Chapeau! Kultur-, Buch- und Linktipps

Issa – eine beeindruckende Familiengeschichte

Cover IssaMirrianne Mahn verwebt die Schicksale von fünf Frauen miteinander, deren Leben mehr als ein Jahrhundert auseinanderliegen und doch über die Linien kolonialer Ausbeutung und Streben nach Selbstbestimmung verbunden sind. Das Buch wurde nominiert für den Debütpreis der lit.COLOGNE 2024. Die Autorin ist Woman of Color und engagiert sich als Aktivistin und Theatermacherin für Feminismus und gegen Diskriminierung und Rassismus. Das FOCUS Magazin zählte sie 2021 zu den 100 Frauen des Jahres. Mirrianne Mahn: Issa. Rowohlt 2024. 24,00 Euro. https://mirrianne-mahn.com

Anne Imhof in Bregenz

Foto: Kunsthaus Bregenz
Foto: Kunsthaus Bregenz
Das Kunsthaus Bregenz (Österreich) zeigt die deutsche Performance- und Medienkünstlerin Anne Imhof, eine der bedeutendsten Künstler*innen der Gegenwart. Die Ausstellung konzentriert sich auf Malerei und Skulptur, die den Kern ihrer künstlerischen Praxis bilden und von der Weiterentwicklung ihrer performativen Arbeit zeugen. 8. Juni bis 1. September 2024. www.kunsthaus-bregenz.at, www.anneimhof.com.

Rekord für Raye

Nicht einen, nicht zwei, nein sechs Brit Awards gewann die britische Singer-Songwriterin Raye bei den Brit Awards – ein neuer Rekord. Die 26-jährige ist schon lange erfolgreich, schrieb unter anderem Songs für Beyoncé. Doch ein eigenes Album durfte sie nicht veröffentlichen obwohl sie jahrelang bei einem Label unter Vertrag war. 2021 wurde ihr sogar gekündigt. Jetzt, als unabhängige Künstlerin, hat sie abgeräumt- was für ein Triumph! Ihr Album „My 21st Century Blues“ ist bei allen Streamingdiensten verfügbar. www.instagram.com/raye

Connyversum im Buch

Cover ConnyConny folgen auf Instagram und bei TikTok mehr als 250.000 Personen. Die Kunstfigur schreckt nicht zurück vor dem Einsatz von Filtern und macht den alltäglichen Behördenwahnsinn sehr pointiert und lustig deutlich. Nun gibt’s das wahnsinnige Connyversum endlich als Buch. Conny from the block: Da bin ick nicht zuständig, Mausi. dtv 2023. 13,00 Euro Instagram und TikTok: @conny.fromtheblock

Geister der Arktis

 
Foto: © NDR/DOCLIGHTS GMBH/BLACK CORAL FILMS AB/Uli Kunz
Foto: © NDR/DOCLIGHTS GMBH/BLACK CORAL FILMS AB/Uli Kunz
Christina Karliczek ist preisgekrönte Kamerafrau mit Spezialisierung auf Unterwasseraufnahmen, außerdem zertifizierte Höhlen- und Eistaucherin. Nun hat sie sich auf eine Expedition in die eisigen Tiefen der Arktis begeben, wo eine faszinierende Dokumentation in zwei Teilen entstanden ist: „Geister der Arktis“. Im ersten Teil beschäftigt die Filmemacherin sich mit Eishaien, die mehrere hundert Jahre werden können – sie werden als „Methusalems der Meere“ bezeichnet. Im zweiten Teil geht sie auf die Spur der Narwale, die „Einhörner des Meeres“, die stark durch den Klimawandel bedroht sind. Eine beeindruckende Doku mit faszinierenden Bildern!

Maestras im ARP Museum

Bild: © Palacio Real de La Granja de San Ildefonso, Segovia, Patrimonio Nacional, Madrid, Foto: Mick Vincenz
Bild: © Palacio Real de La Granja de San Ildefonso, Segovia, Patrimonio Nacional, Madrid, Foto: Mick Vincenz
Noch bis zum 16. Juni zeigt das Arp Museum Bahnhof Rolandseck die Ausstellung Maestras. Malerinnen 1500–1900. Die umfassende Schau mit Arbeiten von 46 Malerinnen aus bedeutenden europäischen Museen und Privatsammlungen wird in Kooperation mit dem Museo Nacional Thyssen-Bornemisza in Madrid präsentiert. Das Spektrum reicht von mittelalterlichen Buchmalerinnen aus Nonnenklöstern über Künstlerinnen der Barockzeit, die in der väterlichen Werkstatt lernten, bis hin zu den Wegbereiterinnen der Moderne, die früh für ihren gleichberechtigten Platz einstanden. Das direkt am Rhein gelegene Museum ist mit seiner spektakulären Architektur ohnehin einen Besuch wert, auch unabhängig von dieser empfehlenswerten Ausstellung. www.arpmuseum.org

Claudia Andujar: Mit der Kamera durch den Regenwald

Foto: Henning Rogge / Deichtorhallen Hamburg
Foto: Henning Rogge / Deichtorhallen Hamburg
Ein Dokumentarfilm und eine Ausstellung begeben sich auf die Spuren der Künstlerin und Aktivistin Claudia Andujar, einer der renommiertesten Fotografinnen der Welt. Die 1931 in der Schweiz geborene Künstlerin lebt in Brasilien und fotografiert seit den 1970er-Jahren die Yanomami, eine indigene Volksgruppe. Sie dokumentiert mit ihren Fotos die Zerstörung des Regenwaldes und setzt sich intensiv für den Schutz der Natur und die Erhaltung des Lebensraums der dort lebenden Völker ein. Der Film, für den die mit dem deutschen Filmpreis ausgezeichnete Regisseurin Heidi Specogna Regie geführt hat, zeigt nicht nur das Leben und Werk von Claudia Andujar, sondern auch eine junge, selbstbewusste und aktivistische Generation von Yanomami. 88 Minuten, im Kino ab 9. Mai 2024. Die Deichtorhallen Hamburg zeigen im PHOXXI noch bis zum 11. August 2024 eine Auswahl der wichtigsten Werke Claudia Andujars. www.deichtorhallen.de

Die Schattenmacherin

Cover SchattenmacherinKeine Männer mehr – eine mysteriöse Seuche hat sie dahingerafft. Dank künstlicher Fortpflanzung ist die Menschheit nicht ausgestorben, doch das Leben der Frauen ist bestimmt von sengender Hitze. Sie leben in überdachten Städten, das Wasser ist rationiert. Dies ist das Setting des Debütromans von Lilly Gollackner, Journalistin, Autorin und Mediencoach aus Wien. Die Dystopie spielt im Jahr 2068. Nach mehreren Jahren Präsidentschaft möchte die Machthaberin der Welt ihr Amt an eine jüngere Nachfolgerin weitergeben. Es entspannt sich ein Generationenkonflikt zwischen den Frauen um Ressourcen, Macht und Identität, der beide vor schicksalhafte Entscheidungen stellt. Lilly Gollackner: Die Schattenmacherin. Kremayr & Scheriau 2024. 24,00 Euro

Die Lohnlücke schließen

18 Prozent – immer noch. 18 Prozent weniger verdienen Frauen im Vergleich zu Männern im Schnitt. Der sogenannte Gender Pay Gap ist in den letzten 20 Jahren kaum kleiner geworden. Wie kommt diese enorme Lohnlücke zustande – und wie verhandelt man ein gutes Gehalt? Von Kerstin Neurohr

Nicola Fuchs-Schündeln, Professorin für Makroökonomie und Entwicklung an der Goethe-Universität Frankfurt hat einen Beitrag geschrieben zum Jubiläum des Vereins für Socialpolitik, der größten Vereinigung von Ökonom*innen im deutschsprachigen Raum. „Warum sind Löhne und Einkommen immer noch vom Geschlecht abhängig?“, fragt sie. Die Antwort in vier Schlagworten: Es liegt an Arbeitsstunden, dem Ehegattensplitting, an der Berufswahl sowie an Normen.

Weitere Infos

Equal Pay Day Journal zur Kampagne 2024, downloaden als PDF   Studie „Warum sind Löhne und Einkommen immer noch vom Geschlecht abhängig?“ von Nicola Fuchs-Schündeln
Die Zahlen sind erschreckend: Frauen verdienen in Deutschland 28 % weniger als Männer. Das liegt auch daran, dass sie weniger arbeiten als Männer, nämlich im Schnitt 31,3 Wochenstunden (bei Männern sind es 39,8 Stunden). Daneben spielen die niedrigeren Stundenlöhne von Frauen eine wichtige Rolle, sie liegen im Schnitt 18 % unter denen von Männern. Auch Vollzeit arbeitende Frauen verdienen immer noch 13 % weniger als Vollzeit arbeitende Männer. Selbst wenn man Frauen und Männer gleichen Alters, gleicher Ausbildung, im gleichen Beruf, mit gleichen Arbeitsstunden und mit gleicher Berufserfahrung vergleicht, bleibt eine Lohnlücke von 6 % bestehen. Es seien viele kleine Hürden, die zu dieser Lohnlücke führen, schreibt Prof. Fuchs- Schündeln. Eine davon: Frauen treten in Gehaltsverhandlungen weniger fordernd auf als Männer – wobei, das ist wichtig, der Gender Pay Gap ein strukturelles Problem ist und keinesfalls dem individuellen Verhalten von Frauen geschuldet ist. Geschickt zu verhandeln ist sicherlich richtig und wichtig, daher drei Tipps für Gehaltsverhandlungen: Standards kennen Welche Gehälter sind in der Branche üblich, was verdienen andere Personen mit vergleichbarer Qualifikation? Das zu wissen ist die Basis. Nicht zu wenig fordern Frauen gehen mit niedrigeren Lohnforderungen in Gehaltsverhandlungen – hier gilt der Ausspruch von Kirsten Boie: „Der größte Fehler der Frauen ist ihr Mangel an Größenwahn.“ (s. Buchtipp Seite 26/27). Also trauen sie sich und fordern lieber mehr als weniger! Beharrlich bleiben Sie verhandeln den Wert ihrer Arbeit – nicht ihren Wert als Mensch. Sie gewinnen, wenn Sie die Sache weder zu persönlich noch zu emotional nehmen. Schließlich sind sie keine Bittstellerin. Werden ihre Forderungen nicht erfüllt, vereinbaren Sie Ziele und weitere Gespräche. Bleiben Sie dran!

Das letzte Wort hat: Janet Winkler, Gründerin der Karriere-Plattform bunton

Janet Winkler ist Co-Gründerin und Geschäftsführerin von bunton, einem Start-up, das eine KI-basierte Karriere-Plattform für Frauen in Führungspositionen und in Aufsichtsräten aufbaut. Ihr Ziel: Frauen in Führungspositionen bringen! Dass das dringend nötig ist, hat Janet Winkler in ihrer Laufbahn als Finanzexpertin, Beraterin und Geschäftsführerin immer wieder erlebt. Die Fragen stellte Kerstin Neurohr

Frau Winkler, Sie haben die Community-Plattform bunton gegründet – was ist die Idee dahinter? Das ist eine KI-basierte Karriere-Plattform für weibliche Führungskräfte und Aufsichtsräte. Ihr Hauptziel ist es, die Unterrepräsentation von Frauen in Führungspositionen zu thematisieren und mehr Frauen in Leitungsfunktionen in Unternehmen zu bringen. Die Plattform bietet Frauen einen sicheren, anonymen Raum, um sich Unternehmen vorzustellen, die aktiv nach einer Diversifizierung ihres Managements streben und adressiert gezielt die Bedürfnisse und Anforderungen weiblicher Führungskräfte. bunton ist „von Grund auf KI-basiert“ – was heißt das, welche Vorteile sind damit verbunden? Die KI spielt eine entscheidende Rolle in jeder Phase des Bewerbungsprozesses und basiert auf umfangreichen Datenanalysen und Research, um eine maßgeschneiderte Unterstützung zu bieten. Unter anderem berät die KI Unternehmen bei der Gestaltung von Stellenbeschreibungen, die Frauen ansprechen. Sie schlägt den Kandidatinnen gezielt Unternehmen vor, die ihren Bedürfnissen und Präferenzen entsprechen. Durch die Analyse von harten und weichen Faktoren kann KI besonders passende Vorschläge für Unternehmen und Kandidatinnen machen, also das bestmögliche Matching erreichen. Wird eine Kandidatin ausgewählt, gibt die KI Empfehlungen für die Rolle, Verantwortung und den Weiterbildungsbedarf. Und bei Nichtauswahl bietet die KI datenbasiertes Feedback an beide Seiten, um Leistungs- und Verbesserungspotenziale für die Zukunft aufzuzeigen. Die geschlechtliche Identität ist nur eine von vielen Dimensionen von Diversity. Wie divers waren bzw. sind Ihre Arbeitsumfelder? Ich hatte das Privileg, in ganz unterschiedlichen Teams zu arbeiten. Mein aktuelles Arbeitsumfeld bei bunton ist besonders divers – sei es in Bezug auf Geschlecht, kulturellen Hintergrund, religiöse Überzeugungen oder geografische Herkunft der Teammitglieder, die an verschiedenen Standorten arbeiten. Zusätzlich bereichern Altersunterschiede das Team, unsere jüngste Mitarbeiterin ist in den Zwanzigern, die älteste Beirätin in den Sechzigern. Ich bin immer wieder beeindruckt von der Dynamik und der Fülle an Ideen, die ein diverses Team mit sich bringt. Natürlich erfordert eine derartige Vielfalt auch Mut und die Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen, da unterschiedliche Charaktere auch unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen haben, die es wert zu schätzen und miteinander zu verbinden gilt. Sie haben BWL studiert, waren erfolgreich im Consulting tätig – was hat sie dazu bewogen, zu gründen? Ich bin in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen und habe als Erste in meiner Familie einen Hochschulabschluss erlangt. Bereits während meiner Schulzeit hatte ich den Traum vom Unternehmertum und sammelte erste Erfahrungen mit Jobs und Gründungsprojekten während meiner Ausbildung und meines Studiums. Dennoch entschied ich mich zunächst für eine Anstellung in einem Beratungsunternehmen. Es bereitete mir Freude, die Karriereleiter emporzusteigen, weshalb ich länger blieb als ursprünglich geplant – aber der Wunsch nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit überwog. 2015 gründete ich zunächst eine Beratungsgesellschaft, 2020 lernte ich dann meinen heutigen Geschäftspartner Debjit D. Chaudhuri kennen und gründete mit ihm bunton.

Linktipp

www.bunton.de
Schließlich: Welchen Tipp geben Sie Hochschul-Absolventinnen mit? Es ist außerordentlich wichtig, bereits während des Studiums ein starkes berufliches Netzwerk aufzubauen. Die Kommilitonen, mit denen man während des Studiums interagiert, könnten in Zukunft in Führungspositionen sein und dadurch wertvolle berufliche Kontakte bieten, von denen am Ende alle Beteiligten profitieren können.

karriereführer recht 1.2024 – Erfolgsfaktor generative KI: Mehr Effizienz und neue Geschäftsfelder

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Cover karriereführer recht 1-2024 Erfolgsfaktor generative KI

Erfolgsfaktor generative KI: Mehr Effizienz und neue Geschäftsfelder

„Unternehmen verdreifachen Investitionen in generative KI“, titelte die FAZ im Januar unter Berufung auf eine Studie von Glean, einem auf innovative Suchtechnologien spezialisierten Hightechunternehmen. Tatsächlich ist das Tempo rasant, in dem sich die KI-Technologien entwickeln. Damit Schritt zu halten wird über den Erfolg von Unternehmen entscheiden.

Fachautorin Suzanne McGee prognostiziert daher in dem Branchen- und Finanzportal LexisNexis: „KI wird die Anwälte nicht ersetzen, aber Anwälte, die KI nutzen, werden Anwälte ersetzen, die das nicht tun.“ Wie die Kanzleiwelt mit den Herausforderungen generativer KI umgeht, beleuchten wir im Top-Thema dieser Ausgabe.

Generation Generativ

Die künstliche Intelligenz macht den entscheidenden Schritt. Sie ist generativ, erzeugt also Texte, Kontexte, Modelle und vieles mehr. Für Kanzleien wird die Technologie damit zum Co-Piloten. Kanzleien, die KI klug und weitsichtig einsetzen, arbeiten effizienter, finden neue Geschäftsmodelle, binden Mandanten und bauen Fachwissen aus. Einfach loslegen sollte man aber nicht: Der Kurs muss stimmen und der Komplexität des Themas gerecht werden. Ein Essay von André Boße

Künstliche Intelligenz ist zum Dauerthema geworden. Aus einer Technik für die Zukunft ist eine Technologie geworden, die bereits für sehr viele Menschen im Alltag erlebbar ist. KI schreibt Texte und übersetzt sie. Sie erschafft Bilder oder manipuliert Fotos. Sie erkennt menschliche Stimmen oder macht sie nach. Die Rede ist an dieser Stelle von der generativen KI, also einer Technik, die neue Inhalte erzeugt: Texte, Computercodes, Videos, Prozesse, Strukturen. Was die generative KI erschafft, kann lustig oder verstörend sein. Beinahe täglich gehen neue Geschichten aus der KI-Welt durch die Medien. Was hier wichtiger ist: Die generative KI kann hilfreich sein und zu einer hohen Effizienz beitragen. Und das ist für Kanzleien hochinteressant. Denn Hilfe zu mehr Effizienz können sie alle gebrauchen.
Dass generative KI in den Kanzleien eine Rolle spielen wird, daran zweifelt kaum jemand in der Branche.

Start in den USA, Deutschland zögerlich

Dass generative KI in den Kanzleien eine Rolle spielen wird, daran zweifelt kaum jemand in der Branche. In der Recherche für diese Texte zeigte sich jedoch, dass in Deutschland viele Akteure aktuell recht vorsichtig erste Schritte gehen. Man nähere sich dem Thema an, hieß es bei Anfragen, noch sei aber nichts spruchreif. In den USA ist man schon ein Stück weiter, was Studien und Meinungsbeiträge von amerikanischen Autorinnen und Autoren belegen. „In der juristischen Welt beispielsweise untersuchen Anwaltskanzleien und andere das Potenzial der KI schon seit langem – und nutzen es für praktische und manchmal bahnbrechende Zwecke“, schreibt etwa die Fachjournalistin Suzanne McGee in einem Fachbeitrag für das Branchen- und Finanzportal LexisNexis.
Foto: AdobeStock/SkyLine
Foto: AdobeStock/SkyLine

Generative KI im Rechtswesen ist Wachstumsmarkt

Laut einer Meldung des Digital-News-Portals Tech Market Reports prognostizieren Finanzexpert*innen, dass der globale Markt für generative KI im Rechtswesen bis 2032 voraussichtlich eine Marktgröße von etwa 675,1 Millionen Dollar erreichen wird. 2022 lag das Volumen bei 49,8 Millionen. Die prognostizierte durchschnittliche jährliche Wachstumsrate für den Zeitraum von 2023 bis 2032 beträgt damit 30,7 Prozent. Vorangetrieben werde der Markt durch den Einsatz von KI in den Kanzleien, den zunehmenden Bedarf an Automatisierung von Rechtsprozessen sowie die steigende Nachfrage nach personalisierten Rechtsdienstleistungen. Die Region Nordamerika werde dabei voraussichtlich der größte Markt für generative KI im Rechtswesen sein; hier gebe es bereits eine große Zahl von Kanzleien und Rechtstechnologieunternehmen, die generative KI-Lösungen einsetzen. Europa wird hier auch als wichtiger Markt benannt, muss aber aufpassen, das Wachstum nicht zu verpassen.
Grundlage für ihre Überlegungen ist eine Umfrage, deren Ergebnisse LexisNexis im August 2023 veröffentlicht hat. Danach sagt etwa die Hälfte aller Anwälte, dass generative KI-Tools die Rechtspraxis erheblich verändern werden; fast alle glauben, dass sie zumindest einen gewissen Einfluss haben werden (92 Prozent). 77 Prozent sind der Meinung, dass generative KITools die Effizienz von Anwälten, Rechtsanwaltsgehilfen oder Rechtsreferendaren steigern werden; 63 Prozent glauben auch, dass generative KI die Art und Weise, wie Recht gelehrt und studiert wird, verändern wird.

Experimente und neue Funktionen

Klar sei, dass dieser Wandel nicht auf Knopfdruck passiere. Suzanne McGee ist der Auffassung, dass sich die Branche aktuell in einer Phase der ersten Experimente befinde. „Wobei riesige globale Partnerschaften die Lernkurve schnell nach oben schieben“, wie sie schreibt. Für ihren Beitrag sprach die Journalistin mit der Juristin Danielle Benecke, die in der Wirtschaftskanzlei Baker McKenzie im Jahr 2021 eine Position mit völlig neuer Funktion übernahm: Sie leitet seitdem den Bereich Machine Learning – also ein Ansatz für KIInnovationen im Rechtsbereich. „Wir arbeiten hier an der Frage, wie maschinelles Lernen und andere Arten von KI mit unserem Fachwissen kombiniert werden können, um neue Dienstleistungen zu schaffen“, wird Danielle Benecke in dem Beitrag zitiert. Ihr Team untersucht also, wie sich in der Kanzlei generative KI und maschinelles Lernen auf den strategischen Entscheidungsprozess anwenden lassen. Baker McKenzie habe dafür kritische Aufgaben untersucht, die für Anwältinnen und Anwälte mit herkömmlichen Recherchetools nur mit enormem Zeitaufwand zu bewältigen wären. Ein Dauerbrenner für die Mandanten von Baker McKenzie sei es zum Beispiel, globale Handelssanktionen zu verstehen und die damit verbundenen Risiken zu identifizieren. Mit Hilfe einer generativen KI und Data Science untersucht die Kanzlei die Lieferketten der Mandanten, analysiert die ihnen bereitgestellten Daten sowie Daten aus öffentlichen Quellen. Das Ziel? „Risiken zu identifizieren – in großem Umfang und schnell“, wird Danielle Benecke zitiert. Und das funktioniere, denn: „Wenn man das in großem Maßstab macht, entdeckt man Dinge, die Menschen allein vielleicht nicht erkennen würden.“ Genau hier ergibt sich aber auch ein Problem – eines, das die Fachautorin Suzanne McGee als „Kinderkrankheiten einer Technik, die noch in den Kinderschuhen steckt“ bezeichnet. So besitze generative KI die „unglückliche Angewohnheit, Dinge zu erfinden“. Oder anders gesagt: Statt zuzugeben, sie habe keine Ahnung, füllt sie ihre Wissenslücken mit Eigenkreationen – oder auch: Halluzinationen. Nun sind falsche Inhalte im Rechtsbereich fatal, weshalb es laut Suzanne McGee einen großen Bedarf an „zuverlässigen Werkzeugen“ gebe, „die auf die sehr spezifischen Anforderungen von Anwälten zugeschnitten sind“. An diesen werde aber gearbeitet, und sind sie verfügbar, werde die generative KI den nächsten Schritt gehen. Wo der Weg enden wird? Suzanne McGees Prognose: „KI wird die Anwälte nicht ersetzen, aber Anwälte, die KI nutzen, werden Anwälte ersetzen, die das nicht tun.“

Mehr Empathie wagen

Die verstärkte Konzentration auf das Zuhören und das Verstehen der Ziele der Klienten und Gegenparteien wird es Anwälten ermöglichen, Probleme, Ziele und Muster zu erkennen und somit ein Urteilsvermögen zu entwickeln.
Worauf es konkret in den Kanzleien ankommt, formulieren die US-Juristen Michael A. Gerstenzang und David Stiepleman in einem Meinungsbeitrag für das Business- und Legal-News- Portal Bloomberg Law. Ausgehend von der Frage, wofür Anwälte in einer KI-Kanzleiwelt benötigt werden, schlagen die beiden Autoren ein Umdenken bei den Skills vor. Ihre bemerkenswerte Forderung: Mehr Empathie wagen. „Generative KI kann den Anwälten Arbeit abnehmen und ihnen Zeit zum Nachdenken schenken, aber das ist nur wertvoll, wenn der Mensch auch weiß, worüber er nachdenken soll.“ Das nötige Gedankenfutter lieferten zum Beispiel die Mandanten: „Die verstärkte Konzentration auf das Zuhören und das Verstehen der Ziele der Klienten und Gegenparteien wird es Anwälten ermöglichen, Probleme, Ziele und Muster zu erkennen und somit ein Urteilsvermögen zu entwickeln.“ Alles dies führt zu einem neuen Wissen, die sich wiederholenden Arbeiten könne man derweil dem KI-Kopiloten überlassen.

Vier Felder für Wachstum

In welchen Bereichen generative KI den Kanzleien neue Geschäftsfelder eröffnen kann, zeigt ein Beitrag des nordamerikanischen Legal-Tech- und Digital-Nachrichtendiensts Thomson Reuters aus dem Herbst 2023. Die Autorinnen und Autoren nennen vier Felder:
  • Erstens die Kapazität, ausgehend von der Kalkulation: Wenn die KI Routineaufgaben übernimmt, bleibt mehr Zeit für die strategische Geschäftsentwicklung.
  • Zweitens die Reaktionsfähigkeit: KI biete die Chance, schneller auf Mandantenanfragen zu reagieren, Kundendaten zu analysieren und via Cross-Selling weitere Rechtsdienstleistungen anzubieten.
  • Drittens die Erstellung von Inhalten im Sinne hochwertiger Inhalte für Blogs, Soziale Medien oder andere Plattformen.
  • Viertens die Analyse des Marktes und der Wettbewerber, um Nachfragelücken und neue Geschäftschancen zu identifizieren.
Wie aber ist der Stand in Deutschland? Antworten auf unsere Fragen gab es von SKW Schwarz. Die Kanzlei betreibt vier Standorte in Deutschland, tätig sind dort rund 130 Anwältinnen und Anwälte. Fokusthemen sind juristische Fragen, die sich für Unternehmen aus der digitalen Transformation ergeben. SKW Schwarz arbeitet zu KI-Themen mit den Mandanten. Wie aber werden die Möglichkeiten der Zukunftstechnik im Alltag der Kanzlei genutzt? „Wir setzen generative KI zur Erstellung von rechtlichen und sonstigen Dokumenten ein und erzielen damit bisweilen schon deutliche Effizienzsteigerungen“, sagt Stefan C. Schicker, Partner bei SKW Schwarz. Bei der Recherche und Analyse von Rechtsmaterialien verbesserten KI-gestützte Tools die Genauigkeit und Geschwindigkeit. Mit einigen Anbietern befinde sich die Kanzlei darüber hinaus in Testphasen, geprüft werde zum Beispiel der Einsatz im Wissensmanagement:
Foto: AdobeStock/SkyLine
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Generative KI in Rechtsabteilungen der Unternehmen

In vielen Unternehmen finden KI-Lösungen Einzug. Die Rechtsabteilungen sollten hier nicht hintenanstehen, ist der Rat in einem Report von Deloitte.Legal mit dem Titel „Generative AI: A guide for corporate legal departments“. Die Autor*innen nennen hier eine Reihe von Anwendungen, stets gekoppelt an die Frage, was das für die menschliche Arbeit bedeutet: Wie hoch wäre der Aufwand für den Menschen, die Aufgabe ohne KI zu übernehmen – und wie hoch ist der menschliche Aufwand, der erforderlich ist, die Arbeit der KI zu überprüfen? Beispiele für den Einsatz von generativer KI in Rechtsabteilungen sind laut Deloitte-Report die Analyse von Falldaten bei Rechtsstreitigkeiten oder kommerziellen Vertragsabschlüssen, aber auch die Nutzung der Rechenleistungen bei M&A-Projekten und detaillierten Due- Diligence-Prüfungen. Auch im Wettbewerbs- und Kartellrecht sowie bei der Compliance könne die generative KI schnell und aktuell Regelungen und Rechtsordnungen analysieren, um mögliche Verstöße schnell und zuverlässig anzuzeigen.
„Interne Dokumentation, Auswertungen und semantische Suchen von beispielsweise Vertragsklauseln innerhalb der Kanzlei können KI-gestützt ablaufen, um das eigene Wissen effizient zu verwerten“, sagt Stefan C. Schicker. Eine weitere Möglichkeit sieht er im Bereich der Herstellung von Vertragsklauseln: „Wir testen KI für vorausschauende Analysen, für automatisierte Compliance-Checks und in der risikobasierten Beratung.“ Das hat Folgen für das Geschäftsmodell der Kanzlei: „Perspektivisch werden sich in der Mandatsarbeit vermehrt Möglichkeiten ergeben, rechtliche Produkte im Rahmen von alternativen Vergütungsmodellen anzubieten“, sagt Stefan C. Schicker, für den klar ist: „Für Kanzleien ergeben sich durch Investitionen in KI-Technik auch neue wirtschaftliche Chancen.“

Risiken analysieren und reduzieren

Neue Chancen bedeuten in der Regel auch neue Risiken. Dies ist bei der Einführung von generativer KI in die Kanzleiarbeit nicht anders: „Mit der KI sind rechtliche Unsicherheiten sowie komplexe Haftungs- und Ethikfragen verbunden“, sagt Stefan C. Schicker. „Besondere Vorsicht ist geboten im Hinblick auf Datenschutz und die Wahrung von Mandatsgeheimnissen, da Fehlinterpretationen oder Sicherheitslücken in KI-Systemen zu Vertrauensverlust und zu Haftungsansprüchen führen könnten“, warnt er. Eine zunehmende Abhängigkeit von Technologie erhöhe zudem Risiken bei Systemausfällen oder fehlerhaften KI-Entscheidungen. Klar ist: Wer als Talent in den Kanzleien die Nutzung der generativen KI voranbringen will, braucht dafür spezielles Know-how. „Wichtig sind ein technisches Grundverständnis und grundlegende Kenntnisse über die Funktionsweise von KISystemen“, sagt Stefan C. Schicker. Er erwartet zudem eine steigende Spezialisierung in KI-relevanten Rechtsgebieten, zum Beispiel dem IT-Recht, Datenschutzrecht oder Urheberrecht sowie auch bei Haftungsfragen. „Interdisziplinäre Zusammenarbeit, das heißt, die Fähigkeit zur effektiven Zusammenarbeit mit Technikern und Wirtschaftsexperten, wird ebenfalls zunehmend wichtiger. Sie hilft beim Entwickeln von neuen Geschäftsmodellen und wirtschaftlichen Zusammenhängen.“ Kontinuierliche Weiterbildung sei dabei heute ohnehin unerlässlich. „Wegen der rasanten Entwicklung in der KI-Branche ist ein ständiger Marktüberblick erforderlich“, betont Stefan C. Schicker. Das Schöne ist: Auch bei dieser Marktanalyse kann die generative KI helfen – nicht die einzige Win-win-Situation beim Einsatz einer neuen Technologie, die das Potenzial besitzt, eine neue Ära der Arbeit in Kanzleien zu prägen.
 

Urheberrecht und generative KI

Foto: AdobeStock/SkyLine
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Angenommen, ein Mensch entwickelt eine generative KI, die in der Lage ist, ein eigenes Kunstwerk zu erzeugen – und dies auch tut. Darf der Entwickler der Maschine dafür seine Urheberrechte geltend machen? In den USA kam es im Sommer 2023 zu diesem Fall, berichtet wird über ihn im Blog der Kanzlei CMS, wo Dr. Maximilian Vonthien über diesen Fall schreibt. Das U.S. Copyright Office lehnte die Urheberschaft des KI-Entwicklers mit der Begründung ab, das Kunstwerk sei nicht von einem Menschen geschaffen worden. Kategorisch ausgeschlossen, dass eine solche Urheberschaft möglich sei, hat es aber nicht. Vielmehr komme es im Einzelfall darauf an, wie sehr die Erzeugung vom Menschen beeinflusst oder vorgegeben worden sei. „Bei der Frage, wann eine Urheberschaft eines Menschen an einem KI-generierten Erzeugnis angenommen werden kann, betritt man rechtliches Neuland“, schreibt Dr. Maximilian Vonthien in dem Blog. Was auch heißt: Es wird in naher Zukunft zu interessanten Urteilen kommen; wer als Juristin oder Jurist in diesem Bereich unterwegs ist, sollte die Nachrichtenund Urteilslage im Auge behalten.

Möglichkeiten und Grenzen der Nutzung generativer KI

Von den vielfältigen Einsatzmöglichkeiten generativer KI können für die juristische Arbeit etwa die Formulierung und Überarbeitung von Texten, Recherchen oder die Erschließung großer Datenmengen von Bedeutung sein, künftig möglicherweise auch das Beantworten konkreter Fragen oder Falllösungen. Aber ist ein solcher Einsatz von KI überhaupt problemlos möglich und zulässig? Antworten auf diese Frage gibt Professor Dr. Renate Schaub in diesem Gastbeitrag.

Zur Person

Prof. Dr. Renate Schaub, LL.M. (Univ. Bristol) ist Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung , Handels- und Wirtschaftsrecht an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Bürgerliches Recht (insbesondere Haftungsrecht, Vertragsrecht), Internationales Privatrecht, Rechtsvergleichung und Wirtschaftsrecht (insbesondere Lauterkeitsrecht, Gewerblicher Rechtsschutz, Urheberrecht). Dabei liegt ein besonderer Fokus auf den Verbindungen zwischen diesen Rechtsgebieten, den internationalen Aspekten des Wirtschaftsrechts sowie auf den Wechselwirkungen der genannten Rechtsgebiete mit Technisierung und Digitalisierung.
Eigentlich sollte dieser Text mit zwei prägnanten Zitaten von ChatGPT und Bard beginnen, in denen beschrieben wird, wie KI juristische Arbeit verändern, ja geradezu revolutionieren kann. Aber da ich nicht genau weiß, wie die Formulierungen zustande gekommen sind, verzichte ich auf die Zitate und bin so gleich mitten im Thema. Neben den Möglichkeiten einer Nutzung generativer KI gilt es nämlich, auch deren Grenzen – wie etwa eine unklare urheberrechtliche Situation – im Blick zu behalten.

Grenzen der Nutzung von KI

Ausdrückliche Vorgaben zur Nutzung von KI bestehen bisher kaum, aber Grenzen der Nutzung von KI können sich aus bestehenden gesetzlichen Regelungen, Verträgen oder Pflichten zum Schutz der Rechtsgüter Dritter ergeben. So muss etwa bei Vorschriften zur eigenständigen Anfertigung von Prüfungsarbeiten ermittelt werden, ob KI genutzt werden darf und ob gegebenenfalls darüber aufzuklären ist. Entsprechendes gilt bei der Erfüllung vertraglicher Leistungspflichten, bei denen zudem Verpflichtungen zur höchstpersönlichen Leistung den Einsatz von KI einschränken können. Solange der Einsatz von KI noch nicht bei Gesetzgebung und Vertragsgestaltung berücksichtigt ist, besteht hier noch viel Auslegungsspielraum und damit Rechtsunsicherheit. Darüber hinaus ist zu beachten, dass durch die Nutzung von KI keine fremden Rechtsgüter geschädigt werden dürfen. Das kann z. B. beim Einsatz von KI in der Rechtsberatung von Bedeutung sein, wenn eine ungünstige Empfehlung generiert und anschließend weitergegeben wird. Auch die Regeln des Datenschutzrechts sind selbstverständlich bei Eingaben in KI-Systeme zu beachten. Unklar ist die urheberrechtliche Situation bei KI-generierten Texten: Bei den derzeitigen Systemen ist die Entstehung der Texte vielfach nicht nachvollziehbar und da die Trainingsdaten der KI auch urheberrechtlich geschützte Werke umfassen können, ist es nicht auszuschließen, dass die Ergebnisse auch urheberrechtsverletzende Elemente enthalten.

Die Strategie: Besonnenheit und Zurückhaltung

Bei so vielen offenen Fragen ist die beste Strategie jedenfalls derzeit noch eine zurückhaltende und besonnene Verwendung von KI. Dass technische Systeme und damit auch KI nicht unfehlbar sind, dürfte allgemein bekannt sein – die Ergebnisse können unvollständig oder falsch (manchmal auch von der KI erfunden) sein. Daher ist beim Einsatz von KI zum Generieren von Texten – wenn man sie dafür überhaupt verwenden will und darf – größte Vorsicht geboten, weil die erzielten Ergebnisse nicht zwingend korrekt sein müssen und zudem die Quellen häufig unklar sind. Unerlässlich ist es, sich vorher über die Funktionsweise des genutzten Systems zu informieren und die Ergebnisse zu kontrollieren. Sinnvoller kann der Einsatz von KI zur Textkorrektur und Stilverbesserung sein. Hier bestehen weniger urheberrechtliche Bedenken, aber die Letztverantwortung für Verständlichkeit und inhaltliche Richtigkeit bleibt auch hier bei den Nutzenden. Bei Recherchen und bei der Verarbeitung großer Datenmengen kann KI sicherlich helfen, aber auch hier muss jedenfalls eine Kontrolle erfolgen. Zudem sollte beim Einsatz generativer KI immer gefragt werden, ob dieser gegenüber anderen (z. B. Prüfenden oder Vertragspartnern) offenzulegen ist. Fazit: KI kann bislang vielleicht an manchen Stellen die Arbeit erleichtern, aber eigenständiges Denken und Entscheiden nicht ersetzen.

Der virtuelle Gerichtssaal

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Während der Corona- Pandemie kamen viele Menschen zum ersten Mal in Kontakt mit virtuellen Besprechungen. Doch Onlinemeetings bieten auch außerhalb von Pandemiezeiten Vorteile, denn lange Reisezeiten können vermieden werden. Klassische Onlinetermine haben allerdings noch Schwächen, an deren Behebung nun in einer internationalen Forschungskooperation gearbeitet wird. Einblicke in die Forschungsergebnisse bietet Dr. Volker Settgast in seinem Gastbeitrag.

Zur Person Dr. Volker Settgast schloss 2005 sein Informatikstudium an der Technischen Universität Braunschweig ab und promovierte 2013 an der Technischen Universität Graz. Seit Juli 2009 ist er im Geschäftsbereich Visual Computing in Graz für die Fraunhofer Austria Research GmbH tätig, wo er als Senior Researcher zum Thema Virtual und Augmented Reality forscht.
Gerichte in Kanada und Australien machen bereits von virtuellen Verhandlungen Gebrauch. Kein Wunder – sind dort die Anreisezeiten und Wege unter Umständen besonders lang und stehen in keiner günstigen Relation zur Dauer mancher Verhandlung. Doch auch in anderen Ländern ist der Trend zu beobachten. Im Forschungsprojekt „Virtual Court“, das von Fraunhofer Austria geleitet wird und an dem auch internationale Partner wie die Western Sidney University, das Department of Earth & Planetary Sciences der Harvard University und das Cyberjustice Laboratory der Université de Montréal beteiligt sind, wollen wir nun sicherstellen, dass einerseits die Technik in jedem Fall problemlos funktioniert und dass andererseits Schwächen von klassischen Onlinekonferenzen behoben werden. Einer der Nachteile klassischer Videokonferenzen ist ein ermüdender Effekt, der von vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern beschrieben wird. Der Grund für diese Ermüdung liegt mit großer Wahrscheinlichkeit am fehlenden Blickkontakt, denn in einem gewöhnlichen Zoom-Meeting scheinen alle Blicke an einem vorbeizugehen. Das direkte Ansprechen einer Person ist erschwert, die zwischenmenschliche Komponente fehlt. Unser Ziel ist, dass eine Person in dem von uns entwickelten virtuellen Gerichtssaal ganz selbstverständlich erkennen kann, wenn sich ihr eine andere zuwendet und Augenkontakt herstellt. In der ersten Projektphase experimentierten wir dafür mit einem Set-up aus mehreren Webcams und Monitoren. Das hat sich aber als nicht praktikabel erwiesen, denn im Normalfall verfügt eine Person nur über eine einzige Webcam und einen Monitor. Auch die Menge der zu übertragenden Daten hat dabei ein Problem dargestellt.
Bild: Fraunhofer Austria
Bild: Fraunhofer Austria
Die Lösung: Digitale Avatare repräsentieren die Personen in einer virtuellen Umgebung, die Gerichtsverhandlung wird komplett in den virtuellen Raum übertragen und findet nicht mehr zu Hause vor dem Monitor statt. Die Software, die das ermöglichen soll, ist derzeit in Entwicklung. Erste Tests haben bereits stattgefunden. Vor dem Start der Verhandlung im virtuellen Gerichtssaal wird den Beteiligten die für sie entsprechende Rollenspezifikation wie Richter, Verteidiger, Zeuge oder Angeklagter zugewiesen. Eine Webcam nimmt das Gesicht auf. Mimik und Augenbewegungen der Verhandelnden werden auf die Avatare übertragen. Die mittels Eyetracking erfasste Blickrichtung wird in eine Kopfbewegung des Avatars umgesetzt – ein direkter Blickkontakt zwischen den Gesprächspartnern wird simuliert. Die Übertragung eines Videobildes entfällt bei diesem System. Lediglich der Audiostream und die aus dem Eyetracking und der Mimikerkennung resultierenden Daten werden übertragen. Der zu transferierende Datenstrom ist daher reduziert und stellt für niemanden mehr ein Hindernis dar. Im nächsten Schritt sollen die Hände der Teilnehmenden und ihre Gesten ebenfalls erfasst und durch den Avatar dargestellt werden. Geplant ist auch, die virtuellen Gerichtssäle länderspezifisch anzupassen. Über Ratschläge und Kooperationsangebote aus der Welt der Juristinnen und Juristen in Österreich oder Deutschland würden wir uns daher besonders freuen.
Bild: Fraunhofer Austria
Bild: Fraunhofer Austria

Reallabore – Innovationsförderung durch Regulierung?

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Die Entwicklung von Innovationen stößt – wegen ihrer Neuartigkeit – immer wieder auf rechtliche Herausforderungen. Dies überrascht nicht, denn Innovationen können gerade dort wirken, wo die bestehenden Regeln zwar greifen, aber nicht die besonderen und neuen Umstände der Innovation abbilden. Dies kann zur Folge haben, dass eine Innovationsentwicklung nicht abgeschlossen werden kann oder aufgrund von Rechtsunsicherheit nicht (weiter-)verfolgt wird. Reallabore knüpfen hier an und können Innovationen fördern. Wie, erklärt Rechtsanwältin Dr. Theresa Bachmann.

Zur Person

Dr. Theresa Bachmann ist Rechtsanwältin bei Noerr Partnerschaftsgesellschaft mbB in Berlin und berät in diversen Bereichen des öffentlichen Wirtschaftsrechts und Außenwirtschaftsrechts. Sie begleitet Unternehmen und Akteure der öffentlichen Hand bei regulatorischen Fragen im Zusammenhang mit Rechtsänderungen, Innovationen und komplexen Infrastrukturvorhaben und vertritt diese in Verwaltungs(gerichts)verfahren. Ihre außenwirtschaftsrechtlichen Schwerpunkte liegen in der Beratung von Unternehmen im Bereich des Sanktions-, Exportkontroll- und Zollrechts sowie in der Investitionskontrolle.
Nach der Definition des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) sind Reallabore Testräume für Innovation und Regulierung, in denen nicht nur eine innovationsbezogene Erprobung stattfinden kann, sondern gerade auch eine Erprobung der einschlägigen oder benötigten Regulierung (siehe https:// www.bmwk.de/Redaktion/DE/Dossier/reallabore-testraeume-fuer-innovation- und-regulierung.html). Was aber genau ist unter solchen Testräumen zu verstehen und wie wirken sie sich in rechtlicher Hinsicht aus? Und kann eine Regulierung – der Erprobung im Reallabor als solcher oder die regulatorische Verankerung von Reallaboren – auch innovationsfördernd wirken?

Was ist ein Reallabor?

Der Begriff „Reallabor“ lässt an einen physischen Raum, eben ein Labor, denken. Und in der Tat ist diese Assoziation nicht fehl am Platz, auch wenn es sich bei einem Reallabor um ein Labor im übertragenen Sinne handelt, in dem neue Technologien, Produkte und Geschäftsmodelle in der Praxis unter realen Bedingungen erprobt werden können. Die Erprobung im Reallabor findet also gerade nicht in einem gesonderten Raum statt, sondern im Realbetrieb. Prominentes Beispiel hierfür ist der Einsatz innovativer Verkehrsmittel zur Personenbeförderung, deren Anwendung sich noch in der Erprobungsphase befindet, diese aber zu Erprobungszwecken bereits im öffentlichen Straßenverkehr eingesetzt und von der Allgemeinheit genutzt werden. Das Reallabor als Testraum für Innovation und Regulierung legt einen besonderen Fokus auf die Ausforschung der regulatorischen Bedingungen, die die Nutzung der Innovation auch zukünftig erfordern wird. In der Regel ist eine Erprobung im Reallabor dann notwendig, wenn der Einsatz der Innovation auf regulatorische Hindernisse stößt, beispielsweise einen fachgesetzlichen Genehmigungsvorbehalt, dessen Voraussetzung die Innovation gerade aufgrund ihrer Innovativität nicht erfüllen kann. Da Reallabore an die konkrete Innovation anknüpfen, sind sie von der jeweiligen Innovation und dem jeweiligen Erprobungsbedürfnis geprägt.

Was können Reallabore leisten?

Die Ausgestaltung eines Reallabors bestimmt auch das Leistungspotenzial, das dieses entfalten kann. Reallabore, die der Regulierung dienen, weisen jedoch oft einige Aspekte auf, die im Zusammenhang stehen mit gesetzgeberischem Tätigwerden oder Verwaltungshandeln. Gesetzgeberisches Handeln ist in der Regel dann vonnöten, wenn die Erprobung einer Innovation an regulatorischen Hindernissen scheitert. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Erprobung nach der bestehenden Rechtslage aufgrund ihrer Innovativität einem Verbot unterliegt. Gesetzgeberisches Mittel, solchen Verboten zu begegnen, sind insbesondere Experimentierklauseln. Experimentierklauseln wirken regelmäßig in dem für die Innovation anwendbaren Fachrecht. In den meisten Fällen schaffen sie Ausnahmetatbestände gerade zu Erprobungszwecken und ermöglichen so ein Abweichen vom bestehenden Rechtsrahmen (siehe z. B. § 2 Abs. 7 PBefG). Sie bieten aber auch Gelegenheit, den bestehenden Rechtsrahmen erprobungs- und innovationsbezogen weiterzuentwickeln. Experimentierklauseln stellen folglich eine Form der Regulierung dar, die gerade dazu dient, Innovationen zu ermöglichen und entsprechend innovationsfördernd wirkt. Verwaltungshandeln im Zusammenhang mit Reallaboren geht oftmals mit Experimentierklauseln einher, ist aber nicht zwangsläufig auf deren Anwendungsbereich beschränkt und kann sich auch aus bestehendem Verwaltungsverfahrensrecht ergeben. Abhängig vom Bestehen einschlägiger Ermächtigungsgrundlagen kann die Verwaltung mit oder ohne Regelungswirkung tätig werden. Denkbar sind beispielsweise der Erlass von Verwaltungsakten, mit denen Erprobungen genehmigt oder ein Nichteinschreiten zugesichert wird. Daneben kann die Verwaltung aber auch beispielsweise durch rein informatorisches Handeln eine Erprobung begleiten und auf diese Weise Rechtsunsicherheit entgegenwirken.

Welche Rolle spielen Reallabore im Rechtsrahmen und in der Innovationsförderung?

Reallabore als Testräume für Regulierung sind ein wichtiges Instrument, um den Rechtsrahmen innovationsfreundlicher zu gestalten. Gelingt dies, ebnen Reallabore den Weg zu einer innovationsfördernden Regulierung. Dabei ermöglichen sie zum einen die Entwicklung von Innovationen, so lange sich diese noch im Erprobungsstadium befinden. Sie bieten vor allem aber auch das Potenzial, wichtige Erkenntnisse über die erforderliche Regulierung von Innovationen im Regelbetrieb, also nach der Erprobungsphase, zu erlangen. Diese Erkenntnisse können – und sollten – in den regulären Regulierungsrahmen übertragen werden, um eine rechtssichere Etablierung der Innovationen zu gewährleisten.
Reallabore als Testräume für Regulierung sind ein wichtiges Instrument, um den Rechtsrahmen innovationsfreundlicher zu gestalten.
Beide Aspekte wirken in die Innovationslandschaft hinein: Für die Erprobungsphase bieten Reallabore einen Rahmen, der für Innovatorinnen und Innovatoren Rechtssicherheit bedeutet. Der Erkenntnisgewinn aus dem Reallabor, einhergehend mit einer nachgelagerten, dauerhaften Anpassung des Rechtsrahmens und die Ermöglichung des Regelbetriebs, schaffen wiederum einen der größten Innovationsanreize, nämlich die Aussicht, die Innovation über die Erprobungszeit hinaus zur Anwendung zu bringen. Vor diesem Hintergrund kommt Reallaboren, die insbesondere auch der Erprobung von Regulierung dienen, eine wichtige Rolle zur Innovationsförderung zu. Doch nicht nur die regulatorischen Erkenntnisse aus den einzelnen Reallaboren wirken innovationsfördernd. Auch die regulatorische Verankerung des Instruments „Reallabor“ dient der Innovationsförderung: Wenn das Instrument des Reallabors zu einem festen Bestandteil in der Regulierungslandschaft wird und Reallabore nach einem einheitlichen Grundkonzept und innovationsfreundlich ausgestaltet werden, dürfte dies zu einer größeren Aufmerksamkeit für die Möglichkeit der Erprobung im Reallabor führen. Vor allem könnte eine solche regulatorische Verankerung eines Grundkonzepts zu gesteigerter Rechtssicherheit dessen, was im Rahmen von Reallaboren möglich ist, führen. Dieser Aspekt der innovationsfördernden Regulierung ist geeignet, das Instrument Reallabor greifbarer und damit anwendungsfreundlicher zu machen. Die Bundesregierung hat die gesetzliche Verankerung von Reallaboren als Ziel im Koalitionsvertrag festgelegt (Koalitionsvertrag 2021, S. 33); das BMWK arbeitet aktuell an der Umsetzung eines Reallabore-Gesetzes (BMWK, 2021: Neue Räume, um Innovationen zur erproben – Konzept für ein Reallabore-Gesetz). Man darf also gespannt sein, wie die Bundesregierung das Potenzial zur Innovationsförderung durch Regulierung ausgestalten wird und wie sich ein Reallabore-Gesetz auf die Innovationslandschaft auswirken wird.

Von der Europäischen Staatsanwaltschaft in die Kanzlei

Dr. Anna-Elisabeth Krause-Ablaß hat als Delegierte Europäische Staatsanwältin Aufsehen erregende Prozesse geführt. Nun ist sie von Luxemburg nach Bonn gewechselt und bringt ihr Wissen bei Flick Gocke Schaumburg ein. Im Gespräch mit dem karriereführer recht begründet sie den Schritt und gibt Einblicke in alte und neue Herausforderungen. Das Interview führte Dr. Marion Steinbach

Zur Person

Dr. Anna-Elisabeth Krause-Ablaß war von 2008 bis 2009 Rechtsanwältin bei CMS Hasche Sigle, Frankfurt am Main, anschließend bis 2010 Richterin beim Landgericht Frankfurt am Main. Von 2010 bis 2021 arbeitete sie als Staatsanwältin bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main, unterbrochen durch eine Tätigkeit als Nationale Sachverständige bei der Europäischen Kommission in Brüssel. Von 2021 bis 2023 war sie Delegierte Europäische Staatsanwältin bei der Europäischen Staatsanwaltschaft in Luxemburg und Frankfurt. Seit Anfang 2024 ist sie Rechtsanwältin im Bonner Büro von Flick Gocke Schaumburg.
Der Wechsel von der Staatsanwaltschaft in eine Kanzlei ist eher selten. Was hat sie zu dem Schritt bewogen? Der Job des Staatsanwalts ist eine ganz tolle Aufgabe, die nicht nur spannend und extrem abwechslungsreich ist, sondern auch dem Gemeinwohl dient. Diese Attribute haben mich die letzten 14 Jahre, die ich als Staatsanwältin tätig war, täglich motiviert und inspiriert. Sie haben mir die Entscheidung, den Weg zurück in die Privatwirtschaft zu gehen, nicht leicht gemacht. Ich bin allerdings ein Mensch, der gerne neue Herausforderungen annimmt und sein Karriereschicksal selbst in die Hand nehmen möchte. In der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Staatsanwaltschaft kann man sich leider nicht auf ein Fachgebiet spezialisieren und zugleich in der Karriereleiter emporsteigen. Beförderungspositionen sind rar und immer mit dem Risiko verbunden, sich plötzlich in einem gänzlich anderen Fachgebiet oder einer Verwaltungsaufgabe wiederzufinden. Es ist zwar lehrreich und bereichernd, sich immer wieder in neue Materien einzuarbeiten; ich habe mich allerdings dankenswerterweise die letzten zwölf Jahre ausschließlich mit dem Gebiet des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts befasst und möchte dieser Materie gerne treu bleiben, da sie mir großen Spaß macht. Sie kennen die Kanzleiwelt durch Ihre früheren beruflichen Erfahrungen. Was stellt für Sie den besonderen Reiz der Arbeit in einer Kanzlei dar? Der Reiz besteht darin, ein großes Maß an Gestaltungsmöglichkeit zu haben. Auch wenn Kanzleien wirtschaftlichen Zwängen unterworfen sind, besteht bei der Frage, ob und wie ein Mandat geführt wird, größere Freiheit als bei der Frage, ob und wie ein Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft bearbeitet wird. Ein weiterer – aus meiner Sicht nicht zu unterschätzender – Vorteil der Tätigkeit in einer größeren Kanzlei ist die Personal- und Sachausstattung. Trotz der Vorteile habe ich auch großen Respekt vor der neuen Tätigkeit. Es wird eine Umstellung sein, plötzlich nicht mehr objektiv auf einen Sachverhalt zu blicken, sondern Partei für die Mandantschaft zu ergreifen. Zudem ist man als Dienstleister den zeitlichen Bedürfnissen des Mandanten unterworfen. Da ich dies aber bereits zu Beginn meiner beruflichen Tätigkeit war und darüber hinaus aus einer Anwaltsfamilie stamme, ist mir dies nicht fremd. Zudem ist die Tätigkeit des Staatsanwalts in einem Wirtschaftsdezernat auch mit viel Mehrarbeit verbunden, die mich aber nie wirklich abgeschreckt hat. Sie haben Ihre berufliche Laufbahn im Bereich Arbeits- und Gesellschaftsrecht begonnen, waren dann als Richterin in Zivilsachen tätig und haben sich danach auf Wirtschaftsstrafrecht spezialisiert. Was sind die besonderen Herausforderungen dieses Bereichs? Die Besonderheit des Wirtschaftsstrafrechts besteht darin, dass das materielle Strafrecht nur einen geringen Teil der Tätigkeit ausmacht. Der Großteil der Rechtsfragen, mit denen man sich zu befassen hat, stammt aus dem Zivilrecht (z. B. dem Gesellschafts- und Arbeitsrecht) und dem Steuerrecht. In prozessualer Hinsicht weicht das Wirtschaftsstrafrecht jedoch nicht vom Kernstrafrecht ab, sodass das Strafverfahrensrecht zum täglichen Brot eines Wirtschaftsstrafrechtlers gehört. Im Wirtschafts- und Steuerstrafrecht handelt es sich üblicherweise um komplexe Sachverhalte, die der Bearbeiter aus vielen Unterlagen und Daten zu erfassen hat. Studierende, die in dieser Rechtsmaterie arbeiten möchten, sollten daher neben einem allgemeinen Interesse am Strafrecht an wirtschaftlichen Zusammenhängen interessiert, dem Steuerrecht gegenüber nicht abgeneigt und bereit sein, umfangreiches Aktenmaterial zu sichten. Nicht zu unterschätzen ist auch die Tatsache, dass man – sowohl bei der Staatsanwaltschaft als auch in der Anwaltschaft – im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts viele Tage und Monate, gegebenenfalls sogar Jahre, mit den Fällen zu tun hat. Studierende, die es vorziehen, viele, aber dafür kürzere Sachverhalte zu bearbeiten, sollten sich gut überlegen, ob das Wirtschaftsstrafrecht die richtige Materie für sie ist. Ich selbst wollte ursprünglich nie im Strafrecht tätig sein. Im Studium habe ich meinen Schwerpunkt auf das Arbeits- und Gesellschaftsrecht gelegt und auch im Gesellschaftsrecht promoviert. So war es nur konsequent, auch in diesem Bereich in den Beruf starten. Beim Landgericht war ich auch ausschließlich mit Zivilsachen befasst. Bei der Staatsanwaltschaft, zu der ich infolge Personalüberhangs beim Landgericht unfreiwillig gekommen bin, habe ich dann aber großen Gefallen am lebensnahen Strafrecht entwickelt und dann letztendlich im Wirtschaftsstrafrecht die perfekte Kombination gefunden. Als Staatsanwältin hatten Sie es zum Teil mit spektakulären Fällen zu tun, über die oft in den Medien berichtet wurde, wie beispielsweise über die öffentlichkeitswirksamen Hausdurchsuchungen beim DFB aufgrund des Verdachts der schweren Steuerhinterziehung. Wie werden sich Ihre Aufgaben und Ihre Arbeitsweise bei Ihrer neuen Tätigkeit verändern? Ich werde einerseits Unternehmen dazu beraten, welche Vorkehrungen sie treffen können, um solche öffentlichkeitswirksamen Hausdurchsuchungen nach Möglichkeit zu vermeiden. Diese stellen nämlich nicht nur eine Herausforderung für den Staatsanwalt dar, sondern beeinträchtigen auch die Reputation des Unternehmens. Hierbei spielt es eine große Rolle, hinreichende Compliance- Maßnahmen zu implementieren, die die Begehung von Straftaten verhindern. Für den Fall, dass es zu Straftaten gekommen ist, wird es dann andererseits zu meinen Aufgaben gehören, das Unternehmen gegenüber dem erhobenen Vorwurf zu verteidigen. Zudem werde ich meine Ermittlungsexpertise aus den vergangenen Jahren bei unternehmensinternen Untersuchungen einbringen.

Ist das Recht geschlechtergerecht?

Prof. Dr. Dana-Sophia Valentiner geht den vielen Facetten der Frage nach der Geschlechtergerechtigkeit des Rechts nach. Für ihr Engagement zur Förderung der Frauen und der Gleichstellung wurde die Vizepräsidentin des Deutscher Juristinnenbundes bereits ausgezeichnet. Im Gespräch mit dem karriereführer recht erklärt sie unter anderem, worum es bei der feministischen Rechtspolitik geht. Die Fragen stellte Dr. Marion Steinbach.

Zur Person

Dana-Sophia Valentiner studierte Rechtswissenschaft an der Universität Hamburg, wo sie 2020 mit einer mehrfach prämierten Arbeit zum Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung bei Prof. Dr. Ulrike Lembke promoviert wurde. Bis 2022 war sie an der Helmut- Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Öffentliches Recht, insbes. Öffentliches Wirtschafts- und Umweltrecht tätig. Seit 2022 lehrt und forscht sie an der Universität Rostock. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Staatsund Verwaltungsrecht, insbesondere Grundrechte (allgemeines Persönlichkeitsrecht, Gleichheitsrechte), Wahlrecht, Recht der Verkehrswende und Legal Gender Studies. Sie ist unter anderem Young Academy Fellow der Akademie der Wissenschaften in Hamburg und Vizepräsidentin des Deutschen Juristinnenbundes e. V.
Warum braucht es eine feministische Rechtspolitik? Erstens, weil Recht keineswegs objektiv, neutral und gerecht ist. In unserem Podcast Justitias Töchter diskutieren wir über diskriminierende Rechtsnormen oder Beispiele für Benachteiligungen oder Stereotypisierungen, die aus der Rechtsanwendungspraxis resultieren. Recht ist ein Machtinstrument, das auch dazu beiträgt, bestimmte Erwartungen an Geschlecht und gesellschaftliche Strukturen aufrechtzuerhalten. Als Machtinstrument bietet Recht auch viel Potenzial für eine Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse, und hierin liegt der zweite Grund, warum es eine feministische Rechtspolitik braucht: Das Versprechen materieller Gleichberechtigung, das auch Art. 3 Abs. 2 GG macht, verlangt staatliches Handeln, das benachteiligende Hürden abbaut, Stereotypisierungen überwindet, Diskriminierungen beendet und verhindert. Inwiefern weist auch das Jurastudium Diskriminierungen auf? Das Jurastudium ist jedenfalls nicht besonders divers. Für die Studierendenschaft ändert sich das zunehmend, aber die juristischen Fakultäten sind immer noch sehr männlich, sehr weiß. Solche Räume haben ein gewisses Potenzial für Exklusion und auch für Diskriminierungen. Für die Benotung in den juristischen Staatsexamina haben dies Towfigh/ Glöckner/Traxler in ihren Studien nachgewiesen. Für die juristischen Ausbildungsfälle konnte ich in einer Studie vor ein paar Jahren zeigen, dass sie durchzogen sind von Geschlechterrollenstereotypen (z. B. der Rechtsanwalt und die Sekretärin). Ich kritisiere außerdem das Objektivitätsideal, das der juristischen Ausbildung teilweise zugrunde gelegt wird. Ich halte das für eine Illusion. Viel wichtiger ist es, als Juristin sensibel für das eigene Wissen und dessen Grenzen sowie für die eigene Positionierung und eigene Privilegien zu sein. Das sollte auch in der juristischen Ausbildung eine Rolle spielen. Wie ist es um die Geschlechtergerechtigkeit in den Kanzleien bestellt? Auch in den Kanzleien zeigt sich das bekannte Muster: Frauen und andere marginalisierte Personen sind unterrepräsentiert, vor allem in Führungspositionen. Der Anteil an Frauen bei den Equity Partnerschaften in Kanzleien liegt etwa bei elf Prozent. Mittlerweile gibt es einige Initiativen, um gezielt Frauen und marginalisierte Personen zu gewinnen und zu halten, z. B. Mentoring und besondere Vernetzungsangebote. Ohne weitgreifende strukturelle Veränderungen wird ein wirklicher Kulturwandel aber nicht gelingen. Es braucht eine klare Personalpolitik, auch unter Einsatz von Quoten, um Sichtbarkeit herzustellen und Vorbilder zu schaffen. Außerdem sind Arbeitszeitmodelle zu entwickeln, die insbesondere die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen. Sie sensibilisieren auch für latente Geschlechterungerechtigkeit, beispielsweise anhand der Zeit. Was hat es damit auf sich? Das war eine sehr interessante Podcastfolge mit der Journalistin und Autorin Teresa Bücker über ihr Buch „Alle Zeit“. Sie zeigt darin, dass Zeit die zentrale Ressource in unserer Gesellschaft und sehr ungleich verteilt ist. Zeit zu haben ist zugleich Grundvoraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. Das Thema Zeitgerechtigkeit ist auch für das Recht interessant. So wirken sich bestehende Regelungen faktisch darauf aus, wie viel Zeit uns zur Verfügung steht. Das fängt mit Arbeitszeitregelungen an und reicht bis zu Ansprüchen auf Kinderbetreuung oder Elternzeit. Solche Regelungen gestalten Realitäten. Sie können – und das ergibt sich besonders aus einer feministischen Perspektive – auch einen Beitrag zur Geschlechtergerechtigkeit leisten. Der Deutsche Juristinnenbund hat unter Leitung der großartigen Professorin Heide Pfarr ein umfangreiches Konzept für ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft erarbeitet. Es setzt auf Maßnahmen regulierter Selbstregulierung, auf kollektiv erarbeitete Arbeitszeitmodelle, eine lebenslauforientierte Arbeitszeitgestaltung, Arbeitszeitchecks zur Ermittlung von Arbeitszeitbedürfnissen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auf dieser Grundlage zu ergreifende Maßnahmen. Kanzleien haben hier die Chance, mit positivem Beispiel voranzugehen. Was können Anwältinnen in den Kanzleien für mehr Gleichberechtigung tun? Rechtsanwältinnen können sich ansprechbar zeigen für Frauen und andere marginalisierte Personen, Netzwerke für den niedrigschwelligen Austausch schaffen bzw. an ihnen mitwirken und Talente aktiv fördern. Am meisten können aber die Partner tun – und das sind immer noch überwiegend Männer. Was wird für eine Gleichberechtigung in Rechtsprechung und Gesetzgebung gebraucht? Es gibt noch allerhand zu tun. Ein Anfang wäre gemacht, würde der staatliche Gleichberechtigungsauftrag aus Art. 3 Abs. 2 GG ernstgenommen. Dieses Ziel wird nur erreicht, wenn alle staatlichen Akteure bei allen Maßnahmen Gleichberechtigung als eigenständiges Ziel und Querschnittsaufgabe mitdenken. Das Problem ist: Die bestehenden Konzepte und Strategien existieren nur auf dem Papier. Viel zu oft fallen sie in der Praxis hintenüber. Solange das so ist, bleibt Art. 3 Abs. 2 GG ein wunderschönes, aber leeres Versprechen, dessen Beachtung im Einzelfall von dem Engagement Einzelner abhängt.

Wie ist die Idee zu dem Podcast Justitias Töchter entstanden?

Selma Gather, die den Podcast mit mir moderiert, und ich teilen ein großes Interesse für feministische Rechtswissenschaft sowie für Podcasts. Lehrbücher und Zeitschriften zum Thema gibt es einige sehr gute, z. B. das Studienbuch „Feministische Rechtswissenschaft“ von Foljanty/Lembke, die Rechtszeitschrift STREIT oder die djbZ. In der Podcastlandschaft sah es dagegen mau aus. Den Ausschlag für den Projektstart gab Professorin Maria Wersig, damals Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes, die auch in unserer ersten Folge zu Gast war. Seit Mai 2020 sprechen wir nun bei Justitias Töchter über feministische Themen im Recht und mit Frauen bzw. FLINTA über Recht. Es geht eigentlich in jeder Folge um die Frage, ob das Recht geschlechtergerecht ist. Die Themenbandbreite reicht von reproduktiven Rechten über das Familien- und Abstammungsrecht bis zu geschlechtsspezifischer Gewalt. „Justitias Töchter. Der Podcast zu feministischer Rechtspolitik“ Der Podcast ist eine Produktion des Deutschen Juristinnenbunds e.V. (djb). Selma Gather und Dana-Sophia Valentiner sprechen einmal im Monat über feministische Themen im Recht und mit Frauen über Recht.

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