit einem Fahrrad. Hilfsbereit nimmt der Alte Tom mit auf eine verrückte, aber erkenntnisreiche Fahrt zur Arbeit. Auf dem Gepäckträger sitzend entwickelt sich ein spannender Dialog über Lebensziele, Alltagsstress und das Wesen guter Arbeit. Tom erkennt, dass seine Krise eine Chance ist, ein entspannteres Verhältnis zu seinem Job aufzubauen. Thomas Belker, Personalmanager, kaufmännischer Leiter, Geschäftsführer und Rechtsanwalt, vermittelt in dieser humorvollen Erzählung die Prinzipien nachhaltiger Karriereplanung und effektiver Führung. Dabei nimmt er weit verbreitete Glaubenssätze und bekannte Management-Theorien unterhaltsam unter die Lupe, um ihre Tauglichkeit für das Berufsleben zu überprüfen. Eine Orientierungshilfe für alle, die im Job Verantwortung übernehmen und sich fragen, ob sie auf dem richtigen Weg sind. Thomas Belker: Wo willst du eigentlich hin? Metropolitan 2022, 24,95 Euro

Liquid Legal – Humanization and the Law

„Humanization and the Law“ verbindet zwei aktuelle und sich ergänzende Trends im Business-to-Business- Markt der Rechtsbranche: Digitalisierung und Humanisierung. Auf der einen Seite schreitet die digitale Transformation in den Rechtsabteilungen von Unternehmen und Kanzleien weiter voran. Vertragsmanagement, E-Discovery, Due Diligence, Legal Operations und forensische Datenanalyse sind nur einige Beispiele für Aufgabenbereiche, in denen der Einsatz intelligenter Softwarelösungen rechtliche Risiken minimiert und die Compliance erhöht, Effizienzsteigerungen und Kostensenkungen durch Automatisierung ermöglicht und schnellere und agilere Reaktionen auf veränderte Marktanforderungen und Kundenerwartungen erlaubt. Andererseits zeigt die zunehmende Zahl gescheiterter Digitalisierungsprojekte, dass Technologie allein nicht ausreicht, um Rechtsabteilungen und Kanzleien erfolgreich zu transformieren. Softwarelösungen müssen in bestehende Arbeitsabläufe integriert werden, einfach zu bedienen sein und einen echten Nutzen bieten, um von den Mitarbeiter*innen akzeptiert zu werden. Der Mensch und seine Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und andere zu führen, stehen auch in einer zunehmend digitalisierten Rechtsbranche im Mittelpunkt. Kai Jacob, Dierk Schindler, Roger Strathausen, Bernhard Waltl (Hrsg.): Liquid Legal – Humanization and the Law. Springer 2022, 92,83 Euro

Im Theater – vor Gericht

Cover Im Theater - Vor GerichtTheateraufführungen und Performances, die auf Gerichtsverhandlungen Bezug nehmen, erfreuen sich seit der Jahrtausendwende großer Beliebtheit. Worin liegen die Spezifik und das politische Potenzial solcher theatraler Gerichtsformate? Inwiefern haftet ihnen etwas Dokumentarisches an? Und welche Rolle spielt dabei die Publikumspartizipation? Anhand von acht Fallstudien zeitgenössischer Inszenierungen und Performances von Haus Bartleby, Yan Duyvendak und Roger Bernat, Christophe Meierhans, Milo Rau und Oliver Reese wird diesen Fragen im Spannungsfeld zwischen Spiel und Ernst nachgegangen. Die Vorstellungen davon, wie Theateraufführungen beziehungsweise Gerichtsverhandlungen auszusehen haben und wie man sich in ihnen zu verhalten hat, haben sich ungefähr im selben Zeitraum ausgebildet. Um die Publikumspartizipation in Gerichtsformaten im deutschsprachigen Gegenwartstheater zu untersuchen, wird daher die historische Genese von Theater und Gericht als Institutionen im 18. und 19. Jahrhundert analysiert. Basierend auf den daraus hervorgehenden Interdependenzen und auf aktuellen Partizipationstheorien wird ein Modell partizipativer Theaterformen entwickelt. Im Fokus steht ihr politisches Potenzial. Géraldine Boesch: Im Theater – Vor Gericht. Chronos 2023, 38 Euro

Das letzte Wort hat: Dr. Claudia Hahn – Rechtsanwältin, Kartoffelbäuerin und Buchautorin

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Dr. Claudia Hahn ist nicht nur Anwältin, sondern auch Kartoffelbäuerin. Im Interview erzählt sie von Gemeinsamkeiten der beiden Berufe, welchen Bezug sie zum Feld hat und was ihre Kolleginnen und Kollegen darüber denken. Die Fragen stellte Christoph Berger.

Zur Person

Claudia Hahn, Jahrgang 1968, ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Arbeitsrecht sowie Partnerin der in Stuttgart ansässigen Kanzlei Frahm Kuckuk Hahn Rechtsanwälte PartG mbB. Sie studierte Rechtswissenschaften in Saarbrücken und promovierte im Arbeitsrecht zu flexiblen Arbeitszeitsystemen. In ihrer ursprünglichen Heimat, im Hunsrück, bewirtschaftet Claudia Hahn ihren Bauernhof und baut alte, seltene Kartoffelsorten an. https://fk.legal
Frau Hahn, Sie sind Anwältin und Partnerin in einer Kanzlei in Stuttgart, gleichzeitig Kartoffelbäuerin. Ihre beiden Berufe stellen Sie auch auf der Internetseite der Kanzlei anhand von zwei Bildern vor. Wie wichtig sind Ihnen diese beiden Berufe? Wenn ich Beruf mit Berufung gleichsetze, dann ist auf jeden Fall Anwalt sein meine Berufung. Das bestimmt mein ganzes Leben. Ich bin für meine Mandanten verantwortlich und als Kanzleipartnerin zudem für meine Mitarbeitenden. Aber natürlich ist Kartoffelbäuerin zu sein, auch mein Beruf. Beide ergänzen sich übrigens sehr gut. Inwiefern? Anwalt zu sein ist ein kreativer Beruf, man könnte fast sagen, wir sind auch Künstler. Doch für die Kreativität, wenn ich zum Beispiel juristische oder strategische Dinge gut entwickeln muss, brauche ich gedanklichen Freiraum. Im Kartoffelfeld bekomme ich einen freien Kopf. Wie das? Im Kartoffelfeld muss ich keine wichtigen Fragen richtig beantworten. Niemand redet dort mit mir, ich habe auch kein Handy dabei. Trotzdem muss ich mich sehr auf die ungewohnte körperliche Arbeit konzentrieren, weil ich ansonsten nichts ernten werde. Ich muss viel Mühe walten lassen, um schönen Kartoffelpflanzen beim Wachsen zusehen zu können. Diese Mühe und das ernannte Ziel sind Schnittmengen zwischen den beiden Berufen. Dabei sollte man erwähnen, dass Sie von dem Hof kommen, den Sie heute bewirtschaften, also einen Bezug zum Kartoffelanbau haben? Ich bin ein Hunsrücker Bauernkind und bewirtschafte heute den Hof, auf dem schon meine Großmutter, meine Eltern und meine Geschwister gelebt haben. In meinem zweiten Jahr als Anwältin habe ich ihn übernommen, erst verpachtet und später dann selbst bewirtschaftet. Seitdem pendeln Sie zwischen Stuttgart und dem Hunsrück? Man kann sagen, ich muss. Allerdings gibt es Zeiten, in denen ich mich intensiver um das Feld kümmern muss und Zeiten, in denen ich die Kartoffeln einfach wachsen lassen kann. Prinzipiell gilt: Je mehr ich die Kartoffeln einfach nur wachsen und machen lasse, desto besser werden sie. Und was die Distanz betrifft: Diese Entfernung brauche ich, um von der einen Welt in die andere zu kommen. Sie stellen diese beiden Welten auch auf der Internetseite Ihrer Kanzlei vor. Dass unsere Kanzlei Arbeitsrecht kann, hat sich inzwischen rumgesprochen. Wir sind aber auch Menschen. Dass ich mich um die Kartoffeln kümmere, dass ich sie zum Beispiel von den Kartoffelkäfern befreie, beruht auf demselben Verantwortungsgefühl und meinem Verständnis des Anwaltsberufs. Meine ganze Unterstützung lasse ich auch den Arbeitnehmern und Arbeitgebern zukommen, die ich vertrete. Außerdem sind beide Berufe mit viel Arbeit verbunden. Die manchmal hübsch dargestellte Romantik in Zeitschriften über das Landleben kenne ich nicht. Haben Sie von Kolleginnen und Kollegen schon einmal Rückmeldungen über Ihren Zweitberuf als Kartoffelbäuerin bekommen? Ja. Der Beruf ist häufig ein Gesprächsanker. Dadurch, dass der Beruf für Anwälte so exotisch ist, ist er oft ein Thema. Wir reden dann nicht über das Wetter oder Fußball, sondern über Kartoffeln.

Buchtipp

Cover Hüter deiner sieben SonnenHüter Deiner Sieben Sonnen. BoD – Books on Demand 2020, 26,99 Euro

Wissenschaftliche Mitarbeiter (m/​w/​d) für Legal Tech‑​Themen

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An unserem Standort Bonn suchen wir ab sofort einen qualifizierten Wissenschaftlichen Mitarbeiter (m/​w/​d), z. B. promotionsbegleitend, mit mindestens erstem, auch gerne zweitem Staatsexamen und hoher Affinität zu IT‑​Themen. Basierend auf der Software Lawlift customizen wir im kleinen Team für unterschiedlichste Mandate Vorlagen und Prozesse und entwickeln das Tool kanzlei‑​intern weiter. Programmier‑​Skills sind hierfür nicht erforderlich. Wenn Sie stabil juristisch‑​logisch denken, Interesse an betriebswirtschaftlichen Zusammenhängen und Lust auf Projektmanagement haben, bewerben Sie sich bei uns!

Wir bieten

  • Flexible Arbeitszeiten an ein bis zwei Wochentagen
  • Intensive Einbindung in unser anwaltliches Legal‑​Tech‑​Team
  • Attraktive Arbeitsbedingungen
  • Attraktive Vergütung
  • Sehr gutes Arbeitsklima mit flachsten Hierarchien
Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung!

Ihr Ansprechpartner

Alexander Schüßler Logo Redeker Redeker Sellner Dahs Rechtsanwälte PartG mbB Dr. Alexander Schüßler Willy‑​Brandt‑​Allee 11 53113 Bonn T +49 228 72625‐211 F +49 228 72625‐99

Datenschutz‑​Hinweis

Wir bitten Sie, uns keine personenbezogenen Daten besonderer Kategorien im Sinne von Art. 9 Abs. 1 DS‐GVO zu übermitteln, es sei denn, die Übermittlung derartiger Daten erscheint aus Ihrer Sicht zur Wahrnehmung Ihrer Rechte oder zur Erfüllung rechtlicher Pflichten aus dem Arbeitsrecht, dem Recht der sozialen Sicherheit und des Sozialschutzes erforderlich.

Die Rechts-Ethikerin Prof. Dr. iur. Dr. phil. Frauke Rostalski im Interview

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Impfpflicht im Kampf gegen das Coronavirus, drängende Fragen zum Klimaschutz, Folgen des Krieges auf europäischem Boden: Wir leben in einer Zeit, in der Politik und Recht gemeinsam vor der Herausforderung stehen, weitreichende Entscheidungen zu treffen. Als Mitglied des Deutschen Ethikrats beschäftigt sich die Kölner Rechtsprofessorin Prof. Dr. iur. Dr. phil. Frauke Rostalski mit dem komplexen Verhältnis zwischen Ethik, Politik und Recht. Auch ihr zweites Kernthema trifft den Zeitgeist: Die Frage, wie Systeme mit Künstlicher Intelligenz die juristische Arbeit verändern. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Prof. Dr. iur. Dr. phil. Frauke Rostalski wurde am 6. Januar 1985 in Bad Nauheim geboren. Ihr Studium der Rechtswissenschaften absolvierte sie an der Uni Marburg, von 2009 bis 2014 war sie dort als Wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. 2017 schloss sie ihre Habilitation zum Thema „Der Tatbegriff im Strafrecht“ ab, 2017 promovierte sie zusätzlich im Fach Philosophie. Ihre erste Professur erhielt sie 2018 an der Uni Köln. Im April 2020 wurde sie als Mitglied in den Deutschen Ethikrat berufen, seit 2021 ist sie Mit-Herausgeberin der „Zeitschrift für Digitalisierung und Recht“. Sie ist verheiratet und hat einen Sohn und eine Tochter.
Frau Prof. Dr. Dr. Rostalski, wie bewerten Sie in der heutigen Zeit das Verhältnis des Rechts zur Politik: Verstehen Sie es als einen Gegenpol oder sogar als eine Korrekturebene? Das Verhältnis der beiden Bereiche ist zu komplex, als dass man Recht als bloßen Gegenpol zur Politik beschreiben könnte. Politik bewegt sich in den Bahnen des Rechts: Insbesondere durch unsere verfassungsmäßige Ordnung wird politischem Handeln Schranken gesetzt. Gleichzeitig kommt der Politik eine rechtsgestaltende Funktion zu, so auch wenn sie neue Problemlagen meistern muss. Eine Korrekturebene bieten insbesondere die Gerichte, die politische Maßnahmen auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen. Eben dies ist durch die Gewaltenteilung intendiert. Welches Verhältnis hat das Recht zur Ethik? Die Frage betrifft ein altes und viel diskutiertes Problem, nicht nur der Rechtswissenschaft. Nicht zuletzt Kant widmete sich der Frage. Er beschreibt das Recht als die äußeren, zwingenden moralischen Gesetze, während die Ethik innere moralische Verpflichtungen betrifft. Dabei regeln sowohl das Recht als auch die Ethik das Miteinander der Menschen. Ich verstehe das Recht dabei als denjenigen Bereich an gesellschaftlichen Normen, die wir für ein Zusammenleben in Frieden als so wichtig einstufen, dass sie von staatlicher Seite erzwingbar sein müssen. Ich denke dabei etwa an strafrechtlich geschützte Verhaltensnormen wie das Tötungsverbot oder das Diebstahlsverbot. Das heißt aber nicht, dass die Ethik weniger bedeutsam wäre. Vielmehr ist unser gesamtes Miteinander von moralischen Normen durchdrungen. Es kann immer wieder geschehen, dass das, was wir bislang „lediglich“ dem Bereich der Ethik zugeschrieben haben, aufgrund eines gewandelten Zeitgeistes in seiner Bedeutung wächst und daher zu Recht erhoben wird. Auch im Hinblick auf neue gesellschaftliche Phänomene spielt die Ethik eine große Rolle – wenn es noch kein Recht gibt und wir aushandeln müssen, wie sich unser Recht etwa in Bezug auf Risiken durch die Digitalisierung gestalten soll. Das Recht wandelt sich durch die Digitalisierung. Um zunächst auf die Veränderungen in der juristischen Arbeit zu schauen: Welche Chancen bietet Legal Tech? Legal Tech-Anwendungen können die Rechtsanwendung erleichtern, beispielsweise durch Software, die bei der Sachverhaltserfassung unterstützt und in der anwaltlichen Praxis bereits verwendet wird. Weiterhin können sie Rechtsanwendung transparent machen und gerechtere Ergebnisse fördern. Beispielsweise könnte anhand des Einsatzes von KI eine Urteilsdatenbank geschaffen werden, die die Strafzumessung vergleichbarer machen kann. Insofern könnte sie einen Gegenpol zu subjektiv eingefärbten Entscheidungen bilden. KI-basierte Verhandlungsaufzeichnungen können die manuelle Protokollierung des Gerichtsverfahrens ersetzen. Legal Tech-Anwendungen wie zum Beispiel ein Vertragsgenerator kann es auch Nicht-Juristen erleichtern, Rechte wahrzunehmen. Gleichzeitig zeigt sich anhand dieses Beispiels bereits ein Risiko von Legal Tech-Anwendungen.
Rechtsanwendung setzt häufig eine umfassende und komplexe Wertung voraus. Dazu ist KI derzeit aber nicht in der Lage.
Nämlich? Aufgrund eines standardisierten Vorgehens könnten gerade die Besonderheiten des Einzelfalles aus dem Blick geraten. Rechtsanwendung setzt häufig eine umfassende und komplexe Wertung voraus. Dazu ist KI derzeit aber nicht in der Lage. Grundsätzlich besteht beim Einsatz von KI zudem die Gefahr, dass der Lernprozess einer KI nicht hinreichend nachvollzogen werden kann, so dass Fehler vielleicht nicht sichtbar werden. Wenn also KI zum Einsatz kommt, ist ein kritischer Umgang mit ihr zwingend erforderlich. Wo liegt die Grenze dessen, was digitale Technik im Recht leisten kann? Juristisches Arbeiten setzt die Berücksichtigung der Besonderheiten des Ein 19 zelfalls voraus. Aufgrund des hohen Abstraktionsgrads von Rechtsnormen müssen diese ausgelegt werden. Recht verlangt nach einer Abwägung – wir müssen die Gründe ermitteln, die für oder gegen eine bestimmte Entscheidung sprechen. Selbst wenn all dies in Zukunft von einer KI geleistet werden könnte, muss immer auch die Frage beantwortet werden, ob sie diese Aufgabe denn übernehmen soll. Ein anwaltliches Beratungsgespräch hat insbesondere im Strafrecht für den Einzelnen nicht nur die Funktion, Rechtsfragen zu beantworten. Ein Gerichtsprozess soll nicht einfach ein richtiges Ergebnis produzieren, vielmehr dienen Zivil- und Strafprozesse der Kommunikation. Im Hinblick auf das Strafrecht betrifft dies die Kommunikation zwischen dem – potenziellen – Täter sowie der Rechtsgemeinschaft. Dabei wird die Gesellschaft durch den Richter oder die Richterin vertreten. Diese Aufgabe können technische Systeme nicht leisten. Nicht zu vergessen ist, dass trotz aller Bemühungen – etwa zur optimalen Sachverhaltserfassung – immer auch Fehler in Gerichtsverfahren geschehen können. Es bedarf daher verantwortlicher Personen, die Entscheidungen treffen – auch dies kann nicht auf einen „Robo-Judge“ übertragen werden.
Ich bin allerdings nicht der Auffassung, dass eine solche Lücke existiert, denn in jedem Fall hat sich ein Mensch einer Technologie bedient – und ist der Verantwortliche für die damit verbundenen negativen Folgen.
Mit Blick auf die digitale Transformation der Gesellschaft: Ist in Ihren Augen die Frage, wer bei Systemen mit Künstlicher Intelligenz die Verantwortung trägt und damit haftet, bereits zufriedenstellend geklärt? In diesem Kontext wird häufig von einer Verantwortungslücke gesprochen. Damit ist gemeint, dass bei Fehlern der KI-Anwendungen niemand für negative Folgen haftet und damit die Verantwortung trägt. Das Problem resultiert daraus, dass sich die KI eigenständig weiterentwickelt und deswegen „Entscheidungen“ trifft, die für den Anwender oder die Anwenderin nicht immer vorhersehbar sind. Ich bin allerdings nicht der Auffassung, dass eine solche Lücke existiert, denn in jedem Fall hat sich ein Mensch einer Technologie bedient – und ist der Verantwortliche für die damit verbundenen negativen Folgen. Damit dies aber wiederum nicht das Aus für KI-Anwendungen bedeutet, weil sich ihrer aufgrund der Haftungsfolgen nur wenige bedienen möchten, müssen Kriterien für den sicheren und vertrauenswürdigen Einsatz von KI-Systemen erarbeitet werden. Und hier ist in letzter Zeit viel geschehen. Es besteht in der Rechtswissenschaft ein großes Forschungsinteresse im Bereich der Künstlichen Intelligenz. Welche neuen Job-Profile werden sich im Bereich der fortschreitenden Digitalisierung für die junge Generation der Jurist*innen ergeben? Aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung sollten sich junge Juristen und Juristinnen grundsätzlich darauf einstellen, in der Arbeitswelt mit KI konfrontiert zu sein. Es ist deswegen zu empfehlen, ein gewisses Grundverständnis zu entwickeln. Ferner könnte es in Zukunft notwendig sein, den vertrauenswürdigen Einsatz von KI-Anwendungen zu bewerten, sowohl durch den Anwender und die Anwenderin als auch übergreifend, zum Beispiel durch eine Behörde. Die Digitalisierung wird dazu führen, dass sich die Tätigkeit von Juristen und Juristinnen künftig verändern wird. Viele Aufgaben, die wir schon heute aufgrund ihrer Eintönigkeit eher als lästig empfinden, werden uns Technologieanwendungen abnehmen können. Dies wird dazu führen, dass wir in Teilen unser Berufsbild neu erfinden oder zumindest im Schwerpunkt anders als bislang zuschneiden müssen.

Deutscher Ethikrat

Im Zuge der Corona-Pandemie rückte der Deutsche Ethikrat ins Zentrum der Debatte, weil hier überdisziplinär über die ethischen Auswirkungen politischer Entscheidungen diskutiert wurde. „Der Deutsche Ethikrat beschäftigt sich mit den großen Fragen des Lebens“, heißt es auf der Homepage. Die Mitglieder werden vom Präsidenten des Deutschen Bundestages ernannt, Vorsitzende ist seit 2020 die Medizinethikerin Prof. Dr. med. Alena Buyx. Frauke Rostalski wurde 2020 in das Gremium berufen, kurz nach dem Ausbruch des Corona- Virus. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte sind rechtliche und ethische Fragen der Fortschritte im Bereich der Medizin und der Biotechnologie, Herausforderungen der digitalen Transformation für Recht und Ethik sowie aktuelle rechtliche und ethische Fragen im Umgang mit der Pandemie.

Anwaltsberuf: Es geht ums Ganze

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Anwält*innen sind gefragt als Anker in der Not, als juristische Ratgeber bei komplexen Fragen und Ruhepol selbst in brisanten Situationen. Hinzu kommen die Herausforderungen der digitalen Transformation, die das juristische Arbeiten sowie den Rechtsmarkt stark verändern. Damit das funktionieren kann, fordert die Branche einen Wandel: Mehr Freiheit durch neue Honorarmodelle, mentale Probleme raus aus der Tabuzone. Das Ziel: den Menschen hinter dem Anwaltsberuf als Ganzes zu betrachten. Damit er, im Sinne des Mandaten, seine beste Leistung abrufen kann. Ein Essay von André Boße

Im März dieses Jahres gründete sich ein neuer Verband für Jurist*innen: Der Bundesverband der Wirtschaftskanzleien (BDW) ist ein Zusammenschluss von derzeit 37 größeren deutschen Kanzleien, verbunden durch das Ziel, sich „gemeinsam für die fachlichen, strategischen und zukunftsorientierten Themen dieses wichtigen Segments des Rechtsmarkts in Deutschland einzusetzen“, wie es auf der BDW-Homepage heißt. Wie groß die Marktposition der beteiligten Kanzleien ist, zeigen ein paar Zahlen: Die Mitglieder des BWD erzielen zusammen pro Jahr mehr als zwei Milliarden Euro Umsatz, wichtige Arbeitgeber für Jurist*innen sind die Mitgliedskanzleien auch, insgesamt sind dort rund 5000 Anwält*innen tätig. Ein interessanter Teil der Struktur des Verbandes ist das Advisory Board, dem laut BDW-Homepage führende Jurst*innen angehören, die in Unternehmen angestellt sind: „So stellen wir sicher, dass der BWD immer auch den Blickwinkel der Mandanten berücksichtigt.“

Mehr Freiheit durch Erfolgshonorare

Wie aber ergibt sich dieser „Blickwinkel der Mandanten“ konkret? Der BDW hat gleich zu Beginn seiner Arbeit eine Reihe von Task Forces ins Leben gerufen, die anzeigen, welche Änderungsprozesse die Wirtschaftskanzleien anstoßen wollen. Ein interessanter Punkt ist zum Beispiel der Bereich der „Erfolgshonorare“: Viele Jahre lang war es Rechtsantwält*innen in Deutschland untersagt, Erfolgshonorare zu vereinbaren. Seit dem 1.10.2021 sind diese nun bei Streitwerten von bis zu 2000 Euro erlaubt – Auslöser dieser kleinen Reform ist die steigende Zahl von Legal-Tech-Unternehmen wie Flighright, die dank digitaler Methoden eine Vielzahl von kleinen, fast gleichgelagerten Fällen bearbeiten – und Kunden über risikolose Erfolgshonorare gewinnen.

Lawyer Wellbeing: Studienergebnisse

Von den vom Liquid Legal Institute für die Studie befragten Antwält*innen berichteten fast 70 Prozent, dass sie in ihrem Berufsleben schon einmal unter von ihrem Beruf verursachten mentalen Problem gelitten hätten. Mehr als 80 Prozent bestätigten, Kolleg*innen zu kennen, die unter mentalen Problemen leiden. Was dagegen nach Ausage der Studienteilnehmer größtenteils fehle, sei eine Hilfsstruktur: Rund 70 Prozent der Befragten gaben an, dass es für sie selbst oder die Kolleg*innen keine Hilfe gegeben habe und das auch kein Frühwarnsystem existiere, das Möglichkeiten aufzeigt, mentale Krisen früh zu erkennen. Eine große Mehrheit der Befragten stimmte zu, dass mentale Probleme nicht nur dazu führten, dass die anwaltliche Performance leide, sondern auch die Führungsqualitäten verringere. Die Studie „Lawyer-Wellbeing – The Silent Pandemic“ steht im Internet kostenlos zur Verfügung.
Der BDW fordert nun, die Idee der Erfolgshonorare weiterzudenken. Geleitet wird die Task Force von Volker Römermann, Honorarprofessor an der Humboldt-Universität Berlin und Vorstand der Wirtschaftskanzlei Römermann. „Wenn wir als junge Anwältinnen und Anwälte aus dem Studium kommen, dann glauben wir, dass wir in diesem Beruf eine Dienstleistung vollbringen. Dann crashen wir in die Wirklichkeit, und es kommen real existierende Mandanten, die fragen: ‚Was ist eigentlich dein Erfolg?‘ Daran messen sie uns, danach wollen sie uns bezahlen“, sagt Volker Römermann in einem Video- Clip, in dem er das Thema seiner Task Force vorstellt. Das Ziel dieser Untergruppe: eine erfolgsbezogene Vergütung für anwaltliche Tätigkeiten einzuführen – ein Bezahlmodell also, das für die Mandanten der Wirtschaftskanzleien im unternehmerischen Alltag längst Selbstverständlichkeit ist. „Wir müssen hier dem Bedarf und dem Interesse der Mandanten gerecht werden, wir brauchen da mehr Freiheit“, fordert Volker Römermann in seinem Statement.

Neue Position im Markt

Unternehmerisches Denken bei Anwält*innen zählt schon lange zu den zentralen Skills in Wirtschaftskanzleien. Nun sollen weitere Schritte folgen, sie betreffen – wie das Thema Erfolgshonorar zeigt – nun auch die Rahmenbedingungen und Strukturen, in denen die Jurist*innen tätig sind. Das ist unbedingt sinnvoll, denn jede Struktur beeinflusst das Handeln. Mit einer Erfolgshonorierung würde die Arbeit der Wirtschaftsanwält*innen ein gutes Stück weiter in den freien Markt rücken. Erkennbar ist dieser Trend schon jetzt, mit der Folge, dass Skills und Themen auf die Agenda rücken, die bislang in juristischen Tätigkeitsfeldern kaum auf dem Radar stehen und daher an den Universitäten häufig nicht genügend vermittelt werden. Was nicht heißt, dass sie nicht von großer Bedeutung sind. Jedoch wurde kaum über sie diskutiert. Und genau das ändert sich jetzt: Der Job der Jurist*innen in Wirtschaftskanzleien wird nun ganzheitlicher betrachtet.

Mentale Probleme eine stille Pandemie?

Der BDW hat eine weitere Task-Force zu einem Bereich gegründet, den man mit in einer Liste der zentralen Ziele eines erfolgsorientierten Verbands von Wirtschaftskanzleien nicht unbedingt erwartet: Lawyer Wellbeing. Impulsgeber, sich als Verband eingehend mit dem Wohlergehen der Anwaltschaft zu beschäftigen, ist die Studie „Lawyer Wellbeing – The Silent Pandemic“, die in diesem Jahr federführend vom Liquid Legal Institute erstellt wurde, einer interdisziplinären Plattform, der sich für ein neues Denken im Rechtsbereich engagiert. Mentale Probleme bei in Wirtschaftskanzleien tätigen Jurist*innen? „Bist du verrückt – Mental Health ist doch bei Jurist*innen kein Thema!“ – so, oder ähnlich sei häufig die Reaktion gewesen, als die Autoren der Studie ihr Thema benannten. „Mit dieser Haltung steht die Profession nicht allein da. Es ist eine natürliche spontane Reaktion auf die Frage zu einem oft tabuisierten Thema, die einen sehr sensiblen Lebensbereich von hochausgebildeten Expert*innen berührt“, heißt es im White Paper der Studie, das die Studienautor*innen im März 2022 im Magazin „Legal Tech Times“ der Legal-Tech-Plattform Future-Law veröffentlichten. Mentaler Stress ergebe sich für Jurist*innen in vielen Fällen bereits im Studium: „Selbstdisziplin ist die Kompetenz der Stunde“, so die Autor*innen. Häufig sei man als Einzelkämpfer* in unterwegs, der Druck, eine exzellente Note im Examen zu erzielen, sei allgegenwärtig, da diese „unwiderruflich über die weitere berufliche Zukunft entscheidet“.

BDW: Verband mit Leitbild

Der Bundesverband der Wirtschaftskanzleien in Deutschland (BDW) hat sich bei der Gründung im Frühling 2022 ein Leitbild gegeben, das einige bemerkenswerte Aspekte beinhaltet. So stehe er für eine „vielfältige, regelbasierte, weltoffene, verantwortungsbewusste, tolerante und demokratische Zivilgesellschaft und für eine lebendige und leistungsfähige Rechtsstaatlichkeit“ ein. Außerdem beachtet er die „Grundsätze der Diversität“ und betrachtet die nachhaltigen ESG-Kriterien (Environment, Social, Governance) als wesentlichen Bestandteil sowie Richtschnur des Verhaltens. In diesem Sinne positioniert sich der BDW nicht als Lobby-Verband, sondern als gesellschaftlicher Player.
Ist die Ausbildung schließlich geschafft, bleibe vom gelernten juristischen Arbeiten, also dem Ansatz, rechtliche Probleme zu erkennen und Lösungen vorzuschlagen, nicht mehr viel übrig. Nun würde der Nachwuchs darauf getrimmt, „auch unter Hochdruck einen ‚kühlen Kopf‘ zu bewahren, Mandanten in kritischen Fragestellungen – zunächst einmal – das Gefühl von Sicherheit zu geben, bei Verhandlungen das Poker Face aufzusetzen und – falls erforderlich – auch mal gegen den eigenen moralischen Kompass zu agieren“, heißt es in der Studie. Jurist*innen sollten also immer einen Ausweg sehen, jederzeit als Ratgeber*in ansprechbar sein und als „Fels in der Brandung zur Verfügung stehen, um Mandant*innen sicher und natürlich möglichst unversehrt durch den juristischen Dschungel zu geleiten, oft in prekären Situationen.“

Digitalisierung kann Stress steigern

Hinzu komme seit einigen Jahren nun noch der Druck sowie die Unsicherheit, die mit der Digitalisierung einhergehen: Steigender Kommunikationsaufwand, gigantische Mengen an Dokumenten und Daten, die von häufig genug veralteten IT-Systemen kaum zu bewältigen seien, dazu Themen wie Cyber-Sicherheit und Datenschutz: „Die Digitalisierung ist ein Brandbeschleuniger für die Verschlechterung des Gesundheitszustands“, heißt es in der Studie. Für eigene Ängste, Schwächen, Zweifel, Unsicherheiten bleibe da wenig Raum. Mehr noch: Alle diese Aspekte würden weiterhin tabuisiert. Doch das müsse aufhören, so die Forderung der Studienautor*innen. Schließlich gehe es um „nicht weniger als um den Menschen hinter der Rolle ‚Jurist*in‘ und seine Position in der modernen Arbeitswelt.“
Für eigene Ängste, Schwächen, Zweifel, Unsicherheiten bleibt wenig Raum. Mehr noch: Alle diese Aspekte werden weiterhin tabuisiert.
Wer nun auch weiterhin denkt, das Thema Wellbeing dürfe in der harten Arbeitsrealität keine Rolle spielen, schließlich wisse man als Nachwuchs, in welche Branche man sich begebe, und obendrein sei der Job gut bezahlt, der verkennt die Rolle, die Anwält*innen heute zu erfüllen haben. In seinem Vorwort zur Studie erklärt der Lebenskrisen-Berater Fritjof Nelting, warum es für ihn als Mandanten kein gutes Zeichen sei, wenn sein Anwalt ihm per Mail eine automatische Benachrichtigung mitsamt Entschuldigung schickt: Er sei im Urlaub, sodass es rund zwei Stunden dauern könnte, bis er Zeit für die Antwort habe. „Anwält*innen besitzen in dieser Gesellschaft eine exponierte und wichtige Position“, schreibt Nelting. „Damit sie ihre Arbeit auf gesunde Weise machen und vielleicht sogar Vorbilder für ein modernes und gut ausbalanciertes Leben werden, sind einige Änderungen notwendig.“ Das sei nicht nur im Sinne der Jurist*innen, sondern auch der Mandanten: „Ein gesunder Anwalt sei das Beste, was einem Mandanten passieren kann“ – und gerade in dieser Zeit, in der es wichtiger denn je sei, „einen resilienten und stabilen Anwalt an der Seite zu haben“.

Schlüsseljob in Kanzleien: Legal Hybrid

Die international tätige Consulting-Gruppe Henchman aus Belgien berät Anwält*innen und Kanzleien auf dem Weg, die anwaltliche Arbeit neu zu denken. Digitalisierung ist hier ein Kernthema. Im Henchman-Report „The must have legal tech stack of 2022“ geben Expert*innen Prognosen über die juristische Arbeit der Zukunft ab. In einem Beitrag skizziert der Legal-Tech-Berater Thomas Aertgeerts einige Schlüsselstellen in den Kanzleien der nahen Zukunft. Besonders interessant ist die Postion des „Legal Hybrid“: „Keine Technologie, sondern eine Person. Jemand, der die Bedürfnisse von Kanzleien erkennt und die notwenige Technologie anstößt, damit diese erfüllt werden kann. Ohne eine Person mit diesen Skills ist die jeweilige Kanzlei von der Gnade der Software-Entwickler abhängig.“ Sprich: Der „Legal Hybrid“ sorgt dafür, dass Wirtschaftskanzleien die digitale Transformation mit Aufwind bewältigen.