„Je mehr Hightech, desto mehr Hightouch“

Nicole Brandes, Foto: Eric Schmid
Nicole Brandes, Foto: Eric Schmid

Bei aller technologischen Entwicklung wird oft die Frage vergessen: Wo bleibt eigentlich der Mensch dabei? Nicole Brandes gibt eine Standortanalyse ab und erklärt, worauf es nun ankommt. Die Fragen stellte Christoph Berger

Zur Person

Nicole Brandes ist internationaler Management Coach, Autorin, Partnerin des Zukunftsinstituts und gefragte Vortragsrednerin. Sie arbeitet seit fast zwanzig Jahren mit Top-Führungskräften. Weitere Informationen unter: https://nicolebrandes.com

Frau Brandes, wie verändert sich die Zusammenarbeit derzeit?
Sie verändert sich vielseitig und das in mehreren Dimensionen gleichzeitig. Ob groß oder klein, immer mehr Unternehmen kollaborieren mit Kompetitoren. Oder sie kooperieren mit Partnern aus radikal anderen Disziplinen. Einzelleistungen fusionieren zu einem neuen Gesamtprodukt. Konsumenten werden von Organisationen in die Produktherstellung miteinbezogen und werden so zu ‚Prosumenten‘. Unternehmen entwickeln sich also zunehmend zu einem lebendigen, offenen Organismus mit weitverzweigten Ästen zu Kunden, Partnern, internen und externen Mitarbeitern und Mitbewerbern. Auch die Grenze von Führen und Geführtwerden vermischt sich immer mehr. Führungskräfte bewegen sich immer mehr in großen, hyperdiversen Netzwerken von externen hochspezialisierten Experten, die zeitbegrenzt an internen Projekten mitwirken.

Was sind die Haupttreiber der Veränderungen?
Es gibt fünf wesentliche Treiber: die Technologie, die Millennials, die eine neue Arbeitskultur schaffen sowie neue Verhaltensweisen – die Mitarbeiter der Zukunft sind hochspezialisiert und wollen bestimmen, wann und wo sie arbeiten. Dazu kommen noch die soziodemografische Entwicklung und die Globalisierung.

Welchen Einfluss hat das auf die Unternehmenskulturen?
Um in dieser epochalen Veränderung erfolgreich zu sein, müssen sich die Unternehmen mitverändern. Unternehmen bestehen aus Menschen. Und Kultur ist der Kitt, der sie zusammenhält. In einer Welt der totalen Entgrenzung und Skalierung wird das Bedürfnis nach Orientierung, Zugehörigkeit und Sinn immer lauter und dringlicher. Unter diesen Rahmenbedingungen und dem gnadenlosen Druck der Wettbewerbsfähigkeit, wird eine sinn- und wertezentrierte Kultur zentral. Es ist eine wichtige Führungsaufgabe, eine Kultur zu schaffen, mit der sich Mitarbeiter identifizieren können und in der sie sich als einen bedeutungsvollen Teil der Organisation verstehen. Nach wie vor ist der Profit das Blut in den Venen einer Organisation. Aber der ‚Purpose‘ als Identifikation mit einer Gemeinschaft wird zum Herzschlag beziehungsweise zum entscheidenden Erfolgsfaktor eines Unternehmens.

Bleiben wir bei den Menschen: Wie reagieren sie auf diese Veränderungen, wie fühlen sie sich in dieser Zeit?
Der Wandel bringt uns viele Vorteile, von denen wir profitieren: sicherere Autos, leistungsfähigere Computer, medizinischer Fortschritt. Das finden wir super. Gleichzeitig fühlen sich viele von den unendlichen Weiten der heutigen Möglichkeiten überwältigt, haben das Gefühl, der Dynamik ständig hinterherzuhinken und wissen bei diesen großen und komplexen Umwälzungen nicht mehr, was sie denken oder wo sie ansetzen sollen. Vor allem Führungskräfte müssen diesem inneren Stress etwas entgegensetzen. Das gelingt nur, wenn nicht die äußeren Kräfte über sie bestimmen, sondern sie selbst die Kontrolle haben. Der Ansatz in meiner Arbeit mit Führungskräften ist, die inneren Kräfte zu mobilisieren und zu stärken, sodass sie vom Gefühl von Stress und dem Getrieben sein viel mehr in die Kraft, Kontrolle und Lebendigkeit kommen.

Man kann Menschen nicht mit Technologie führen. Maschinen führen aus. Menschen kann man nur mit Begeisterung, Sinn und sozialer Kompetenz führen.

Das klingt gut.
Ja, aber die Anforderungen, die an die Führungskräfte und Mitarbeiter gestellt werden, hängen natürlich vom jeweiligen Unternehmen und seiner Führungskultur ab. Was man schon jetzt sieht: Die Skills der Zukunft liegen im komplexem, lösungsorientierten Denken und Handeln. Wir brauchen Menschen mit gesundem Menschenverstand, viel Kreativität und vor allem hohen sozialen Fähigkeiten – unsere moderne Gesellschaft ist eine bunt schillernde Vielfalt. Wir müssen uns gegenseitig besser verstehen. Nur wer weiß, was Menschen bewegt, kann sie stark führen, gut zusammenarbeiten und bedürfnisorientierte Produkte und Services schaffen. Diese Fähigkeit ist das, was ich die Wir-Intelligenz nenne.

Leadership 4.0 hat also weniger etwas mit den technologischen Kommunikationsmöglichkeiten zu tun?
Genau. Man kann Menschen nicht mit Technologie führen. Maschinen führen aus. Menschen kann man nur mit Begeisterung, Sinn und sozialer Kompetenz führen. Führungskräfte müssen vier Kräfte verstehen: die Megatrends mit ihren spezifischen Auswirkungen auf ihre Industrie und Organisation. Zweitens: die treibenden Kräfte einer Organisation. Ebenso die treibenden Kräfte von Menschen – denn trotz der rasanten technologischen Entwicklung, bleiben die elementaren Bedürfnisse der Menschen nach wie vor bestehen. Und dabei geht es um soziale Aspekte. Und schließlich sind da noch die eigenen treibenden Kräfte für innere Stärke und Flexibilität. Je mehr Volatilität im Außen, desto mehr Stabilität braucht es im Inneren.

Sind die jungen Generationen überhaupt von den angesprochenen Veränderungen betroffen oder sind es eher die „Älteren“, die sich den Herausforderungen stellen müssen?
Wir sind alle betroffen. Technologie verändert unser Leben rasant. Aber die Bedürfnisse sind dieselben wie vor tausenden von Jahren: Wir brauchen Gemeinschaft, Beziehung, Zugehörigkeit und Identität. Der berühmte Zukunftsforscher John Naisbitt hat schon gesagt: Je mehr Hightech, desto mehr Hightouch brauchen wir.