StartDigitalKI-Affinität wird zum entscheidenden Skill

KI-Affinität wird zum entscheidenden Skill

Die generative KI erreicht die Breite. Expert*innen sprechen vom „iPhone-Moment“: Immer mehr Menschen und Organisationen nutzen die KI, probieren aus und profitieren davon. Und das zahlt sich aus: Die Künstliche Intelligenz besitzt das Potenzial, die menschliche Arbeit produktiver denn je zu machen. Für die Unternehmen stellt sich daher nicht die Frage, ob sie auf diese Technik setzen – sondern in welcher Intensität. Klar dabei ist: Es geht nicht ohne den Menschen. Weshalb die Führungskräfte vor der Aufgabe stehen, Verständnis und Nutzen der Systeme zu vermitteln. Damit wird KI-Affinität zu einem entscheidenden Skill. Ein Essay von André Boße

Oft sind es die kleinen Dinge, bei denen sich zeigt, dass sich wirklich etwas ändert. Es ist daher als gutes Zeichen zu bewerten, dass sich Bundeskanzler Olaf Scholz nach einem Rundgang auf der Hannover Messe 2024 im April fasziniert davon zeigte, „wie sehr selbst in kleinsten Produkten, die hier vorgestellt werden, Künstliche Intelligenz eine Rolle spielt“, wie Olaf Scholz auf der Homepage der Bundesregierung zitiert wird.

KI kann 100 Stunden im Jahr bringen

Das Beratungsbüro des Instituts der Deutschen Wirtschaft, IW Consult, hat in einer Studie das Wertschöpfungspotenzial von KI-Lösungen für die deutsche Industrie in Zahlen gefasst. Das Kernergebnis der Studie mit dem Titel „Der digitale Faktor“ laut Zusammenfassung: „330 Milliarden Euro könnte generative KI in Zukunft zur Bruttowertschöpfung in Deutschland beitragen.“ Diese Zahl zeige, wie entscheidend der Einsatz von KI in den nächsten Jahren ist, um die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in Deutschland zu sichern. So könnten die Produktivitätssteigerungen durch die Nutzung generativer KI-Tools dazu führen, dass „eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer in Deutschland in Zukunft im Durchschnitt 100 Stunden im Jahr durch diese Anwendungen einsparen könnte.“

Wenn also schon im Kleinsten KI zu finden ist: Sind wir dann bereits mittendrin in der KI-Revolution? Prof. Dr. Johannes Brandstetter ist Forscher im Institut für Machine Learning an der Johannes Kepler Universität Linz, zuvor war er bei Microsoft in der Entwicklung von KI-Systemen tätig. In einem Interview auf der Homepage der Hannover Messe bestätigt er, dass zuletzt etwas in Gang gekommen ist. Brandstetter sagt, die Zahlen der Studierenden an seinem Institut lägen auf Rekordniveau, „es gibt mehr Geld für die Forschung und die Unternehmen haben Angst, etwas zu verpassen“. Die Folge: Sein Institut müsse mittlerweile die Unternehmen nicht mehr zu Industrieprojekten überreden, sondern diese absagen, weil die Nachfrage so groß ist. Vor allem viele Maschinenbau-Unternehmen kämen auf die KI-Forscher zu, also die Hidden-Champions, für die Deutschland sich zurecht rühmt. Brandstetter: „Wir erleben gerade den iPhone-Moment der KI in der Industrie.“

Generative KI: Für jede und jeden verfügbar

Mit der Metapher des „iPhone-Moments“ beschreiben auch Miriam Meckel und Léa Steinacker die gegenwärtige Situation.  Ihr gemeinsames Buch „Alles überall auf einmal – Wie Künstliche Intelligenz unsere Welt verändert und was wir dabei gewinnen können“ zählt zu den Spiegel-Bestsellern, was zeigt, dass das Thema längst nicht mehr nur ein Fachpublikum interessiert. Die Autorinnen konkretisieren den „iPhone-Moment“, wenn sie feststellen, die Technologie sei erstmals für jede und jeden verfügbar. Diese Revolution findet in der Breite statt: Während frühere digitale Revolutionen wie Großrechner, das Internet oder auch die mobile Kommunikation zunächst den großen Behörden oder Unternehmen vorbehalten waren, sind generative KI-Tools wie ChatGPT für Sprache, Photo AI für Bilder oder Suno für Musik für jede oder jeden verfügbar, kostenlos zum Ausprobieren, kostengünstig für alle, die sich länger damit beschäftigen wollen.

Es wird Zeit dafür, sich die Unterstützung der KI zu sichern. Nicht nur mit Blick auf die schwachen Wachstumsprognosen in Deutschland, sondern auch bei näherer Beschäftigung mit der Frage, ob denn die digitale Transformation bislang ihre Erfolgsversprechen eingehalten habe.

Diese Verfügbarkeit gebe es auch im geschäftlichen Umfeld, wie Meckel und Steinacker schreiben: „Wer heute mit digitalen Tools arbeitet, kann sich bei fast allem tatkräftig durch generative KI unterstützen lassen“, heißt es im Kapitel mit dem verheißungsvollen Namen „Hurra, die Produktivität ist wieder da! KI und das neue Wirtschaftswachstum“. Zeit dafür, sich die Unterstützung der KI zu sichern, wird es. Nicht nur mit Blick auf die schwachen Wachstumsprognosen in Deutschland, sondern auch bei näherer Beschäftigung mit der Frage, ob denn die digitale Transformation bislang ihre Erfolgsversprechen eingehalten habe. Und hier fällt die Bilanz erstaunlich nüchtern aus: Bislang, so die Autorinnen, sei der versprochene Produktivitätsschub eben nicht eingetreten.

Im Gegenteil: „Den größten Teil des 20. Jahrhunderts über wuchs die Produktivität viel stärker als heute.“ Insgesamt gelte für die vergangenen 20 Jahre: „Das Produktivitätswachstum ist zur lahmen Schnecke geworden, und das ausgerechnet in Zeiten des rasanten technischen Fortschritts.“ Zwar seien die Investitionen in die digitale Technik rasant gestiegen. Wirklich produktiver wird in den Unternehmen aber nicht gearbeitet. Was sich auch daran zeigt, dass der Fachkräftemangel ein so großes Problem ist und die Idee einer Vier-Tage-Woche vielfach provoziert. Wenn nun in bestimmten politischen Lagern sogar eine neue Kultur der Überstunden gefordert wird, zeigt sich, dass die Digitalisierung allein kein Erfolgsrezept für einen großen Effizienzsprung ist.

Digitalisierung enttäuscht bei Produktivität

„Alles überall auf einmal“

In ihrem Spiegel-Bestseller mit dem Untertitel „Wie Künstliche Intelligenz unsere Welt verändert und was wir dabei gewinnen können“ zeigen Miriam Meckel und Léa Steinacker, wie sehr die generative KI alle Bereiche des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, aber auch persönlichen Lebens prägen wird. Der Grundton ist optimistisch: Wir Menschen bleiben am Hebel, treffen die Entscheidungen. Es müssen nur die richtigen sein. Die Autorinnen setzen ihre Erkenntnisse mit der Plattform ada auch in die Praxis um: Meckel und Steinacker sind Co-Gründerinnen des Innovationshubs, das Organisationen bei den diversen Stufen der digitalen Transformation berät und den Mitarbeitenden dort mit „ada Fellowship“ ein einjähriges Weiterbildungsprogramm unterbreitet. Miriam Meckel & Léa Steinacker: Alles überall auf einmal. Wie Künstliche Intelligenz unsere Welt verändert und was wir dabei gewinnen können. Rowohlt 2024. 26,00 Euro.

„Wir sehen das Computerzeitalter überall, nur nicht in den Produktivitätsstatistiken“, zitieren Meckel und Steinacker in ihrem Buch den Ökonomen und Nobelpreisträger Robert Solow. Warum das so ist, dafür lassen sich nur Indizien finden. Im Verdacht steht zum Beispiel der Umstand, dass die digitale Transformation gerade zu Beginn viel Zeit kostet, und wenn nach der Implementierung der Moment gekommen wäre, die Effizienz zu steigern, steht schon wieder eine neue Technik ins Haus oder sorgen Regulierungen und Security-Fragen dafür, dass der Produktivitätsschub weiter ausgebremst wird. Man kann sich das Produktivitätsparadox wie den neuen Motor eines Formel-Eins-Wagens vorstellen: Theoretisch ist er in der Lage, den Wagen deutlich schneller zu machen, doch braucht ein Rennstall dafür eine Fahrerin oder einen Fahrer, der in der Lage ist, die zusätzlichen PS zu nutzen.

Nun aber könne die generative KI dafür sorgen, dass sich das Paradox auflöst – und die Digitalisierung wirklich für mehr Effizienz sorgt. „KI ist eine Allzwecktechnologie“, schreiben Miriam Meckel und Léa Steinacker in ihrem Buch. „Sie kann nahezu jederzeit und überall zum Einsatz kommen.“ Damit sei sie vergleichbar mit der Erfindung der Dampfmaschine oder der Elektrizität – zwei Entwicklungen, die für große Produktivitätsschübe verantwortlich waren. Die aber auch dafür sorgten, dass Unternehmen im Zuge dieser technischen Revolutionen umdenken mussten. „Solche Technologien“ – und zu diesen zählt laut Meckel und Steinacker eben auch die generative KI – „stören nicht nur die kontinuierliche Weiterentwicklung von Geschäftsmodellen auf den bekannten Pfaden. Sie verändern radikal, wie wir leben, arbeiten und wirtschaften.“

Generative KI besitzt gigantisches Potenzial

Die Vermutungen der beiden Autorinnen werden von neuen Studien zum Einsatz von generativer KI gestützt. So legte das Beratungsunternehmen McKinsey die Studie „The economic potential of generative AI“ vor, der Untertitel gibt die Richtung vor: „The next productivity frontier“ – „die nächste Stufe der Produktivität“. Die Studienautor*innen prognostizieren, dass Anwendungen mit generativer KI eine zusätzliche Wertschöpfung in Höhe von bis zu 4,4 Billionen US-Dollar erzielen können. Um sich eine Vorstellung von dieser Summe zu machen: Das gesamte Bruttoinlandsprodukt von Großbritannien betrug im Jahr 3,1 Billionen Dollar. Implementiere man KI-Tools auch in der Software, die bereits jetzt in den IT-Systemen der Unternehmen läuft, sei das Potenzial „grob doppelt“ so hoch, heißt es im Report.

Nun sind Potenziale nur dann wirksam, wenn sie auch gehoben werden. Und hier kommt der Mensch ist Spiel: Die generative KI ist eben kein System, dass aus eigenem Antrieb heraus arbeitet oder Dinge erschafft. Bei der Wirksamkeit kommt es immer auf das Zusammenspiel zwischen Mensch und Maschine an.

Nun sind Potenziale nur dann wirksam, wenn sie auch gehoben werden. Und hier kommt der Mensch ist Spiel: Die generative KI ist eben kein System, dass aus eigenem Antrieb heraus arbeitet oder Dinge erschafft. Bei der Wirksamkeit kommt es immer auf das Zusammenspiel zwischen Mensch und Maschine an. Darauf, dass der Mensch die generative KI als einen neuen Kollaborateur begreift, mit dem er zusammenarbeitet. Im Umgang mit dieser Technik spricht man weniger von Nutzerinnen und Nutzern als von Co-Kreateuren. Was danach verlangt, dass man sich der generativen KI mit einem anderen Mindset widmet, als es bei üblichen IT-Anwendungen der Fall ist.

Leadership mit KI-Strategie

In Unternehmen sind an dieser Stelle besonders das Management und die Führungskräfte gefragt. Sie sind es, die bei den Mitarbeitenden dieses neue Mindset fördern müssen. Das Beratungsunternehmen Deloitte hat in seiner Studie „The State of Generative AI in the Enterprise: Now decides next“ weltweit 2800 Führungskräfte gefragt, die in ihren jeweiligen Unternehmen mit der Implementierung von KI-Systemen beauftragt sind. Die Analyse zeigt laut Studienzusammenfassung, dass 91 Prozent der deutschen Unternehmen davon ausgehen, dass der Einsatz von generativer KI zu einer Produktivitätssteigerung führt. „Allerdings glaubt nur rund ein Viertel der in Deutschland Befragten, dass ihr Unternehmen strategisch gut oder sehr gut auf die Einführung generativer KI vorbereitet ist“, heißt es weiter.

Die Auswertung der Studie belege damit, dass Deutschland besonders in den Bereichen Talent/ Human Ressources sowie Risk-Management im internationalen Vergleich hinterherhinke. Erstaunlich sei dabei, so die Studie, dass die Hälfte der deutschen Führungskräfte lediglich eine minimale Bedrohung für ihre bisherigen Geschäftsmodelle durch generative KI sehe. Dies stehe in deutlichem Gegensatz zu den wesentlich skeptischeren Einschätzungen der Teilnehmenden aus den 16 anderen Ländern. Dazu passt, dass bei den Unternehmen in Deutschland die „Bemühungen in den Bereichen Umschulung und Bildung im Vergleich zu anderen europäischen Ländern und auch weltweit gesehen deutlich zurückliegen.“ Nehmen die deutschen Unternehmen die von der generativen KI eingeleiteten Umwälzungen nicht ernst genug? Die Studienautor*innen von Deloitte sehen hier durchaus eine Gefahr.

Fürchten, ignorieren, verdammen? Funktioniert alles nicht

Sowieso wäre es grundverkehrt, die generative KI als Tool zu betrachten, das „von sich aus“ für mehr Produktivität sorgt. Dieser Blick ist genauso wenig gewinnbringend wie die Haltung, die Künstliche Intelligenz als große Gefahr abzutun – und sich dann nicht weiter darum zu kümmern, in der Hoffnung, der Hype löse sich in Wohlgefallen auf, wenn man ihn nur lange genug ignoriert. Das Gegenteil muss passieren: Die Menschen müssen sich der generativen KI widmen. Sie müssen experimentieren, sich weiterbilden, Verständnis für die Potenziale und Risiken entwickeln. Und hier sind auch die Unternehmen gefragt: Auch sie müssen mehr tun, als nur darauf zu hoffen, dass die generative KI neue Geschäftsmodelle entwickelt und die Produktivität nach oben treibt. Sie sind gefragt, ihre Mitarbeitenden fit für diese Zukunftstechnologie zu machen. „Wenn wir in einer immer komplexeren Welt mithalten wollen“, schreiben Miriam Meckel und Léa Steinacker in ihrem Buch „Alles überall auf einmal“, „dann müssen wir auch unsere menschliche Intelligenz erweitern.“ Das schöne ist: Auch dabei kann uns die generative KI mit ihren Möglichkeiten helfen. Wobei es in den Unternehmen darauf ankommt, dass die Führungsebenen dies zulassen. Was auch heißt: Die Affinität für die Künstliche Intelligenz ist ab jetzt ein wesentlicher Skill.

Buchtipp: Der Geist aus der Maschine

Keine Technik ohne Geschichte: Der SZ-Feuilletonchef Andrian Kreye hat mit seinem Buch „Der Geist aus der Maschine“ eine, so der Untertitel, „superschnelle Menschheitsgeschichte des digitalen Universums“ geschrieben. Kreye analysiert die rasante Entwicklung der Digitalisierung, beginnt in den Nerd-Universen der frühen Programmierer, zitiert Optimisten und Pessimisten, schaut genau hin, in welchen Momenten die digitalen Daten zur „Superkraft der Gegenwart“ wurden. Andrian Kreye: Der Geist aus der Maschine: Eine superschnelle Menschheitsgeschichte des digitalen Universums. Heyne 2024, 24 Euro.

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