Berufsbild Arzt: Die Realität ist komplex

Der Ärztemangel ist eklatant, sowohl in Praxen als auch in Kliniken. Ausweg aus Überlastung und Unzufriedenheit kann eine neue Einstellung zum Beruf sein: In Zeiten des demografischen Wandels und der Digitalisierung wird der Arzt zum Coach für die Patienten und zur modernen Führungskraft für sein Team. Nötige Skills sind emotionale Intelligenz und die Gabe, zuzuhören. Von André Boße

Wer in den Suchmaschinen den Begriff „Ärztemangel“ eingibt, wird staunen: Alleine im Sommer 2018 sind in Zeitungen und Magazinen Dutzende Beiträge erschienen, in denen der Ärztemangel nicht nur auf dem Land, sondern auch in den großen Kliniken der Städte beklagt wird. So berichtete der NDR, dass in der größten Klinik von Mecklenburg-Vorpommern in Schwerin Operationen abgesagt werden mussten, weil nicht genügend Narkose-Ärzte im Dienst waren. Die Personaldecke sei so dünn, dass bereits ein Krankheitsfall den Dienstplan ins Wanken bringen würde, heißt es im Beitrag.

Umso überraschender eine Nachricht von der Bundesärztekammer, veröffentlicht Ende März dieses Jahres. In der heißt es: „Wie aus den Daten der Bundesärztekammer hervorgeht, waren im Jahr 2017 im Bundesgebiet 385.149 Ärztinnen und Ärzte ärztlich tätig. Dies waren gut 6500 mehr als im Vorjahr.“ Doch der Kommentar von Prof. Dr. med. Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), zur Ärztestatistik zeigt, wie das mit dem Ärztemangel in Einklang zu bringen ist. „Die Zahl der Ärztinnen und Ärzte in Deutschland steigt, aber wer nur Köpfe zählt, macht es sich zu einfach. Die Realität ist komplexer. Uns fehlen Arztstunden.“ Das Problem: Parallel zur leicht zunehmenden Zahl der Ärzte nehme in einer „Gesellschaft des langen Lebens“ der Bedarf an Ärzten weiter zu. Derzeit prognostiziert das Statistische Bundesamt bis zum Jahr 2040 eine Steigerung des Bevölkerungsanteils der über 67-Jährigen um 42 Prozent. Für das Statistikjahr 2016 meldet das Amt 19,5 Millionen Behandlungsfälle in den Krankenhäusern.

Demografischer Wandel

Aus der aktuellen BÄK-Statistik wird deutlich, dass der demografische Wandel auch die Ärzteschaft selbst betrifft. Der Anteil der unter 35-jährigen Ärzte sei zwar um 0,1 Prozentpunkte auf 18,9 Prozent gestiegen, aber gleichzeitig ist der Anteil der über 59-jährigen auf 18,4 Prozent angewachsen. Im Vorjahr waren es noch 17,9 Prozent. Während der Anteil der Krankenhausärzte, die jünger als 35 Jahre sind, bei 33,4 Prozent stagniert, erhöhte sich der Anteil der über 59-Jährigen um 0,3 Prozentpunkte auf 7,3 Prozent. Bei den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten stagnierte der Anteil der unter 40-Jährigen bei 2,7 Prozent. Zugleich ist der Anteil der mindestens 60-Jährigen um 1,3 Prozentpunkte auf 33,9 Prozent gestiegen.

Quelle: www.bundesaerztekammer.de

Hinzu kommen rund eine Milliarde Arztkontakte jährlich in den Praxen. Das sei, so Montgomery, schon heute einfach zu viel: „Ein großer Teil unserer Ärzte arbeitet am Limit. Gleichzeitig sind gerade in der jungen Generation viele nicht mehr bereit, sich auf Kosten der eigenen Gesundheit aufzureiben“, sagte der BÄK-Präsident.

Keine Zeit für Soft Skills

Für Montgomery liegen die Ursachen des Ärztemangels klar auf der Hand: „Es handelt sich hier in erster Linie nicht um ein Verteilungs-, sondern um ein Kapazitätsproblem: Wir bilden zu wenig Ärzte aus.“ Was nicht am mangelnden Interesse junger Menschen liegt: „Das Studium der Medizin ist nach wie vor sehr begehrt“, sagt Silke Wüstholz, die ein Coaching für Ärzte anbietet. „Es gibt immer noch wesentlich mehr Bewerber als freie Studienplätze.“ Was auch zu einem Defizit bei den Ausbildungsinhalten führe. Denn solange an den Unis die Nachfrage das Angebot übersteige, gebe es ihrer Meinung nach keinen Grund, das Studium sinnvoll zu ergänzen – zum Beispiel um Seminare zu Themen wie Stressbewältigung oder Patientenpsychologie. „Für Veränderungen der Studieninhalte im Bereich der Soft Skills besteht keine Notwendigkeit, denn es läuft ja oberflächlich betrachtet wie von selbst.“

Die Folgen bekommen die Ärzte zu spüren, die heute in Kliniken und Praxen über Überlastung stöhnen. Und diese sei nicht eingebildet, wie die BÄK-Statistik zeigt. So heißt es darin: „Niedergelassene Vertragsärzte arbeiten schon jetzt durchschnittlich mehr als 50 Stunden pro Woche.“ In den Krankenhäusern sei es ähnlich: „Nach Erhebungen des Marburger Bundes sind viele Ärzte im Krankenhaus (40 Prozent) 49 bis 59 Stunden pro Woche im Einsatz, jeder fünfte hat sogar eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 60 bis 80 Stunden, inklusive aller Dienste und Überstunden.“ Zum Vergleich: Das Statistische Bundesamt beziffert die durchschnittliche Wochenarbeitszeit aller Erwerbstätigen in Deutschland auf 35,6 Stunden.

Wo arbeiten die Ärzte?

Laut der BÄK-Ärztestatistik 2017 arbeiten von den gut 385.000 Ärzten rund 40 Prozent in ambulanten, knapp 52 Prozent in stationären Bereichen. Gut 2,5 Prozent sind bei Behörden oder Körperschaften tätig. Bei den Fachrichtungen liegt die Innere Medizin mit 13,9 Prozent vorne. Es folgen die Allgemeinmedizin (11,3 Prozent), die Chirurgie (9,6 Prozent) und die Anästhesiologie (6,3 Prozent). Blickt man nur auf die Ärztinnen, so liegt dort auf Platz drei neben der Allgemein- und der Inneren Medizin die Frauenheilkunde und Geburtshilfe (6,8 Prozent). Masterstudiengang Medizin-Ethik-Recht Die Martin-Luther-Universität Halle- Wittenberg bietet den Masterstudiengang Medizin-Ethik-Recht an. Weitere Infos unter: www.mer.uni-halle.de/m_mel

Ärzte arbeiten also deutlich länger als der Durchschnitt. Und doch fehlt noch immer die Zeit für Gespräche mit den Patienten. „Viele Ärzte sehen sich als Getriebene im System“, sagt Coach Silke Wüstholz. Doch aus ihrer Arbeit mit Ärzten weiß sie, dass sich viele genau das am meisten wünschen: „Sich ausreichend Zeit nehmen zu können für ihre Patienten.“ Da das im Alltag nicht möglich ist, würden sie irgendwann gehetzt und ratlos wirken. „Zumal die ökonomischen und administrativen Aufgaben enorm viel Zeit in Anspruch nehmen.“ Hinzu kommen in den Kliniken die Unterbesetzung und immer komplexere Krankheitsbilder. „Ein Teufelskreis“, wie Silke Wüstholz sagt.

Ethik statt Geld

Wie aber lässt sich die Situation verbessern? Gedanken dazu macht sich seit einigen Jahren Marion Badenhop, Geschäftsführerin des Coaching- und Beratungsinstituts MB-Consulting. In ihrer Arbeit mit Medizinern bildet sie Ärzte zu Coaches aus, damit diese in ihrem Arbeitsalltag ihren Patienten auch einen psychologischen Mehrwert bieten. Was nach einer weiteren Mehrbelastung klingt, ist für Marion Badenhop ein Lösungsansatz, damit trotz Ärztemangel die Patienten eine bessere Behandlung erhalten und die Ärzte selbst in ihrem Beruf zufriedener sind. Dafür sei zusätzlich ein Umdenken an anderer Stelle erforderlich:

„Der Blick der Politik und Gesellschaft auf den Ärzteberuf muss wieder eine stärkere ethische Relevanz erhalten, nicht eine vorherrschend monetäre“, fordert sie. Sonst bleibe der holistisch betrachtete Mensch auf der Strecke. „Damit dies nicht passiert, braucht es Zeit – und keine zu knapp kalkulierten Fallpauschalen.“ So müsste es dem Arzt zum Beispiel möglich sein, mehr für die Prophylaxe seiner Patienten zu tun – und auch diese Arbeit abrechnen zu können. Wie diese Prophylaxe konkret aussehen kann?

Marion Badenhop stellt sich beispielsweise „Informationsstunden“ in der Praxis vor: „Gern auch in der Kleingruppe, in der ein Arzt über die neuen technischen, digitalen Möglichkeiten zur Gesundheitsvorsorge berichtet, unterstützende Apps vorstellt und in denen er auch erläutert, warum es in Zukunft wichtig sein wird, parallel zum Patientengespräch Big Data zu pflegen: Weil sich nämlich mit Hilfe dieser statistischen Vergleichsdaten Risiken frühzeitiger erkennen lassen. Das spart auch den Kassen Geld. Ebenso wird auf diese Weise eine virtuelle Medizin und Betreuung auf Distanz möglich.“

Arbeiten im Ausland

Nach der Ärztestatistik haben im vergangenen Jahr knapp 2000 Ärzte Deutschland verlassen. Die beliebtesten Auswanderungsländer seien dabei wie auch in den vergangenen Jahren: die Schweiz (641), Österreich (268) sowie die USA (84). Für etwas Entlastung in der Bilanz sorge die weiterhin recht hohe Zuwanderung von Ärzten aus dem Ausland. Der Studie zufolge ist die Zahl der in Deutschland gemeldeten Ärztinnen und Ärzte aus EU-Ländern und aus so genannten Drittländern im Jahre 2017 um gut 4000 Ärzte auf 50.809 gestiegen.

Nach diesem Konzept werde der Arzt verstärkt zu einem Vorsorge-Dienstleister, Medizin-Kommunikator und Gesundheits-Coach. Dafür sind Kompetenzen wichtig, die weit über die medizinische Ausbildung hinausgehen. „Erforderlich sind psychologisches Know-how und Fertigkeiten im Kontext Gesprächsführung und Coaching“, zählt Maren Badenhop Voraussetzungen auf. Es geht also darum, emotionale Intelligenz zu entwickeln und die Kunst des Zuhörens neu zu lernen.

Arzt als Führungskraft

Auch glaubt Marion Badenhop, dass es nicht reicht, den direkten Arztkontakt in der Sprechstunde als einzigen Ort der Behandlung zu betrachten. „Wir müssen den Praxis- oder Klinikaufenthalt ganzheitlich als Behandlung ansehen – angefangen beim Empfang über die Wartephase hinweg bis zum Arztgespräch und zur Verabschiedung.“ Es entlastet die Ärzte, wenn sie davon ausgehen dürfen, dass das gesamte Praxis- oder Klinikteam zu diesem Ansatz beiträgt. Es komme dann verstärkt auf Teamarbeit an. Der Arzt erhält eine Rolle als Führungskraft, wichtig werden die passenden Leadership-Skills: Er gibt seinem Team spezifische Verantwortung und Vertrauen – und darf dann darauf setzen, „dass dieses den Patienten empathisch durch die oft belastenden Praxis- oder Krankenhausaufenthalte begleitet“, so Badenhop.

Diese Empathie sei unabdingbar, denn: „Die Seele bleibt Fußgänger“, sagt die Coach-Ausbilderin. Zwar bieten die neuen technologischen Möglichkeiten der Medizin Chancen, sie würden aber auch die Unsicherheit bei Patienten schüren: „Automatisierte Mammographie-Analysen, OP-Roboter, digitale Patientenakten & Co. verbessern selbstredend die Patientenversorgung. Das Problem ist jedoch, dass sie datengepflegt werden müssen – und das kostet Zeit. Die wiederum versucht der Arzt im Patientengespräch einzusparen, indem er parallel zu den Angaben des Patienten in den Computer schreibt und schaut.“ Der Arzt dürfe jedoch nicht zu einem reinen Patienten-Daten- Manager werden – schon alleine deshalb, weil das gar nicht seinem Selbstbild entspricht. „Ärzte haben einen hohen Anspruch an sich“, sagt Coach Silke Wüstholz. „Sie möchten sehr gute Mediziner sein, wollen keine Fehler machen und keine Schwäche zeigen.“ Klar, dass da der Druck steige. Mit negativen Folgen:

Digital Health Accelerator

Im Januar 2018 präsentierten in Berlin vier Innovationsteams aus dem Pilotprojekt „Digital Health Accelerator“ des Berliner Instituts für Gesundheitsforschung/Berlin Institute of Health (BIH) und zwei Startups aus der Charité – Universitätsmedizin Berlin ihre Digital-Health- Lösungen für den Klinikalltag. Die neuen Lösungen nutzen vor allem neue Bild- und Big-Data-Analyseverfahren sowie Sensorik für verbesserte Vorhersagen, Präventionskonzepte und personalisierte Behandlungsmöglichkeiten von schwerwiegenden Erkrankungen. Weitere Infos unter: www.bihealth.org Smart Hospital und Ethik Die Universitätsmedizin Essen hat ein neues Ethikgremium berufen, das sich dem kritischen Dialog rund um das „Smart Hospital“ widmen will. Weitere Infos unter: www.uk-essen.de

„In der Phase einer Überlastung wird das am schnellsten vernachlässigt, was einem guttäte. Sei es die Zeit mit Freunden, der Sport oder sonstige Hobbies“, so Silke Wüstholz. Als Coach rät sie den Ärzten, sich bei zu viel Stress professionelle Unterstützung außerhalb des medizinischen Umfelds zu holen. „In einem so anspruchsvollen Beruf wie dem des Arztes sollte es selbstverständlich sein, sich immer wieder selbst in einem vertraulichen Rahmen zu reflektieren.“ Bin ich noch der Arzt, der ich sein möchte? Achte ich genug auf mich selbst? Das seien die Kernfragen. Und um darauf Antworten zu finden, benötigt man eine Qualität, die Silke Wüstholz als Kernkompetenz betrachtet: ein hohes Maß an Selbstempathie.

Naturheilkundler Prof . Dr. Gustav Dobos im Interview

0

1999 eröffnete im Klinikum Essen Deutschlands erste Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin. Mit 20 Betten – und Gegenwind von klassischen Medizinern. Direktor ist von Beginn an Prof. Dr. Gustav Dobos, der wichtigste Wegbereiter der wissenschaftsbasierten Naturheilkunde in Deutschland. Im Gespräch erzählt der Mediziner, warum die Kunst des Zuhörens von so großer Bedeutung ist und warum er sich wünscht, die Naturheilkunde weitaus stärker in Therapien zu verankern. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Professor Dr. med. Gustav J. Dobos ist Direktor der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin, die 1999 an den Kliniken Essen-Mitte als Modelleinrichtung des Landes Nordrhein-Westfalen etabliert wurde. Ziel ist es, optimale Behandlungsansätze aus konventioneller Medizin und wissenschaftlich evaluierter Naturheilkunde zu kombinieren. Der 63-Jährige hat zudem an der Universität Duisburg-Essen den 2004 etablierten Stiftungslehrstuhl für Naturheilkunde der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung inne.

Prof. Dr. Dobos, es gibt ein Interview mit der TV-Moderatorin Bettina Böttinger, in dem sie davon berichtet, wie sie sich an Sie wandte und erzählt, geholfen hätten Sie schon alleine deshalb, weil Sie ihr zugehört haben. Wie wichtig ist die Kunst des Zuhörens?
Zuhören ist ein ganz wichtiger Teil von Diagnose und Therapie, denn als Ärzte behandeln wir die Menschen und nicht die Krankheit. Die individuelle Art, wie Ihr Körper auf Belastungen, aber auch auf Therapien reagiert, aber auch Ihre Lebensumstände und Ihre Biografie geben wichtige Hinweise auf die Ursachen ihrer Symptome und die bestmögliche Therapie.

Die Taktung in Praxen und Kliniken ist hoch. Bleibt überhaupt noch die Zeit zum Zuhören?
Ja, es stimmt, dass dem Zuhören im Alltag des Gesundheitssystems kaum mehr Raum gegeben wird, wenn die durchschnittliche Gesprächsdauer in einer Praxis zum Beispiel sieben Minuten beträgt. Aber es ist wichtig, sich diesen Freiraum dennoch zu schaffen.

Wie wird man ein guter Zuhörer?
Man muss echtes Interesse für den Menschen mitbringen. Man sollte die Patienten nicht vorschnell unterbrechen, weil man glaubt, das „Ende der Geschichte“ bereits zu kennen. Man muss sich auch bewusstmachen, dass der Patient eine andere Perspektive einnimmt als die eigene. Es gibt Kurse für Ärztekommunikation, zum Beispiel für sogenannte Breaking Bad News…

… also die Bekanntgabe einer schlechten Diagnose.
Hier kann man Gesprächsführungen üben. Hilfreich ist es aber auch, als Arzt regelmäßig zu meditieren oder eine Achtsamkeitspraxis zu pflegen. Dabei wird einem deutlich, dass es mehr gibt als die eigenen momentanen Gedanken und Gefühle.

Warum ist das Zuhören gerade für Ihren Bereich der Naturheilkunde bedeutsam?
Naturheilkunde zielt neben den Ursachen von Krankheit sehr stark auf die Gesundheitsressourcen des Patienten ab. Sie setzt auf die Selbstregulation des Körpers, die mit Hilfe der Naturheilkunde wieder in Gang kommen soll. Dafür ist es wichtig, die individuellen Gesundheitsressourcen – zum Beispiel soziale Einbindung oder eine Lieblingsbewegungsform wie etwa Tanzen – herauszufinden. Und das geht nur im Gespräch mit dem Patienten.

Es scheint mit Blick auf die Naturheilkunde nur zwei Meinungen zu geben: Die einen sagen, das sei die Rettung. Die anderen sagen, das bringt doch sowieso nichts. Welchen differenzierten Blick würden Sie sich auf die Naturheilkunde wünschen?
Einen fairen Blick, wie ich ihn mir auch für die konventionelle Medizin wünsche. Naturheilkunde ist keinesfalls die einzige Rettung, aber sie bietet sehr erfolgreiche Lösungsansätze, vor allem bei chronischen Krankheiten. Dort ist es eher so, dass die übliche Medikamentenmedizin irgendwann ausgereizt ist und langfristig mit Nebenwirkungen einhergeht.

„Wirkung der Naturheilkunde“

Seit bald 30 Jahren gibt es eine Reihe von Studien zu möglichen Wirkungen der Naturheilkunde. Diese Forschung zur modernen Naturheilkunde ist evidenzbasiert und bezieht auch Fragen des medizinischen Settings sowie den Placebo-Effekt ein. Ein Teil dieser Forschungsergebnisse ist bereits in Leitlinien des Fachgebiets eingeflossen, sagt Dobos. „Aber die verantwortlichen Kollegen ignorieren die Evidenz aus dem Bereich der Naturheilkunde oder picken sich vor allem das heraus, was ihre Disziplin nicht bedroht“, klagt er. Häufig seien das Aspekte wie Lebensstiländerungen, Entspannung oder Ernährungsumstellungen.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Nehmen Sie Schmerzkrankheiten: Zu uns in die Klinik kommen Migränepatienten, bei denen nach herkömmlicher Ansicht das Ende der Fahnenstange erreicht ist. Sie nehmen Triptane, das stärkste Migränemittel, das uns derzeit zur Verfügung steht – das aber den Nachteil hat, dass es bei häufigen Dosissteigerungen zu Herz- Kreislauf-Risiken sowie zu weiteren, medikamentenbedingten Kopfschmerzen führt. Unsere Patienten nehmen häufig bereits das Doppelte der erlaubten Dosis ein. Wir machen mit ihnen eine Triptan-Entwöhnung und üben ein Stufenschema ein, das es ihnen ermöglicht, mit Anfällen anders umzugehen. Vor allem aber lernen sie, achtsamer gegenüber den Vorzeichen und ihren persönlichen Belastungen zu werden – das ist notwendig, damit die Naturheilkunde helfen kann.
Ein weiteres Beispiel ist die Therapie mit Opiaten, die bei frischoperierten oder Tumorpatienten zur Kurzzeittherapie unerlässlich ist, die aber bei der falschen Indikation, wie beispielsweise einem chronischen Rückenschmerz, zur Entwicklung einer Sucht führen kann. Die Folgen davon können wir in den USA beobachten, wo ein falscher oder übermäßiger Gebrauch zu einer Krise führte, an der aktuell 40.000 Schmerzpatienten pro Jahr versterben.

Welche Entwicklung wird die Naturheilkunde mit Blick auf den demografischen Wandel nehmen?
Die Prävention von Krankheiten wird immer wichtiger, aber auch die sogenannte Selbstwirksamkeit: Wir können uns nicht mehr leisten, Therapien zu verordnen, die von den Patienten nicht befolgt werden, weil sie nicht davon überzeugt sind. Das erkennen Sie unter anderem an der mangelnden Einhaltung bei der Einnahme auch von wichtigen Medikamenten. Wir müssen verstärkt dafür sorgen, dass die Patienten wieder ein Gefühl für ihren Körper entwickeln, für das, was ihnen guttut. Dabei hilft uns die „Mind-Body-Medizin“, die Gesundheitspsychologie, Meditationsforschung und Entspannungstechniken einbringt.

Eine Studie konnte außerdem zeigen, dass die Arbeitszufriedenheit von Ärzten mit naturheilkundlichem Schwerpunkt deutlich höher war als im Vergleichskollektiv.

Wie beurteilen Sie aktuell die Situation in der Forschung in Ihrem Gebiet, wie innovativ sind die forschenden Mediziner?
Geforscht wird sehr viel in den USA, aber auch in China etablieren sich Zentren. In Deutschland gab es bisher nur ein einziges Projekt, das öffentlich mitgefördert wurde, dazu zwei kassenfinanzierte Akupunkturstudien. Insgesamt ist unsere Forschung daher noch vollständig von visionären Stiftungen abhängig. Das muss sich angesichts des Beitrags dringend ändern, den Naturheilkunde und „Mind-Body-Medizin“ zur Gesundheitsversorgung leisten.

Wie steht es um den Arbeitsmarkt für junge Mediziner, die Ihre Karriere im Bereich der Naturheilkunde starten wollen?
Das Interesse junger, aber auch erfahrener Mediziner an der Naturheilkunde ist sehr groß. Trotz des grassierenden Ärztemangels bewerben sich viele Ärzte bei uns initiativ. Retrospektiv betrachtet haben die bei uns in den vergangenen 20 Jahren ausgebildeten Ärzte beruflich gute Karrieren absolviert – vom universitären Lehrstuhl bis zur gut gehenden Praxis in Düsseldorf. Eine Studie konnte außerdem zeigen, dass die Arbeitszufriedenheit von Ärzten mit naturheilkundlichem Schwerpunkt deutlich höher war als im Vergleichskollektiv. Was mich persönlich sehr freut ist, dass unsere Assistenten eine Vielzahl von Stellenangeboten bekommen, weil der Stellenwert der Naturheilkunde in konventionellen Einrichtungen ständig steigt. Das war zu meiner Assistentenzeit noch ganz anders.

Ihre ersten Erfahrungen mit der Naturheilkunde haben Sie in China gesammelt, was hat Ihnen an der Traditionellen Chinesischen Medizin besonders imponiert?
Interessiert hatte mich die asiatische Medizin schon immer. Zunächst war ich in China aber eher enttäuscht, mit wie wenig Empathie die traditionellen Behandlungen abliefen. Als ich dann aber mitbekam, wie ein Mann, der nach einem psychischen Trauma die Sprache verloren hatte und monatelang „sprachlos“ war, nach 20 Minuten Akupunktur mit vier Nadeln wieder zu reden begann, hatte ich dieses ganz starke Aha-Erlebnis, dass Medizin mehr ist als eine bestimmte Therapie. Bei uns hätte dieser Mann vermutlich Psychopharmaka verschrieben bekommen.

Dobos ist Autor verschiedener Bücher. Kürzlich erschienen ist sein Buch: „Endlich schmerzfrei und wieder gut leben“. (Scorpio Verlag, 2018)Jetzt kaufen bei Amazon

Digitale Gesundheitstechnologien

0

Durch den Einsatz digitaler Technologien könnten im deutschen Gesundheitswesen bis zu 34 Milliarden Euro jährlich eingespart werden. Das ist das Ergebnis der McKinsey-Studie „Digitalisierung im Gesundheitswesen: die Chancen für Deutschland“. Die Analysten haben für ihre Untersuchung 26 Technologien untersucht. Von Christoph Berger

Die digitalen Technologien mit dem größten Nutzenpotenzial sind laut der Untersuchung und nach Auswertung von mehr als 500 internationalen Forschungsdokumenten die elektronische Patientenakte, elektronische Rezepte sowie webbasierte Interaktionen zwischen Arzt und Patient. „Das Potenzial von 34 Milliarden Euro setzt sich einerseits aus Effizienzsteigerungen, andererseits aus Reduzierung unnötiger Nachfrage zusammen“, erläutert McKinsey-Partner Stefan Biesdorf die Studienergebnisse.

Die geringere Nachfrage ergebe sich, wenn beispielsweise Doppeluntersuchungen vermieden, unnötige Krankenhauseinweisungen verhindert und durch bessere Qualität der Folgebehandlungen minimiert würden. Alleine eine einheitliche elektronische Gesundheitsakte (EHR, Electronic Health Record) würde aufgrund schnellerer und reibungsloserer Abläufe zu einer Einsparung von 6,4 Milliarden Euro führen – Rang 1 unter den untersuchten Technologien. Doch Biesdorf nennt die Grundvoraussetzung für deren Akzeptanz: „Patienten werden die elektronische Gesundheitsakte aber nur akzeptieren, wenn sie die Kontrolle über ihre Daten behalten, also selber entscheiden, welcher Arzt oder welches Krankenhaus darauf Zugriff bekommt.“

Mit digitalen Gesundheitsdiensten sind aber nicht nur Kostensenkungen verbunden. Zwar hätten Teleberatungen auch ein Nutzenpotenzial von bis zu 4,4 Milliarden Euro, wie es in der Studie heißt, gleichzeitig könnten sie aber auch den Personalmangel – insbesondere in ländlichen Regionen – abmildern. Ganz abgesehen vom Zeitaufwand für Arzt- und Facharztbesuche. Und auch das Pflegepersonal könne über die mobile Anbindung an Patienteninformationen besser in die Versorgung eingebunden werden.

Studie

„Digitalisierung im Gesundheitswesen: die Chancen für Deutschland“:
https://bit.ly/2ODzduL

Nutzer vom Gebrauch digitaler Gesundheitstechnologien sind vor allem die Leistungserbringer: Zu 70 Prozent würden Ärzte und Krankenhäuser von dem Einsatz profitieren. Die restlichen 30 Prozent werden den Krankenversicherungen zugeordnet. Doch: „Im europäischen Vergleich ist Deutschland bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen abgehängt“, stellt Volker Amelung fest, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands Managed Care (BMC). BMC ist Kooperationspartner für die Studie gewesen. An finanziellen Mitteln und technologischen Voraussetzungen fehle es seiner Meinung nicht. Dann schon eher an der Haltung: „Im deutschen Gesundheitswesen gibt es viele Akteure, für die der Status-quo besser ist als die Veränderung durch die Digitalisierung.“

KI-Software identifiziert Symptome

Dr. Alexander Meyer, Informatiker und Mediziner in Ausbildung zum Facharzt für Herzchirurgie am Deutschen Herzzentrum Berlin, hat ein System entwickelt, das Komplikationen nach einer Herzoperation voraussagen kann, noch bevor es zu ersten Symptomen kommt. Von Christoph Berger

Zur Person

Dr. Alexander Meyer wurde bereits 2017 in das „Clinician Scientist Program“ am Berlin Institute for Health (BIH) der Charité und des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin aufgenommen. Außerdem gehört er zu den Studienleitern (PI) des durch das Bundesministerium für Forschung und Bildung geförderten neuen Berliner Zentrums für Maschinelles Lernen (BZML). Das Förderprogramm ermöglicht Ärztinnen und Ärzten eine strukturierte Facharztweiterbildung mit genug „geschützter Zeit“ für klinische und grundlagenorientierte Forschung. Dabei geht es vor allem um Translation, also die Umsetzung von Ergebnissen der Grundlagenforschung in der klinischen Anwendung. Weitere Infos zum Berliner Zentrum für Maschinelles Lernen:

https://bit.ly/2E4RUUb

Speziell bei der intensivmedizinischen Nachbehandlung von Patienten, die am Herzen operiert wurden, gibt es eine Reihe bekannter postoperativer Komplikationen. Je früher diese erkannt werden, desto besser können sie behandelt werden. Doch gerade in Phasen besonders hoher Arbeitsbelastung und angesichts einer Vielzahl unterschiedlicher Überwachungsdaten kommt es immer wieder zu Fällen, in denen Komplikationen erst spät diagnostiziert werden.

Diese Situation im Hinterkopf, haben Dr. Alexander Meyer und sein Team ein Monitoring-System entwickelt, das sämtliche Messwerte in Echtzeit in Bezug zueinandersetzt und sie hinsichtlich erster Anzeichen drohender Komplikationen auswertet. Die Ergebnisanalysen basieren dabei auf Messwerten von über 11.000 intensivmedizinischen Behandlungen am Deutschen Herzzentrum Berlin (DHZB), mit denen das System gefüttert wurde. Bei ihm handelt sich somit um eine künstliche Intelligenz.

Anhand des Datenabgleichs kann die Software Symptome identifizieren, noch lange bevor sie für Ärzte und Pflegekräfte ersichtlich werden. Potenziell lebensbedrohliche Zustände können somit vorausgesagt und rechtzeitig durch entsprechende therapeutische Maßnahmen vermieden werden. Das System wird dabei immer besser – denn es lernt anhand immer neuer Messdaten und entsprechender Verläufe immer weiter.

Derzeit läuft das System am DHZB allerdings noch im Textbetrieb – und ausschließlich zu wissenschaftlichen Zwecken. Doch ein vorläufiges Fazit hat Meyer bereits gezogen: „Stark vereinfacht gesagt, zeigen unsere Daten, dass postoperative Komplikationen mit Hilfe der neuen Software tatsächlich früher und zuverlässiger vorausgesagt werden konnten, als es dem Menschen im klinischen Alltag möglich wäre – und dass das System immer besser wird, je mehr es lernt.“

Zudem fügt er an, dass Big Data und künstliche Intelligenz in der Medizin zwar großes Potenzial hätten, bislang allerdings nur wenige praktische Anwendungen entwickelt und retrospektiv evaluiert worden seien. Dabei sei das Interesse der Fachwelt groß. So sind auch seine Auswertungen und Ergebnisse in der medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet Respiratory Medicine“ veröffentlicht worden.

Und, so Meyer: 2019 könne das System in Serie gehen. Er sagt: „Wir können und wollen dem Intensivmediziner die Entscheidungen nicht abnehmen. Aber wir wollen ihm dabei helfen, die richtige Entscheidung sehr früh zu treffen – und dem Patienten damit vielleicht das Leben zu retten.“

Wissen aufbauen

0

Die Ärztliche Weiterbildung unter anderem zum Facharzt erfolgt in Deutschland nach den Weiterbildungsordnungen der Landesärztekammern. Die wiederum basieren auf der (Muster-)Weiterbildungsordnung der Bundesärztekammer. Der karriereführer ärzte bietet hier eine Auflistung der möglichen Spezialisierungen.

Fachgebiete, Facharzt- und Schwerpunktkompetenzen

  1. Gebiet Allgemeinmedizin
  2. Gebiet Anästhesiologie
  3. Gebiet Anatomie
  4. Gebiet Arbeitsmedizin
  5. Gebiet Augenheilkunde
  6. Gebiet Biochemie
  7. Gebiet Chirurgie
    Facharzt/Fachärztin für Allgemeinchirurgie
    Facharzt/Fachärztin für Gefäßchirurgie
    Facharzt/Fachärztin für Herzchirurgie
    Facharzt/Fachärztin für Kinderchirurgie
    Facharzt/Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie
    Facharzt/Fachärztin für Plastische und Ästhetische Chirurgie
    Facharzt/Fachärztin für Thoraxchirurgie
    Facharzt/Fachärztin für Viszeralchirurgie
  1. Gebiet Frauenheilkunde und Geburtshilfe
    Schwerpunkt Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin
    Schwerpunkt Gynäkologische Onkologie
    Schwerpunkt Spezielle Geburtshilfe und Perinatalmedizin
  1. Gebiet Hals-Nasen-Ohrenheilkunde
    Facharzt/Fachärztin für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde
    Facharzt/Fachärztin für Sprach-, Stimm- und kindliche Hörstörungen
  1. Gebiet Haut- und Geschlechtskrankheiten
  2. Gebiet Humangenetik
  3. Gebiet Hygiene und Umweltmedizin
  4. Gebiet Innere Medizin
    Facharzt/Fachärztin für Innere Medizin
    Facharzt/Fachärztin für Innere Medizin und Angiologie
    Facharzt/Fachärztin für Innere Medizin und Endokrinologie und Diabetologie
    Facharzt/Fachärztin für Innere Medizin und Gastroenterologie
    Facharzt/Fachärztin für Innere Medizin und Hämatologie und Onkologie
    Facharzt/Fachärztin für Innere Medizin und Kardiologie
    Facharzt/Fachärztin für Innere Medizin und Nephrologie
    Facharzt/Fachärztin für Innere Medizin und Pneumologie
    Facharzt/Fachärztin für Innere Medizin und Rheumatologie

Neben den aufgelisteten Fachgebieten, Facharzt- und Schwerpunktkompetenzen gibt es noch zahlreiche Zusatz-Weiterbildungen von Akupunktur bis Tropenmedizin in der Weiterbildungsordnung der Bundesärztekammer.

Medizin, die schmeckt – Kultur-, Buch- und Linktipps

0

GEBURT EINER WELTMARKE: HISTOR ISCHER ROMAN ÜBER DAS LEBEN VON JACOB SCHWEPPE

Cover-Der-Limonaden-MannSeine Idee für ein medizinisches Produkt prägt heute eine Weltmarke. Und die Liebe verhalf ihm einst zu diesem Geniestreich. Mit kohlensäurehaltigem Wasser, auch Sodawasser genannt, gelang dem als Juwelier ausgebildeten Jacob Schweppe der Durchbruch. Ende des 18. Jahrhunderts revolutionierte sein Getränk die gesamte Lebensmittelindustrie. Doch vor allem die Geschichte hinter der Erfindung des Bitter Lemon arbeitet Günther Thömmes in seinem neuen historischen Roman auf. In Rückblenden erzählt, taucht der Leser in das Leben Schweppes und in eine ungewöhnliche Liebesgeschichte ein, aus der die Idee zur Herstellung von Bitter Lemon entstand. Doch kann seine Erfindung auch der Frau, die er liebt, das Leben retten? Und nebenbei auch noch einen Mann aus dem Weg räumen, der kein Mitleid verdient? Heute ist Jacobs Nachname weltbekannt, er selbst wurde jedoch – zu Unrecht – fast vergessen.

Günther Thömmes: Der Limonadenmann oder Die wundersame Geschichte eines Goldschmieds, der der Frau, die er liebte, das Leben retten wollte und dabei die Limonade erfand. Gmeiner 2018, 15 Euro.

GÜTE- UND MITGEFÜHLS-MEDITATIONEN

Auch schwere psychische Störungen wie Borderline-Störungen, Depressionen oder Schizophrenie lassen sich mit den Methoden „compassion-based interventions“ (CBIs) und „Loving Kindness Meditation“ (LKM) behandeln und lindern. Das ist das Ergebnis einer Übersichtsarbeit von Johannes Graser, Universität Witten/Herdecke (UW/H), und Ulrich Stangier von der Frankfurter Goethe-Universität . Ebenso zeige sich, schreiben die Autoren, dass neben den Effekten auf die Symptomatik der Störungen CBIs vor allem auch gegen Selbst-Abwertung und Scham gut helfen. LKM steigere den positiven Affekt, also die Häufigkeit von Glücklichsein, positiver Stimmung oder Optimismus. Ihre Studie veröffentlichten die Wissenschaftler in der Fachzeitschrift Harvard Review of Psychiatry.

DVD – THE ANSWER TO CANCER

Cover The answer to cancerDie Filmemacherin Susanne Aernecke hat sich auf die Suche nach alternativen Krebsheilmethoden begeben. In Begegnungen mit Wissenschaftlern und Ärzten zeigt sich, dass nicht nur die asiatische Medizin, sondern auch die westliche Forschung in der Nano-Medizin ein neues Verständnis von Krebs entwickelt und nach Wegen aus der Sackgasse der bisherigen Therapien sucht. Zu sehen sind unter anderem Interviews mit Dr. Prasantha Banerji, Dr. Miguel Corty, Dr. Michaela Dane, Dr. Karl Forchhammer und Dr. Norbert Kriegisch. Es handelt sich um den ersten Dokumentarfilm über die Erfolge der Homöopathie bei der Krebstherapie mit Einblicken in den aktuellen Stand von Therapie und Forschung.

Susanne Aernecke: The Answer to Cancer – Der andere Weg. Scorpio 2018, 19,90 Euro.

PIONIERARBEIT: ASSISTENZHUNDE

Der gemeinnützige Verein Vita e.V. Assistenzhunde stellt Menschen mit körperlicher Behinderung – Kindern und Erwachsenen – einen Assistenzhund zur Seite und verhilft ihnen so zu mehr Unabhängigkeit und Lebensqualität. Das neue an dem Konzept war bei der Vereinsgründung die Ausweitung auf körperlich behinderte Kinder und Jugendliche – ein Maßnahme, die sich inzwischen als Erfolg herausgestellt hat: Mit der Ausbildung von Kinderteams leistete VITA europaweit Pionierarbeit und bildete 19 Kinderteams bis Ende 2013 aus. Weitere Infos unter: www.vita-assistenzhunde.de

VOM EINZELLER ZUR KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ

Cover von den Bakterien zu BachWas ist der menschliche Geist und wie ist er überhaupt möglich? Daniel C. Dennett ist der weltweit wohl bedeutendste Fürsprecher von Materialismus, Aufklärung und Wissenschaft. In seinem aktuellen Buch „Von den Bakterien zu Bach – und zurück – Die Evolution des Geistes“ wagt er einen Rundumschlag. Es handelt sich um eine Erzählung von den Ursprüngen des Lebens über die Geistesgrößen der Menschheit wie Johann Sebastian Bach, Marie Curie oder Pablo Picasso bis hin zur Künstlichen Intelligenz.

Daniel C. Dennett: Von den Bakterien zu Bach – und zurück – Die Evolution des Geistes. Suhrkamp/Insel 2018, 34 Euro.

VON DER NATUR INSPIRIERT: IMMUNTHERAPIEN DURCH SPINNENSEIDE

Spinnenseide gewährleistet, dass spezielle medizinische Wirkstoffe unbeschädigt ins Zentrum von Immunzellen gelangen und hier ihre volle Wirkung entfalten können. Forscher der Universität Bayreuth, der LMU München sowie der Universitäten Genf und Freiburg in der Schweiz haben zusammen mit der Firma AMSilk aus künstlicher Spinnenseide Transportpartikel entwickelt, die in der Lage sind, die Effizienz von Immuntherapien gegen Krebs oder Tuberkulose signifikant zu steigern. Sie können zudem für vorbeugende Impfungen gegen Infektionskrankheiten oder für die Impfstoff-Lagerung in den Tropen eingesetzt werden. Weitere Infos unter: www.uni-bayreuth.de

PLÄDOYER FÜR EINE NEUE MEDIZIN

Cover Heilen mit der Kraft der NaturDie Schulmedizin grenzt die Naturheilkunde noch immer aus, dabei hat sich unsere Gesellschaft längst entschieden: Denn zwei Drittel aller Patienten wollen naturheilkundlich behandelt werden. In seinem Buch „Heilen mit der Kraft der Natur – Meine Erfahrung aus Praxis und Forschung – Was wirklich hilft“ erzählt Prof. Dr. med. Andreas Michalsen, Chefarzt am Immanuel Krankenhaus Berlin und Professor für Naturheilkunde der Charité Berlin, warum er den konventionellen Pfad der Medizin verlassen hat und welches Potenzial der Natur er mit seinen Patienten täglich neu entdeckt.

Prof. Dr. Andreas Michalsen: Heilen mit der Kraft der Natur – Meine Erfahrung aus Praxis und Forschung – Was wirklich hilft. Suhrkamp 2017, 19,95 Euro.

ÜBERBRINGUNG SCHLECHTER NACHRICHTEN

Jalid Sehouli, Chefarzt für Gynäkologie an der Berliner Charité, hat intensiv nach Leitlinien gesucht, schlechte Nachrichten gut zu überbringen. Denn dies ist eine hohe Kunst. In seinem Buch verbindet er hilfreiche Ratschläge für die Besprechung existenzieller Situationen mit Geschichten aus seiner ärztlichen Praxis. Die lebensnotwendige Bedeutung von Patientengesprächen wird so spürbar und bietet jedem, der schwierige Nachrichten zu überbringen hat, Anregung.

Prof. Dr. Jalid Sehouli: Von der Kunst, schlechte Nachrichten gut zu überbringen. Kösel 2018, 20 Euro.

GEWEBE AUS DEM 3-D-DRUCKER

Mediziner forschen gemeinsam mit Ingenieuren und Naturwissenschaftlern am Aufbau von funktionellem Gewebe im Labor, dem sogenannten Tissue Engineering (TE). Am CANTER (Centrum für Angewandtes Tissue Engineering und Regenerative Medizin), einem Zusammenschluss der Hochschule München und der Kliniken von LMU und TU München, begeben sich in einem Forschungsprojekt auf die Suche nach besseren Lösungen zur Herstellung von Gewebe mit 3-D-Druckern. Entwickelt wurde beispielsweise eine vollkommen neue Bioprinting-Plattform für das 3-D-Drucken von künstlichem Gewebe, geforscht an einem verbesserten Verfahren zur Herstellung und Regeneration von Knorpel. Nun stehen zusätzlich neue Methoden zu Herstellung künstliche Sehnen und Enthesen, also dem Übergang vom Knochen zur Sehne, für die klinische Anwendung im Fokus. Auch Gewebepatches aus Herzmuskelzellen und dem Protein Kollagen, die funktionell und zur Kontraktion fähig sind, werden für das Wirkstoffscreening von Arzneimitteln entwickelt.

… das letzte Wort von Andrea Zug

0

Andrea Zug wurde 1984 als eines von sechs Kindern im Rheinland geboren. Für ein Studium der Sozialarbeit zog sie 2007 nach Esslingen. Seit einigen Jahren arbeitet sie, inzwischen in Teilzeit, als Sozialarbeiterin in der Sozialpsychiatrie in Stuttgart.
Mit acht Jahren begann Andrea Zug außerdem, klassischen Gitarrenunterricht zu nehmen. Später folgte Gesangsunterricht. Und seit Sommer 2014 arbeitet sie auch als Sängerin. Im Stuttgarter Gospelchor „Gospel im Osten“ (GiO) sang sie bis Anfang 2015 als Solistin – unter anderem auch mal im Rahmen eines SWR-Fernsehbeitrags. 2015 nahm sie an dem Musikshowformat „The Voice Of Germany“ teil. Dort konnte sich Andrea Zug gegen 10.000 Mitbewerber durchsetzen und schaffte es im Team von Andreas Bourani bis in die „Battles“. Die Fragen stellte Christoph Berger

Frau Zug, Ihre Leidenschaft für Musik gibt es bei Ihnen seit Kindertagen. Doch nach der Schule haben Sie sich erst einmal für ein Studium der Sozialarbeit entschieden. Warum fiel die Wahl auf dieses Fach?
Ich war ein sehr empfindsames Kind. Besonders in Jugendjahren war ich stark adipös und habe in Folge von Mobbingerfahrungen sehr unter dieser, meinem Selbst und dem Leben gelitten. Vermutlich habe ich deshalb kein Vertrauen darin gehabt, dass ich die Prüfung an der Musikhochschule bestehen würde und mich aus Angst dafür entschieden, diese gar nicht erst zu absolvieren.

Und vielleicht habe ich mich damals genau wegen dieser eigenen Unsicherheiten schon immer für alle Themen interessiert, die den Menschen betreffen – sei es aus biologischer, medizinischer, psychologischer oder sozialer Sicht. Besonders innerpsychische und interaktionelle Prozesse fand ich äußerst spannend. Mit Hilfe einer Außensicht habe ich versucht, ein Verständnis für mich und meine Umwelt zu entwickeln. Daraus ist der Wunsch entstanden, nicht nur mir selbst, sondern auch anderen Menschen zu helfen. So wollte ich relativ früh in meinem Leben schon Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin werden. Die Tätigkeit im Feld der Sozialen Arbeit sollte nur einen Zwischenschritt darstellen. Und tatsächlich verfolge ich diesen Plan noch immer. Im kommenden Sommer werde ich berufsbegleitend den Master der Sozialen Arbeit beginnen, um im Anschluss die Ausbildung zur Psychotherapeutin machen zu können.

Meine Leidenschaft zur Musik blieb jedoch über all die Jahre hinweg weiterhin bestehen. Meine Hoffnung war es immer, meine Musikalität in die Arbeit mit Menschen integrieren zu können.

Spielt die Musik bei Ihrer Arbeit in der Sozialpsychiatrie denn eine Rolle?
Da ich immer noch in Teilzeit in der Gemeindepsychiatrie tätig bin, spielt sie tatsächlich sogar ganz aktuell eine Rolle. Erst kürzlich habe ich gemeinsam mit einer Kollegin ein kleines, internes Projekt gestartet: Unsere Dienststelle ist umgezogen und wir haben für die Eröffnungsfeier einen Chor gegründet, der sowohl aus Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, als auch aus Klientinnen und Klienten besteht. Die Eröffnungsfeier hat vor wenigen Tagen stattgefunden und unser erster gemeinsamer Auftritt war ein voller Erfolg. Besonders schön empfand ich den Moment, als wir gemeinsam mit den Gästen sangen. In solchen Momenten entsteht unheimlich viel Energie und Verbindung zwischen allen Singenden.

Mein Job als Sozialarbeiterin ist es, für meine Klientinnen und Klienten da zu sein und meine eigenen Bedürfnisse hintenanzustellen. Nicht umgekehrt.

Ansonsten trenne ich aber zwischen meiner Tätigkeit als Sängerin und als Sozialarbeiterin. Es kommt für mich nicht in Frage, bei Veranstaltungen zu singen, bei denen Klientinnen und Klienten von mir anwesend sein sollen. Nicht, weil ich sie von etwas ausschließen möchte. Es wäre in meinen Augen aber eine Art Rollentausch, der nicht sein darf. Meine Klientinnen und Klienten sollen mich nicht für meinen Gesang und meine ‚Selbstdarstellung‘ bewundern. Das würde ich als missbräuchlich empfinden. Mein Job als Sozialarbeiterin ist es, für sie da zu sein und meine eigenen Bedürfnisse hintenanzustellen. Nicht umgekehrt. In meinen Augen wäre das eine Ablenkung und Störung in der Beziehung zu ihnen.

Aber einige Ihrer Klienten wissen, dass Sie nicht nur als Sozialarbeiterin arbeiten?
Vereinzelt haben Klientinnen und Klienten natürlich durch die Medien von meinem Zweitjob erfahren. Punktuell gibt es also immer mal wieder Momente, in denen meine Tätigkeit als Sängerin zum Thema gemacht wird. Allerdings denke ich, dass es mir ganz gut gelingt, den Fokus von mir zurück zum Klienten zu richten und ihnen mitzuteilen, dass ich mich zwar freue, dass sie Interesse an mir und meiner Tätigkeit haben, aber es in der folgenden Gesprächseinheit um sie gehen soll.

Einen kleinen Chor anzubieten – so wie ich es aktuell tue – finde ich hingegen sehr stimmig. Hier geht es nicht um mich als Sängerin. Vielmehr geht es darum, meine Musikalität zu nutzen, um Menschen zum Singen zu bringen, weil ich fest davon überzeugt bin, dass gemeinsames Musizieren therapeutisch wirken kann.

Wie es Ihnen selbst auch hilft?
Genau. Ich selbst habe zum Beispiel das Singen immer als einen sehr heilsamen Prozess erlebt. Besonders in den vereinzelten Gesangsstunden, die ich im Laufe der Jahre genommen habe, erlebte ich Heilung von meinen Ängsten und Unsicherheiten. Dies begann bereits bei den Achtsamkeitsübungen und anschließenden Atemübungen zu Beginn einer Stunde. Sich loszulösen von inneren Blockaden – von leisen, zu lauten Klängen –, in die Einheit von Körper, Geist und Seele zu gelangen, hat mich massiv gefordert und meine Gesanglehrerin sicher das ein oder andere mal verzweifeln lassen. Denn es fiel mir unglaublich schwer, loszulassen. Aber irgendwann gelang es mir dann und mein erster öffentlicher Auftritt war vor 2000 Leuten in der Stuttgarter Liederhalle. Ab diesem Moment verselbstständigte sich mein musikalisches Leben und ich konnte mich nebenberuflich selbstständig machen. Aber nicht nur mein musikalisches Leben veränderte sich. Ich fühlte mich endlich so befreit und lebendig, wie nie zuvor in meinem Leben.

Ein lohnenswertes Therapieergebnis…
… ja, ein Ergebnis, dass ich mir natürlich auch für meine Klientinnen und Klienten wünsche. Es muss ja nicht die große Karriere sein. Und Musik ist auch nicht für jeden das passende Medium. Aber es reicht, wenn bei einem Teil der Menschen ein Funke eines Feuers sowie Inspiration, Leidenschaft und Lebendigkeit entsteht. Gemeinsames Singen kann vieles Lösen, und ich freue mich sehr, diesen Prozess begleiten zu dürfen. Mit unserem ersten Chorauftritt sind wir – meines Erachtens – auf einem guten Weg dorthin.

Sie benutzen häufig Vokabeln wie „Herz“, „genießen“, „berühren“, „Gabe“ und „Dankbarkeit“. Auf was kommt es Ihnen bei Ihren Auftritten an, wie sollen Menschen Ihre Auftritte und Konzerte verlassen?
Ich habe meinen bisherigen Weg der Persönlichkeitsentwicklung eine lange Zeit als sehr leidvoll erfahren. Das Überwinden meiner Ängste, um meiner Leidenschaft nachgehen zu können, empfinde ich wie einen Befreiungsschlag. Ohne die Hilfe vieler Menschen, die immer an mich und meine Fähigkeiten geglaubt haben, hätte ich diesen Weg vermutlich niemals gehen können. Worte können nicht zum Ausdruck bringen, wie dankbar ich mich dafür fühle.
Meine Klientinnen und Klienten haben in der Regel noch viel schwerere Schicksale zu tragen und leiden unter den immer noch sehr ausgeprägten Stigmatisierungen, die ihnen oftmals gesellschaftlich entgegengebracht werden.

Ich möchte an das Herz der Menschen appellieren, sie berühren und einladen, zu überprüfen, was ihnen wirklich wichtig im Leben ist.

Ich habe den Wunsch und mir selbst auferlegten Auftrag: Ich möchte Menschen zur Menschlichkeit auffordern. Ich möchte an ihr Herz appellieren, sie berühren und einladen, zu überprüfen, was ihnen wirklich wichtig im Leben ist. Und dafür möchte ich mutig sein und zu meiner eigenen Befindlichkeit stehen. Dazu stehen, dass ich alles andere als perfekt bin. So kann es zum Beispiel bei einem Konzert durchaus mal geschehen, dass ich unter Ankündigung etwas ausprobiere, von dem ich mir nicht sicher bin, ob es mir gelingen wird. Es ist mir wichtig, zu mir zu stehen und zu zeigen, dass Fehler sein dürfen und nicht immer einen Grund für Scham darstellen müssen. Ebenso ist es mir wichtig, zu meinen Emotionen zu stehen: Schmerz, Angst, Freude, Wut und Scham gehören zur großen Palette unserer Gefühlswelt. Wenn mich etwas sehr berührt, fließen bei mir auch Tränen. Durchaus auch mal auf der Bühne. Zum Beispiel wenn ich vor einem großen Publikum stehe und es nicht glauben kann, dass diese Menschen alle gekommen sind, um mir zuzuhören.

Am Ende möchte ich, dass die Menschen mit einem Mehrwert nach Hause gehen. Dass sie sich inspiriert und berührt fühlen. Und das funktioniert am besten, wenn das Publikum mit eingebunden wird. Deshalb gibt es in jedem meiner Konzerte Einheiten, in denen ich Songs gemeinsam mit ihnen singe. Gerne auch mehrstimmig. In der Regel sind das die Momente, die am meisten berühren, denn beim gemeinsamen Singen entsteht eine gemeinsame Verbindung unter allen Beteiligten. Zumindest empfinde ich das immer so.

Sind dies Dinge, die für Sie auch in der Rolle der Sozialarbeiterin entscheidend sind?
Ein respekt- und liebevoller, authentischer, interessierter sowie wohlwollender Umgang mit meinen Mitmenschen ist mir enorm wichtig und ein entscheidender Teil meiner Haltung. Sowohl in meiner Arbeit als Sozialarbeiterin, als auch als Sängerin. Aber natürlich möchte ich mich auch in meinem persönlichen und privaten Umfeld so zeigen. Da fällt es mir jedoch meistens deutlich schwerer als in allen anderen Bereichen.

Sie haben den Rollentausch bereits angesprochen: Bedeutet die Arbeit als Sängerin einen größeren Abstand zu den Menschen zu haben als dies bei der Arbeit im Krankenhaus der Fall ist?
Es ist eine andere Nähe, die ich mit meinem Publikum teile. In der Sozialpsychiatrie stelle ich mich möglichst bewertungsfrei auf mein Gegenüber ein. Ich halte meine eigenen Bedürfnisse zurück und bin bemüht, mich für die Schwingungen und Bedürfnisse meines Gegenübers zu öffnen und zur Verfügung zu stellen. Ich nehme diese auf und nutze die Emotionen, die diese bei mir in der Reaktion auslösen, um damit weiterzuarbeiten. Wie eine Art Wegweiser. Einige Klientinnen und Klienten teilen ihre schmerzhaftesten Erlebnisse mit mir. Ich sehe mich als eine Begleiterin, als diejenige, die deren Gefühle mit aushält und soweit es geht, trägt. In diesen Kontakten kann sehr viel emotionale Nähe entstehen.

Ich empfinde das Singen als etwas sehr Intimes. Ich zeige mich pur, mit meinen kraftvollen, zarten, bedürftigen, empfindsamen und verletzbaren Anteilen.

Auf der Bühne ist es anders. Hier sind meine eigenen Emotionen die, die ich nach außen trage. An denen ich mein Publikum teilhaben lasse. Ich empfinde das Singen als etwas sehr Intimes. Ich zeige mich pur, mit meinen kraftvollen, zarten, bedürftigen, empfindsamen und verletzbaren Anteilen. Dabei muss man immer damit rechnen, dass es das Gegenüber vielleicht nicht so nett mit einem meint. Das war lange der Grund, warum ich mich nicht getraut habe, auf die Bühne zu gehen. Ich hatte Angst, dass die Menschen meinen Gesang, meine Art mich zu präsentieren und somit auch einen Teil von mir selbst ablehnen und abwerten könnten. Aber überwiegend erlebe ich etwas anderes: nämlich ein Publikum, das mein Sein liebevoll annimmt und auf meine Emotionen einschwingt, sich berühren lässt. Das kann ich am Klatschen, Mitsingen, Lachen und auch am Weinen erkennen. Auch hier entsteht eine besondere Nähe.

Für welche Situationen oder Lebensereignisse ist die Musik die beste Therapie?
Musik kann Emotionen verstärken. Das kennt sicherlich jeder: Wenn man traurig ist und hört dann einen Song, der „Herzschmerz“ bei demjenigen auslöst, dann kann es sein, dass plötzlich die bis dahin zurückgehaltenen Tränen fließen. Genauso kann die gute Stimmung, die man zum Beispiel in Vorfreude auf einen gemeinsamen Abend mit Freunden empfindet, noch weiter durch eher fröhlich anmutende und rhythmische Musik gehoben werden. So kann Musik hilfreich dabei sein, das Gefühl, das man aktuell vorherrschend in sich spürt, noch tiefer zu spüren. Meiner Überzeugung nach wollen Gefühle gelebt werden, damit sie sich auflösen können. Emotionen, die man nicht so mag, können gefühlt und dann losgelassen werden.

Ich habe mir mal eine Playlist für solche Momente zusammengestellt, in denen ich mich sehr wütend, oder traurig gefühlt habe. Diese beginnt mit Songs, die die Wut in mir anregen, bei denen ich kraftvoll mitsingen und alles rauspowern kann. Dann folgen Songs, die eher die Trauer in mir hervorrufen – ich gehe davon aus, dass sich oft Trauer oder Angst hinter Wut verbergen. Dann fließen die Tränen. Danach folgen Songs, die leicht und sanft werden und sich zu freudefördernden Songs steigern. Wenn ich die Playlist einmal durchgehört und mitgesungen habe, geht es mir am Ende meistens wieder gut.

Weitere Infos zu Andrea Zug:
www.andrea-zug.com

Und welche in der Sozialarbeit gemachten Erfahrungen können Sie als professionelle Sängerin nutzen?
Ich glaube, dass ich eher vom umgekehrten Fall profitiere. Der Gesang und meine Bühnenpräsenz helfen mir immer wieder in meinem Job als Sozialarbeiterin. Seit diesem Jahr habe ich die Koordination eines relativ neuen Bereiches zum Thema „Kinder psychisch kranker Eltern“ für drei Standorte meines Trägers übernommen. Ein Teil meiner Arbeit besteht darin, Multiplikatoren auszubilden und Schulungen zu dem Thema zu geben. Mich vor vielen Menschen zu zeigen und zu präsentieren, fällt mir heute nicht mehr schwer. Ich bin weiterhin aufgeregt, jedes mal. Aber es ist nie eine solch überwältigende Angst, wie ich sie früher erlebt habe. Aber natürlich prägt die intensive Arbeit mit Menschen mein Menschenbild und meine Haltung. Diese zieht sich selbstverständlich ein Stückweit durch mein gesamtes Leben. Es fällt mir somit beispielsweise grundsätzlich leicht, mich auf Menschen unterschiedlichster Art einzustellen, was im Kontakt mit Kunden oder Auftraggebern immer hilfreich ist.

karriereführer ingenieure 2.2018 – Biokratie: Wie Ingenieure die Zukunft neu gestalten

0

Cover-karriereführer-ingenieure-2-2018_218

Biokratie: Ethik, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit – Wie Ingenieure jetzt die Zukunft neu gestalten

Für Ingenieure bricht ein neues Zeitalter an. Ihre Entwicklungen dürfen nicht nur wenigen Privilegierten nutzen, die Technik von morgen muss Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit fördern. Experten hoffen dabei auf die Lebenswelten der jungen Generation – und setzen auf alternative Modelle wie Biokratie und technische Ethik.

Biokratie: Ethik hält Einzug in die Arbeitswelt der Ingenieure

0

Für Ingenieure bricht ein neues Zeitalter an. Ihre Entwicklungen dürfen nicht nur wenigen Privilegierten nutzen, die Technik von morgen muss Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit fördern. Experten hoffen dabei auf die Lebenswelten der jungen Generation – und setzen auf alternative Modelle wie Biokratie und technische Ethik. Von André Boße

Angenommen, ein Ingenieur arbeitet an einer Lösung des Mobilitätsproblems in den Städten: Es gibt einerseits zu viele Autos und Emissionen, zu wenig Parkplätze und Platz auf den Straßen. Andererseits spielt ihm die Digitalisierung in die Hände: Apps und vernetzte Fahrzeuge bieten schon bald die Chance einer neuen urbanen Mobilität, die den Nutzer mit Hilfe kombinierter Mobilitätskonzepte ans Ziel bringt – und von denen das eigene Auto nur eines ist. Die Folge: weniger Stau, weniger Emissionen, weniger Stress. Klingt nach Zukunft. Unabhängig von der Frage der Technik, die damals noch nicht so weit war: Hätte dieser Ansatz auch schon vor 20 oder 30 Jahren funktioniert?

In einer Zeit, als der Besitz des eigenen Autos noch ein Statussymbol war – und man sich als Besitzer kaum vorstellen konnte, das Fahrzeug vor den Toren stehen zu lassen und auf andere Art in die Stadt zu fahren? Wohl kaum. Die modulare Mobilität wird erst heute zu einem Markt, in einer Zeit, in der der mobile Mensch nicht mehr unbedingt mit seinem eigenen Gefährt von A nach B fahren muss, sondern deutlich mehr Wert darauf legt, bequem unterwegs zu sein. Und wenn möglich: umweltfreundlich.

Unbewusste Treiber des Wandels

Für Prof. Dr. Thomas Heupel ist dies nur eines von vielen Beispielen, das zeigt, wie sehr technische Innovationen, Umweltschutz und der individuelle Lebensstil der Jüngeren ineinandergreifen.

„Studien zeigen, dass die Generationen Y und Z für einen entmaterialisierten Konsum stehen“, verdeutlicht der Wirtschaftsprofessor an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management in Essen. Dinge zu besitzen sei dieser Generation weniger wichtig als noch bei den Angehörigen der Generation X oder den Babyboomern, so Heupel. Statt Besitztümer anzuhäufen, sind die jüngeren Generationen in virtuellen Räumen der sozialen Netzwerke unterwegs.

Technik, Wandel, Zukunft

Die Technikexperten der verschiedenen Fraunhofer Institute haben ein Impulspapier zum Thema „Wandel verstehen, Zukunft gestalten“ veröffentlicht: Aus fünf Thesen zur Bedeutung von Innovationen im Jahr 2030 haben die Autoren Themen und Aufgaben für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft abgeleitet. Dabei komme es unter anderem darauf an, das Wissen für alle zu öffnen, Innovationsprozesse zu digitalisieren und Offenheit, Lernfähigkeit sowie Kooperation als Leitbilder von Innovation zu betrachten. Das Papier ist als PDF gratis unter folgendem Link verfügbar: s.fhg.de/innovation2030

„Dabei denken sie, wie unsere Ergebnisse zeigen, nicht einmal besonders ökologisch“, sagt der Professor. „Aber weil sie eben auf bestimmte Dinge wie ein eigenes Auto verzichten können, werden sie quasi unbewusst zum Treiber eines Wandels hin zu mehr Nachhaltigkeit.“

Festgestellt hat Thomas Heupel jedoch eine generelle Sensibilisierung für ökologische Themen: „Wohin man auch schaut: Es gibt Bio-Produkte oder ökologisch zertifizierte Geräte, auch Discounter und Elektrogroßmärkte kommen nicht mehr ohne aus.“ Das zeige: Es gibt einen Markt für Nachhaltigkeit. Und es gibt eine junge Generation, deren Lebensstil mit diesem Markt einhergehe. „Das wiederum“, so Heupel, „bringt einen Begriff auf die Agenda, der diese biologisch-ökologische Dimension des Marktes und der Gesellschaft weiter stärken kann: die Biokratie“.

Der Umweltökonom Georg Winter gilt als Pionier dieser Idee, der Natur Rechte zu verleihen. Winter definiert Biokratie auf seiner Website www.rechte-der-natur.de als eine „hypothetische Regierungsform, in der alles Leben eine mitbestimmende Funktion einnimmt“. Der Begriff beschreibt damit ein Konzept, das Fauna und Flora eine Teilhabe an der Staatsführung zuschreibt. Somit sei die Biokratie als Staatsform als eine Erweiterung der Demokratie zu sehen, „in der nicht allein die Menschen, sondern sämtliche Lebewesen als Staatsvolk anerkannt, mit Grundrechten ausgestattet und parlamentarisch vertreten sind“, so Winter. Drei Hauptaspekte der Biokratie sind laut dem Umweltökonom die Umweltwissenschaften, die (Umwelt-)Ethik sowie das Umweltrecht (inklusive Tierrecht).

Biokratie: Der Natur eine Stimme

Man dürfe das Wort Biokratie jedoch nicht mit einem dogmatischen Kampfbegriff verwechseln, sagt Thomas Heupel. Mit einer von oben verordneten Öko-Diktatur habe die Biokratie nichts zu tun. „In ihr steckt die Demokratie, die hier nun ergänzt wird, indem sie genauso wie die Bürgerinnen und Bürger mit Rechten ausgestattet wird.“ Die Biokratie wird damit zu einer um eine grüne Dimension erweiterten Demokratie: Die Natur erhält eine Stimme. Und die hat sie auch bitter nötig.

„Wenn heute von Nachhaltigkeit die Rede ist, dann meinen wir damit häufig das Konzept der ,Schwachen Nachhaltigkeit’“, differenziert Thomas Heupel. Diese stehe dafür, dass die Nachhaltigkeit verhandelbar sei: „Betreiben wir Raubbau an der Natur, verbessern damit aber die Infrastruktur oder die sozialen Gegebenheiten, gilt dieser Prozess dennoch als nachhaltig.“ Ein Beispiel ist der Bau einer neuen Autobahn durch ein Waldgebiet: Die Natur leidet, aber der Schaden wird ausgeglichen, weil die Region die neue Verkehrsader nutzt, sich neue Firmen dort ansiedeln, dadurch neue Arbeitsplätze entstehen.

„Die Biokratie setzt dagegen auf die ,Starke Nachhaltigkeit’“, so Heupel. Der Schutz der Natur sei hier eben nicht verhandelbar: Die Natur habe quasi ein Veto-Recht für Projekte, die ihr Schaden zufügten. „Ich glaube“, sagt Thomas Heupel, „dass wir diese ,Starke Nachhaltigkeit’ dringend benötigen, um den Klimawandel und die Umweltzerstörung in den Griff zu bekommen.“ Eine von oben verordnete Biokratie sei jedoch eine problematische Option, weil sich die Menschen ungern Dinge vorschreiben ließen.

Daher hofft der Ökonom so sehr auf den „natürlichen Wandel“, angetrieben vom Lebens- und Arbeitsstil der jungen Generation: „Auch die jungen Ingenieure denken von sich aus weniger materialistisch. Sie sind das digitale Arbeiten gewohnt, bringen ein Gespür für die Notwendigkeit von Naturschutz mit, denken bei Kunden weniger an Besitzer als an Nutzer.“ All dies könne die Entwicklung einer Technik im Sinne der Biokratie fördern.

Technik für mehr Weltgerechtigkeit

Wie wichtig diese „Starke Nachhaltigkeit“ ist, beziffert Prof. Michael Lauster, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Naturwissenschaftlich-Technische Trendanalysen (INT) in Euskirchen im Rheinland. Die Erde stehe vor drei großen Herausforderungen, sagt Lauster: Bevölkerungswachstum, Klimawandel und Urbanisierung. „Diese Trends beruhen auf sehr stabilen und langwelligen Veränderungsraten, sodass sie mit hoher Zuverlässigkeit prognostiziert werden können.“

Zwischen zehn und elf Milliarden Menschen werden bis Mitte dieser Dekade die Erde bevölkern, die mittlere Temperatur auf dem Planeten steigt an – „Das muss als Fakt anerkannt werden“, fordert Lauster –, der Trend zur Verstädterung setze sich fort: Die Anzahl der Megacities, also von Städten mit mehr als zehn Millionen Einwohnern, werde von heute 30 auf mehr als 50 anwachsen. „Wobei mit dem ungesteuerten Wachstum zahlreicher Stadtregionen erhebliche Probleme bei der Versorgung der Einwohner mit Nahrung, hygienischen Verhältnissen, Medizin und Sicherheit verbunden sind“, wie der promovierte Ingenieur und Inhaber des Lehrstuhls für Technologieanalyse an der RWTH Aachen sagt.

Die einzelnen Probleme verstärkten sich nun noch dadurch, dass sie auf der Erde ungerecht verteilt seien. „So findet das größte Bevölkerungswachstum in Regionen statt, die am stärksten vom Klimawandel betroffen sind“, sagt Lauster. Gerade diese Analyse führt dazu, dass bei der Entwicklung und beim Einsatz neuer Techniken ein Paradigmenwechsel stattfinden muss. „Technologieentwicklung darf zukünftig nicht mehr nur unter dem Aspekt stattfinden, dass es einer begrenzten Anzahl privilegierter Regionen deutlich besser geht als anderen“, sagt der Techniktrend-Analyst.

„Es muss die Einsicht erzielt werden, dass alle Menschen ernährt, mit hygienischen Verhältnissen versorgt und in sicheren Lebensumständen untergebracht werden müssen.“ Sprich: Ingenieure müssen nicht nur Technik und Ökologie, sondern auch Technik und Gerechtigkeit zusammen denken. „Sonst“, sagt der Fraunhofer-Institutsleiter, „zerstören die Industrienationen ihre Lebensgrundlage selbst.“

Ingenieure müssen Ethik entdecken

Damit erhält das Thema Ethik Einzug in die Arbeitswelt der Ingenieure. Neu ist das nicht: Schon immer besaß die Entwicklung einer neuen Technik einen direkten Bezug zum Thema Verantwortung. Spätestens war das ab dem Zeitalter der Atomkraft der Fall. „Moderne Technologien sind in der Lage, Wirkungen zu erzeugen, die nicht nur lokal, sondern – im schlimmsten Fall – sogar global sind“, sagt Michael Lauster.

ARD-Themenwoche

„Gerechtigkeit“ Vom 11. bis 17.11.2018 behandelt die ARD das Thema Gerechtigkeit aus verschiedenen Blickwinkeln: von Armut bis Zeitarbeit, politisch, philosophisch, persönlich. Mehr zur Themenwoche: www.ard.de

Weitere Beispiele sind Nano- und Gentechnologien, deren Auswirkungen bislang nur schwer abzuschätzen sind. Verschärft wird die ethische Debatte durch Ansätze, die mit Hilfe neuer Techniken in das Weltklima eingreifen wollen. Das klingt attraktiv: Ingenieure und Forscher retten die Welt, indem es ihnen zum Beispiel gelingt, CO2 aus der Atmosphäre zu entziehen – oder ein ähnliches technisches Wunder zu vollbringen.

Der Trendanalyst vom Fraunhofer INT warnt jedoch davor, diese technischen Eingriffe in ihrer Wirkung zu unterschätzen. „Diese Technologien sind mit komplexen Systemen verknüpft, deren kennzeichnendes Merkmal ist, auf einfache Eingaben mit vielfältigen, teilweise schwer- oder unvorhersehbaren Antworten zu reagieren – deshalb nennen wir sie ja komplex.“ Das Problem sei jedoch, dass man die Mechanismen vieler dieser Systeme bis heute noch nicht vollständig verstehe. Daher könne auch die Wirkung von Eingriffen in diese Systeme bislang noch nicht abgeschätzt werden.

„Eingriffe mit unvorhersehbaren und eventuell sogar irreversiblen Folgen zu tätigen, würde deutlich ethische Grenzen überschreiten“, sagt Michael Lauster. Entsprechend rät er jungen Ingenieuren, neben den üblichen Fahigkeiten, die man für eine gute Karriere benötigt, zwar stets offen für Neues zu sein. Wichtig sei es darüber hinaus aber auch, „auf die Bedürfnisse der Menschen zu sehen, den Blick in die Zukunft zu richten und die Auswirkungen des gegenwärtigen Handelns abzuschätzen – sprich: Verantwortung für sich und andere zu übernehmen“. Vorsprung darf also nicht an anderer Stelle Nachteile erzeugen. Weder für Menschen noch für die Natur – die im Sinne der Biokratie eine Stimme erhalten soll.

Buchtipps

Digitaler Humanismus

Cover Digitaler HumanismusDie Bestseller-Autorin Dr. Nathalie Weidenfeld und ihr Mann, der Philosoph und ehemalige Staatsminister Prof. Dr. Julian Nida- Rümelin, zeigen mit dem Buch „Digitaler Humanismus“ eine, so der Untertitel, „Ethik für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz“. Mit einem Brückenschlag zwischen philosophischen Gedanken und Zukunftsszenarien legen die beiden Autoren einen Gegenentwurf zur Ideologie im Silicon Valley vor, wo die Künstliche Intelligenz zu einem Manna der Fortschrittsgläubigen zu werden droht – zumal bei einem reinen Blick auf die Nutzbarkeit fürs Business. Ingenieuren bietet das Buch Impulse, wie es gelingen kann, den technischen Fortschritt im ethischen Kontext zu betrachten. Julian Nida-Rümelin/Nathalie Weidenfeld: Digitaler Humanismus: Eine Ethik für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz. Piper Verlag 2018. 24 EuroJetzt kaufen bei Amazon

Nachhaltigkeit und Digitalisierung

Cover Nachhaltiges WirtschaftenDas Fachbuch „Nachhaltiges Wirtschaften im digitalen Zeitalter“ zeigt für die Begriffe Innovation, Steuerung und Compliance auf, wie sich Ökonomie, Technik und Umweltschutz mit der digitalen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft verbinden lassen. Unter anderem verdeutlicht Prof. Dr. Thomas Heupel in einem Kapitel, warum mit der Biokratie ein neues Konzept der Nachhaltigkeit vor dem Hintergrund der Generationen Y und Z sowie der künftigen Megatrends eine Chance erhält. Andreas Gadatsch, Hartmut Ihne, Jürgen Monhemius, Dirk Schreiber (Hrsg.): Nachhaltiges Wirtschaften im digitalen Zeitalter. Springer Gabler 2018. 54,99 EuroJetzt kaufen bei Amazon

Cover NachhaltigkeitJahrbuch Nachhaltigkeit 2018. Nachhaltig wirtschaften. Einführung, Themen, Beispiele. Metropolitan 2018. 14,95 Euro Jetzt kaufen bei Amazon

Energiewende: Energie-Analyst Frank Peter im Interview

Als stellvertretender Direktor des Think Tanks Agora Energiewende überblickt Frank Peter den Ausbau der erneuerbaren Energien und ihre Integration ins Stromnetz. Im Interview erklärt er, warum Flexibilität in der Nachfrage der Schlüssel für die Energiewende ist und an welchen Stellen der Energiewirtschaft Ingenieure spannende Aufgabenfelder finden. Das Interview führte André Boße.

Zur Person

Frank Peter ist stellvertretender Direktor von Agora Energiewende, in dieser Funktion koordiniert er auch die Arbeiten des Teams Deutschland. Bevor er zu Agora kam, arbeitete er zwölf Jahre bei der Prognos AG in Berlin. Frank Peter hat zahlreiche Projekte zu Klimaschutzfragen, Strommarktentwicklungen und erneuerbaren Energien sowohl für politische als auch privatwirtschaftliche Stakeholder geleitet. Im Rahmen seiner Tätigkeiten war er mehrfach als Sachverständiger für den Bundestag und die Bundesregierung zu verschiedenen Energiefragen tätig. Frank Peter hat an der Technischen Universität Berlin Technischen Umweltschutz studiert. Zum Unternehmen Agora Energiewende wurde im Jahr 2012 von der European Climate Foundation und der Stiftung Mercator ins Leben gerufen, um die Herausforderungen der Energiewende anzupacken. Die Initiative ist Teil der gemeinnützigen Smart Energy for Europe Platform (SEFEP) gGmbH. Das Mandat von Agora Energiewende besteht darin, akademisch belastbare und politisch umsetzbare Wege zu entwickeln, wie sich die Energiesysteme in Deutschland und zunehmend weltweit in Richtung sauberer Energie transformieren lassen. Die Kernfinanzierung stammt von der Stiftung Mercator und der European Climate Foundation. Agora Energiewende kann daher unabhängig von Geschäftsinteressen und politischem Druck arbeiten.

Herr Peter, wir hatten einen heißen Sommer mit langer Dürrezeit, es wurde viel über den Klimawandel gesprochen. Bringen solche Debatten auch die Energiewende weiter voran?
Jede Debatte über die Auswirkungen des Klimawandels bringt die Energiewende ins Bewusstsein. Der Druck, die Klimaschutzziele mit Hilfe der Energiewende zu erreichen, ist noch einmal gestiegen. Wir hätten uns aber tatsächlich einen noch deutlicheren Link zwischen den beiden Themen Klima und Energie gewünscht.

Wer erzeugt beim Thema Klima und Energie den Druck, von dem Sie sprechen?
Ich glaube, dass die Gesellschaft diesen Druck erhöht. Ein Sommer wie der vergangene zeigt, dass auch wir in der Mitte Europas vom Klimawandel betroffen sind – und zwar nicht erst in 50 Jahren, sondern schon jetzt. Wir befinden uns also bereits in diesem Wandel, und der Gesellschaft wird bewusst, dass wir jetzt dringend damit beginnen müssen, die CO2-Emissionen zu verringern. Hier spielen die erneuerbaren Energien eine große Rolle.

Deutschland war Vorreiter der Energiewende. Sind wir das noch immer?
Als eine der größten Weltwirtschaften nehmen wir im internationalen Kontext eine Vorreiterrolle und eine Vorbildfunktion ein. Es geht dabei auch um die Glaubwürdigkeit der deutschen Industrie und Wirtschaft: Deutschland hat sich sehr schnell für die Energiewende entschieden und mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien begonnen. Jetzt werden wir natürlich international beäugt: Wie machen die das, wie schnell geht es voran? Wie zufrieden sind Sie mit den Fortschritten? Ich glaube, dass ein wenig verspätet die Erkenntnis reift, dass alleine der Ausbau der erneuerbaren Energien kein Klimaschutz bedeutet. Es ist schon entscheidend, dass man dazu aus den alten Energien, insbesondere aus der Kohle, aussteigt. Das muss wirtschafts- und strukturpolitisch organisiert werden – und hier ist Deutschland bislang zu langsam.

War der Begriff der Energiewende vielleicht zu optimistisch?
Man stellt sich darunter ja einen schnellen Richtungswechsel vor, dabei ist der Prozess komplex und langwierig. Haben Sie schon einmal im Fahrerhäuschen eines alten Lastwagens ohne Lenkunterstützung gesessen? Wenn Sie versuchen, so ein Fahrzeug auf engem Raum zu drehen, dann erfahren Sie, wie kompliziert und langsam eine solche Wende sein kann – und wie viel Nervenstärke, langen Atem und Armmuskulatur Sie dafür benötigen. Ich glaube, so muss man sich auch die Energiewende vorstellen.

Ein Sommer wie der vergangene zeigt, dass auch wir in der Mitte Europas vom Klimawandel betroffen sind – und zwar nicht erst in 50 Jahren, sondern schon jetzt.

Fällt der Ausstieg auch deshalb so schwer, weil bei den erneuerbaren Energien noch technische Lösungen fehlen?
Wir kommen in technischer Hinsicht gut voran, einige Lösungen werden aber noch gebraucht. Zum Beispiel müssen wir eine Flexibilität auf der Nachfrageseite organisieren, schließlich handelt es sich bei den erneuerbaren Energien Wind und Sonne um fluktuierende Quellen. Bislang war es so, dass die Stromerzeugung der Nachfrage folgte.

Sprich: Wurde viel Strom benötigt, wurden die Kraftwerke weiter hochgefahren.
Genau. In Zukunft wird es so sein, dass die Nachfrage sich am Angebot orientiert. Es gibt bei den Abnehmern Anwendungen, die deutlich flexibler gestaltet werden können und die zeitlich so verlagert werden, dass sie dann Strom benötigen, wenn die Erneuerbaren tagsüber mehr Energie erzeugen. Ich denke hier zum Beispiel an das Einheizen oder Kühlen von Industrieanlagen, aber auch an das Aufladen von Elektroflotten, das so organisiert werden kann, dass es nicht zu den Stoßzeiten passiert, wenn generell viel Strom benötigt wird.

Wie kann diese Flexibilität technisch organisiert werden?
Ideal ist, wenn der Verbraucher davon gar nichts mitbekommt, sprich: wenn zum Beispiel Apps die Steuerung des Stromverbrauchs übernehmen. Es gibt bereits eine Menge Start-ups, die Software dieser Art entwickeln. Und auch in den Unternehmen denken die Ingenieure darüber nach, wie es gelingen kann, bei der Stromnachfrage flexibler zu werden. So entstehen in Industrieunternehmen neue Hallen, in denen selbstproduzierte Grundstoffe zwischengelagert werden, sodass deren Herstellung durch energieintensive Verfahren wie zum Beispiel der Elektrolyse zu Stoßzeiten auch mal ausgesetzt werden kann, ohne dass die weiterführende Produktion darunter leidet. In meinen Augen sind das wichtige Aspekte, denn die Flexibilisierung der Nachfrage ist einer der Schlüssel, um ein erneuerbares Energiesystem zu realisieren.

Die Digitalisierung ist der Enabler der Energiewende.

Welche Rolle spielen digitale Techniken bei der Umsetzung der Energiewende?
Ich sprach eben schon von Apps, die entwickelt werden, auch smarte und vernetzte Knotenpunkte werden eine Rolle spielen. Viele Anwendungen stehen auf der Schnittstelle zwischen Energietechnik und IT, die Digitalisierung ist somit der Enabler der Energiewende. Das zeigt sich schon alleine daran, dass in einem komplexen Energiesystem schon heute in Echtzeit unglaublich viele Zustandsbeschreibungen ausgetauscht und auf dieser Basis Entscheidungen getroffen werden. Hier wird die Digitalisierung zum Schlüssel für ein smartes System – mit Blick auf die Informationstechnik, aber auch auf den Datenschutz. Und ich gehe davon aus, dass hier in naher Zukunft ein Markt für neue Entwicklungen entsteht, der insbesondere für Ingenieure sehr spannend werden wird.

Wobei der Ingenieur hier mit IT-Spezialisten zusammenarbeiten wird.
Ja, diese Entwicklung beobachten wir schon seit einigen Jahren bei den großen Netzbetreibern: Die Systemsteuerung geschieht zunehmend automatisiert. Es gibt immer weniger Mitarbeiter, die Knöpfe drehen oder Hebel betätigen. Diese Aufgabe wird von Algorithmen übernommen, die typischerweise weniger fehleranfällig sind. Das heißt jedoch nicht, dass es für Ingenieure weniger zu tun gibt: Gesucht werden kreative Lösungen für diese Systeme, zudem rücken Themen wie die Sicherheit der Systeme in den Fokus, damit verhindert wird, dass kriminelle Manipulationen das gesamte Energiesystem lahmlegen.

Gibt es ein weiteres Feld, bei dem Sie – gerade mit Blick auf junge Ingenieure – großes Potenzial sehen?
Ich glaube, dass die Wasserstofftechnik an Bedeutung gewinnen wird. Wasserstoff als Energiespeicher ist in vielen Bereichen eine gute Lösung, um im Güter- und Luftverkehr, aber auch in der Industrie auf fossile Brennstoffe zu verzichten. Wasserstoff bietet eine Vielzahl guter Eigenschaften: Er ist auf verschiedene Art herstellbar, bietet eine enorme Energiedichte, man kann bei einer Beimischung zu Erdgas direkt mit ihm Motoren betreiben, in der Industrie ist er an vielen Stellen einsetzbar. Kurz: Wasserstoff ist ein wichtiger Allrounder und in meinen Augen die Schlüsseltechnologie, um weitreichend CO2-Ausstöße einzusparen. Hier werden wir in den kommenden Jahren erkennbare Innovationsschübe erleben.

Neue Anforderungen durch Industrie 4.0

0

Was kommt auf Ingenieure im Zuge der Digitalisierung zu? Welche neuen Fähigkeiten sind künftig gefragt? Von Dr. Franziska Schmid, Referentin für Bildungspolitik, VDMA Bildung

Der Maschinen- und Anlagenbau ist der größte industrielle Arbeitgeber in Deutschland. Er ist überwiegend mittelständisch geprägt und beschäftigt rund 1,3 Millionen Mitarbeiter, darunter gut 190.000 Ingenieure. Die Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus genießen international einen hervorragenden Ruf und stellen in 16 von 31 Industriesparten den Weltmarktführer. Ein weiteres besonderes Merkmal des Maschinen- und Anlagenbaus ist sein fortwährender Wandel, was er auch im Zeitalter der Digitalisierung unter Beweis stellt.

Industrie 4.0, also die digitale Vernetzung der kompletten Produktion und die Verfügbarkeit aller relevanten Informationen in Echtzeit, wird den Maschinen- und Anlagenbau fundamental verändern. Mit Industrie 4.0 wird eine selbstorganisierte Steuerung des gesamten Produktionsnetzwerks vom Zulieferer über die eigentliche Produktion bis zur Auslieferung an den Kunden möglich. Es entsteht eine neue Stufe der Automatisierung sowie eine höhere Flexibilität in der Produktion. Eine weitere Ressourcenoptimierung, die Produktindividualisierung bis hin zu Losgröße 1 oder gar ganz neue Geschäftsmodelle werden möglich. So ist eine der Schlüsselinnovationen von Industrie 4.0 „Predictive Maintenance,“ also die vorausschauende Wartung von Maschinenkomponenten durch die kontinuierliche Messung und Auswertung von Daten.

Paradigmenwechsel

Zur Bewältigung der Herausforderungen durch Industrie 4.0 wird der Maschinen- und Anlagenbau – bereits heute größter Ingenieurarbeitgeber in Deutschland – in Zukunft einen noch stärkeren Bedarf an gut ausgebildeten Ingenieuren haben. Gleichzeitig werden sich die Anforderungen an deren Kompetenzen und Qualifikationen aufgrund der immer weiter fortschreitenden Digitalisierung ändern.

Das technologische Zusammenrücken von physischer und virtueller Ebene bedeutet auch ein Zusammenwachsen von Kompetenzen. Der Maschinen- und Anlagenbau wird dadurch interdisziplinärer werden. Dies bedeutet nicht, dass jeder Maschinenbauingenieur zum Programmierer werden muss. Aber er sollte die Sprache der Informatik sprechen und verstehen und zukünftig in der Lage sein, seine Anforderungen an eine Steuerungssoftware oder ein Regelungsprogramm klar zu kommunizieren.

Industrie 4.0 bedeutet auch das systematische Erheben, Analysieren und Nutzen der im Unternehmen entstehenden Daten. Der Umgang mit diesen „Big Data“ wird eine zunehmend wichtigere Qualifikation werden. Es werden Ingenieure mit mathematischer und statistischer Expertise, mit Fähigkeiten in der Modellierung und Simulation sowie in methodischen Kompetenzen der Datenanalyse und -aufbereitung gefragt sein. Auch Aspekte wie Datenschutz und Datensicherheit werden an Bedeutung gewinnen.

Vernetzung von Software-Industrie und Maschinenbau

Die AMB, eine internationale Ausstellung für Metallbearbeitung in Stuttgart, zeigte in diesem Jahr in der Sonderschau Digital Way, wie die Vernetzung von Softwareindustrie und Maschinenbau vorangeschritten ist. Die Sonderschau widmet sich der zunehmenden Digitalisierung in der Produktion. Demnach wird Machine Learning langfristig ein Thema sein, ebenso wie Predictive Maintenance. Condition Monitoring und Big Data Analytics. Die zunehmende Digitalisierung stellt die Unternehmen nach eigener Aussage jedoch auch vor große Probleme: Personalengpässe in den Softwareentwicklungsabteilungen, der weiter steigende Personalbedarf sowie die Ausund Weiterbildung werden für immer mehr Unternehmen zur Herausforderung.

Durch Industrie 4.0 werden neue, überfachliche Qualifikationen und sogenannte Soft Skills immer wichtiger. Denn die Digitalisierung verlangt zunehmend nach Lösungen, die ein Unternehmen nicht mehr für sich alleine bewältigen kann. Die Vernetzung der Wertschöpfungskette benötigt mehr Prozess- und Überblickswissen. Kooperationskompetenz Teamfähigkeit, Kommunikationsstärke und interdisziplinäres Denken innerhalb des Unternehmens nehmen an Bedeutung zu.

Der technologische Fortschritt wird sich durch Industrie 4.0 weiter beschleunigen. Daher ist es zunehmend notwendig, Wissen schneller zu aktualisieren. Ein erster Studienabschluss kann nur der Beginn eines lebenslangen Lernens sowie der kontinuierlichen Aneignung von Fachwissen sein. Motivation, Selbstverantwortung, Wissbegierde, Learning on the job sowie Flexibilität und Veränderungsbereitschaft sind deshalb zentrale Schlüsselkompetenzen für die Industrie 4.0.

Die technologische Entwicklung bietet die Chance, zu einem Wachstumstreiber des Maschinen- und Anlagenbaus zu werden sowie den Produktionsstandort Deutschland weiter zu stärken. Dafür suchen die Unternehmen hochqualifizierte Mitarbeiter und bieten spannende Aufgaben in einem weiten Spektrum, gute Entwicklungsmöglichkeiten und oft flache Hierarchien.