Risiken reduzieren

Klimakrise und Pandemie zeigen: Die Weltgesellschaft baut auf Analysen und Lösungen aus den Naturwissenschaften. Nachwuchskräfte sind in einem beruflichen Umfeld tätig, in dem innovatives Denken und digitale Methoden zur Voraussetzung werden, um den hohen Erwartungen gerecht zu werden. Zentral wird dabei auch der Dialog mit der Öffentlichkeit: Je drängender die Themen sind, desto zentraler wird die Kommunikation. Auch, um Falschmeldungen etwas entgegenzusetzen. Von André Boße

Wenn das Zukunftsinstitut, eine Denkfabrik gegründet vom Trendforscher Matthias Horx, seine Prognosen trifft, dann auf Basis von „Megatrends“. Gemeint sind „Lawinen in Zeitlupe“, wie das Zukunftsinstitut es auf seiner Website beschreibt: „Dieses Bild beschreibt Megatrends ganz gut, denn Megatrends entwickeln sich zwar langsam, sind aber enorm mächtig. Sie wirken auf allen Ebenen der Gesellschaft und beeinflussen so Unternehmen, Institutionen und Individuen.“ Bleibt man bei diesem Bild, dann hat die Pandemie mit ihren vielfältigen Folge- und Nebenerscheinungen die Dynamik dieser „Lawinen in Zeitlupe“ verändert. Einigen hat sie einen Temposchub gegeben, insbesondere der Digitalisierung. Anderen hat sie einen Backlash gegeben.

In ihrem Beitrag „Megatrends 2021: Zeit für eine Revision“, zu finden auf der Website des Zukunftsinstituts, nennen die Trendforscher zum Beispiel den Megatrend „Silver Society“. Er basiert auf der Tatsache, dass die Menschen nicht nur älter werden, sondern auch länger gesund leben. Daraus hat sich eine „völlig neue Lebensphase im letzten Drittel des Lebens“ abgeleitet, die auf Vitalität und Selbstentfaltung basiert – „Abschied von Jugendwahn und eine grundlegende Umdeutung von Alter und Altern“ inklusive. Dann der Covid-19-Backlash: Das Alter wurde zum Indikator für höheres Risiko, aus „Silver Agern“ wurden „Risikogruppen“. Was zum Beispiel für die forschende Pharmabranche bedeutete, dass die Forschung an lebensrettenden Medikamenten in den Fokus rückte – Lebensoptimierungspräparate dagegen zwischenzeitlich an Bedeutung verloren.

Gefragt in Talkshows

Ein weiterer Megatrend, den die Pandemie vor Herausforderungen stellt, ist die „Wissenskultur“: „Die Welt wird schlauer“, stellen die Forscher vom Zukunftsinstitut fest. „Die Wissenschaft nimmt einen höheren Stellenwert in der Gesellschaft ein.“ Festmachen lässt sich das an einer Analyse der Besetzung von Gesprächsrunden im Fernsehen: „Die Talkshow-Gesellschaft“ lautet der Titel einer Studie der Berliner Innovations-Denkfabrik „Das Progressive Zentrum“. Die Untersuchung aus dem Herbst 2020 zeigt, dass vor Corona Gäste aus dem Bereich Wissenschaft einen Anteil von 8,8 Prozent hatten, während der Pandemie stieg dieser auf 26,5 Prozent. Insbesondere Naturwissenschaftler*innen waren gefragt, weil sie mit ihrem Wissen ein echtes Informationsbedürfnis stillen konnten und zwar sowohl bezogen auf die Frage, was ist hier eigentlich los, als auch darauf, was aus alldem folgen wird.

Die Welt wird schlauer. Die Wissenschaft nimmt einen höheren Stellenwert in der Gesellschaft ein.

Steht die Naturwissenschaft im Fokus der Öffentlichkeit – und das tut sie nicht nur beim Thema Corona, sondern auch in der Klimakrise – ergibt sich ein bedeutsamer Nebeneffekt, den das Zukunftsinstitut wie folgt beschreibt: „Die Vergesellschaftung des Wissens schreitet voran.“ Wissen, so die Trendforscher, verliert damit seinen elitären Charakter, wird zum Gemeingut. Ein Symptom dieser Entwicklung: Im Zuge der Pandemie bestand die Bundesrepublik aus Millionen Hobby- Epidemiolog*innen, von denen die meisten mindestens so gut über das Virus Bescheid wussten wie die tatsächlichen Expert*innen. Was direkt zur nächsten Problematik führt: Wird Wissen zum Gemeingut, gerät, so formulieren es die Trendforscher, „der Geltungsanspruch von Wissen, Fakten und Wahrheit unter Beschuss“. Auf die „Fake News“ folgte ein Begriff wie „Alt Science“: von einer „alternativen Wissenschaft“ also, die das Zukunftsinstitut als „Theoriegebäude zu bestimmten Themen, abseits von Wissenschaftlichkeit, Beweisbarkeit oder Logik“ definiert.

Komplexität beherrschbar machen

Was bedeuten diese Entwicklungen für den naturwissenschaftlichen Nachwuchs? Für junge Menschen, die in Unternehmen oder Forschungseinrichtungen in die Karriere einsteigen? Die Trendforscher vom Zukunftsinstitut glauben, dass die Ansprüche sich verlagern werden „hin zum Lifelong Learning, zur Vermittlung von Methoden und zu den Soft Skills“. Insbesondere Themen wie Kommunikation und Netzwerke werden immer wichtiger. Großes Potenzial gibt es an den Schnittstellen zwischen der Wissenschaft und anderen professionellen Umfeldern – dort also, wo naturwissenschaftliches Know-how zu Produkten, Anwendungen und Services führt, die von anderen Akteuren genutzt werden können. Auch hier hat die Pandemie gezeigt, wie wichtig solche Entwicklungen sind, und auch die Maßnahmen im Kampf gegen die Klimakrise werden zeigen, dass naturwissenschaftliche Innovationen mit gesellschaftlichem Mehrwert weiter an Bedeutung gewinnen werden.

„Risikogesellschaft“

cover risikogesellschaftDer Soziologe Ulrich Beck hat sein wegweisendes Buch „Risikogesellschaft“ im Jahr 1986 geschrieben. Das Werk hat also einige Jahre auf dem Buckel, scheint heute aber aktueller denn je: Beck schreibt zum Beispiel über „naturwissenschaftliche Schadstoffverteilungen“ und meint damit, dass Ereignisse, die früher lokal bedrohlich wirkten, heute globale Folgen haben. 1986 dachte er an den Reaktorunfall in Tschernobyl, heute bietet die Pandemie das beste Beispiel. Beck analysiert die zentrale Rolle der Medien, die die Wahrnehmung der Krise prägen, und beschreibt den paradoxen Effekt, dass aus der permanenten Zunahme von Risiken eine Gleichgültigkeit erwächst: „Wo sich alles in Gefährdungen verwandelt, ist irgendwie auch nichts mehr gefährlich.“ Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp 1986.

Ein Beispiel für eine solche Entwicklung ist CovRadar, eine Plattform zur kontinuierlichen Überwachung von SARS-CoV-2-Mutationen. Entwickelt wurde sie von Wissenschaftler* innen des Hasso-Plattner-Instituts (HPI), des Robert-Koch-Instituts (RKI), des Europäischen Virus-Bioinformatik- Instituts (EVBC) sowie der Medizinischen Hochschule Hannover. Laut einer Pressemitteilung des HPI verbindet die interaktive Plattform Analyseprozesse mit einer Web-Anwendung, um eine Million Sequenzen visualisieren und analysieren zu können – immer auf der Suche nach Virus-Mutationen, von denen eine Gefahr ausgeht, weil sie ansteckender sind oder weil sie als Virus-Escape-Varianten gelten, bei denen die Impfstoffe nur begrenzt wirken.

Die IT-getriebenen naturwissenschaftlichen Prozesse der Analyse sind überaus komplex, die Anwendung ist genau dies nicht, verspricht das HPI in der Pressemeldung: „Die Ergebnisse werden in einer interaktiven PDF-ähnlichen App präsentiert, die eine schnelle, einfache, exportierbare und flexible Auswertung ermöglicht.“ Eine interaktive Deutschlandkarte macht es möglich, die Verbreitung von Varianten in den verschiedenen Regionen zu betrachten. „Unser Ziel ist es, Sequenzinformationen über die neue Plattform CovRadar leichter und nutzerfreundlicher zugänglich zu machen, insbesondere für Virologen und Epidemiologen sowie den Krisenstab des RKI, damit wir notfalls sehr schnell auf Mutationen reagieren können“, wird Prof. Dr. Bernhard Renard, Leiter des Lehrstuhls Data Analytics & Computational Statistics und des CovRadar-Projekts am Hasso- Plattner-Institut (HPI), in der Pressemitteilung zitiert.

Klimakrise ist für Ökonomen das Top-Risiko

Was Naturwissenschaftler*innen leisten: Sie helfen dabei, Risiken zu reduzieren. Und diese Kernkompetenz ist in einer Gesellschaft, die lernen muss, mit neuen Risiken zu leben, besonders gefragt. Die Trendforscher vom Zukunftsinstitut erklären „Sicherheit“ zu einem Megatrend, gemeint ist das Sicherheitsbedürfnis jedes Einzelnen, aber auch der Unternehmen. So fragt das Weltwirtschaftsforum in jedem Jahr die ökonomischen Leader nach ihren Top-Risiken. Früher standen in diesem Ranking ökonomische Probleme auf den obersten Rängen, Schuldenkrisen oder Handelskriege. In der aktuellen Liste belegen drei ökologische Risiken die Plätze eins bis drei: eine verfehlte Klimapolitik, der Verlust der Biodiversität sowie Extremwetterereignisse. Bei der Lösung ökonomischer Krisen waren die Wirtschaftswissenschaftler gefragt. Um ökologische Probleme zu bewältigen, benötigt die Wirtschaft nun jedoch Hilfe aus anderen Disziplinen, allen voran das Knowhow der Naturwissenschaftler*innen, die sich darauf verstehen, die Erderwärmung zu analysieren, zu prognostizieren – und schließlich Lösungen zu entwickeln.

Chemie: Immer mehr Start-ups setzen auf Nachhaltigkeit

Neu gegründete Unternehmen aus der Chemie-Branche setzen verstärkt auf nachhaltige Geschäftsmodelle. Das zeigt eine Studie des Centers für Wirtschaftspolitische Studien (CWS) der Universität Hannover und des ZEW Mannheim im Auftrag des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI). Von den insgesamt 308 in Deutschland wirtschaftenden Chemie-Start-ups bieten laut Pressemitteilung zur Studienveröffentlichung 72 Unternehmen Produkte oder Dienstleistungen mit Fokus auf Nachhaltigkeit an.“ Die meisten dieser Unternehmen wurden in den vergangenen sechs Jahren gegründet“, formulieren die Studienautoren. So lässt sich vermuten, dass sich der Nachhaltigkeitstrend bei den Chemie-Start-ups fortsetzen wird.

Für Naturwissenschaftler*innen ergeben sich dadurch Arbeitsumfelder, in denen innovatives und kundenzentriertes Denken zentral ist. In der Biotechnologie zum Beispiel wird an Nahrungspflanzen geforscht, die dem Klimawandel trotzen, weil sie Hitze und lange Dürreperioden aushalten. Die chemische Industrie versteht sich als Zulieferer bedeutsamer Lösungen für die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft in Richtung Nachhaltigkeit.

„Der Hebel, mit Innovationen positiv auf Klimaschutz und Nachhaltigkeit zu wirken, ist in der chemischen Industrie sehr groß“, erklärt Christian Rammer, Wissenschaftler am „ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung“ in Mannheim, in einer Pressemeldung zur Studie „Innovationsindikatoren Chemie 2020“. Jedes vierte Unternehmen aus der Chemiebranche entwickele laut Untersuchung innovative Lösungen auf den Gebieten Klima, Umwelt, Nachhaltigkeit – eine höhere Quote besitze nur der Maschinenbau, stellt die Studie fest. Den Stellenwert des Themas zeige auch der Blick auf die Patente: „So hat sich der Anteil der angemeldeten Klimaschutzpatente in der deutschen Chemieindustrie zwischen 2005 und 2016 von 7,4 auf 13,5 Prozent nahezu verdoppelt“, schreiben die Studienautor* innen. Auch augenfällig: „Von insgesamt 308 aktiven Chemie-Start-ups bieten 72 entsprechende Produkte oder Dienstleistungen an. Die meisten dieser Unternehmen wurden in den vergangenen sechs Jahren gegründet.“

Pharma: Die Welt wartet auf Lösungen

Eine große Rolle als Risikoreduziererin spielt die Pharmaindustrie. Ihren Unternehmen ist es gelungen, in Rekordzeit wirksame Impfstoffe gegen das neue Virus zu entwickeln. Wie dramatisch wäre unsere Lage heute, wenn dies nicht oder auch nur in einem langsameren, sprich normalen Tempo gelungen wäre? Was sich bei diesem Thema aber auch zeigt: Die Sache ist komplex. Nicht alle Entwicklungen funktionierten. Und kaum wurde die Wirksamkeit bewiesen, stieg die Erwartung an die Unternehmen, doch bitte von jetzt auf gleich Millionen von Menschen zu versorgen. Die Pharmabranche erkannte, wie wichtig naturwissenschaftliche Kommunikation ist – und wie stark der Erfolg der Innovationsleistung von anderen Systemen abhängt, von der Politik, den Medien, dem Grad der Digitalisierung und der öffentlichen Wahrnehmung.

Die Pharmabranche erkannte, wie wichtig naturwissenschaftliche Kommunikation ist – und wie stark der Erfolg der Innovationsleistung von anderen Systemen abhängt, von der Politik, den Medien, dem Grad der Digitalisierung und der öffentlichen Wahrnehmung.

Das Zukunftsinstitut schreibt in diesem Zusammenhang von einem „neuen holistischen Gesundheitsbewusstsein“: „Bei Gesundheit geht es künftig immer weniger um die kleinteilige Betrachtung eines Individuums oder gar eines spezifischen Leidens, sondern sie wird ganzheitlicher betrachtet: Ein bestimmtes Symptom lässt sich nicht losgelöst vom restlichen Körper betrachten und der Körper nicht losgelöst von dem psychischen Empfinden des Individuums, seinen Verhaltensmustern, seinem Lebensstil, seinen Gewohnheiten, seiner sozialen Eingebundenheit, seiner Arbeitsumgebung und seiner Umwelt“, beschreiben die Trendforscher. Der Weg geht vom Symptom zum Kontext. Pharma besitzt dabei fraglos eine Schlüsselrolle, jedoch wird die Komplexität weiter steigen – zumal mit Blick auf individualisierte Präparate aus 3D-Druckern.

Alle diese Entwicklungen zeigen: Naturwissenschaftler* innen rücken in den Fokus. Mit Blick auf die herausfordernden Krisen benötigt die globale Gesellschaft ihre Lösungen. Mehr noch: Sie erwartet diese sogar und bewertet diese kritisch. Wobei wissenschaftsfeindliche Gegenbewegungen diese Lösungen bewusst torpedieren wollen. Das Arbeitsumfeld von Naturwissenschaftler*innen ist also komplex. Aber auch hochspannend. Wobei eines sicher ist: Wer hier tätig ist, wird sich die Frage nach dem Sinn der Arbeit so schnell nicht stellen.

Studie: Pharma-Unternehmen gelten verstärkt als Innovationsvorreiter

Für die Studie „The Most Innovative Companies 2021 – Overcoming the Readiness Gap“ hat die Strategieberatung Boston Consulting Group (BCG) weltweit rund 1600 Innovationsmanager gefragt. Das Ergebnis: „Jedes fünfte der weltweit 50 Unternehmen, die als Vorreiter in Sachen Innovation wahrgenommen werden, kommt aus der Pharma- oder Medizintechnikbranche. Damit hat sich ihre Anzahl im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt“, heißt es in der Pressemeldung zur Studie aus dem April dieses Jahres. „Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass Innovation auch in kurzer Zeit und unter schwierigen Bedingungen möglich ist“, wird Johann Harnoss, Associate Director bei BCG und Autor der Studie, zitiert.

Der „analytische Denker“ Dr. Anno Borkowsky im Interview

Als Mitglied des Vorstands der LANXESS AG ist Dr. Anno Borkowsky verantwortlich für das Segment Special Additives. Was genau sein Bereich entwickelt und welche Rolle dabei naturwissenschaftliche Fachkräfte einnehmen, berichtet er im Interview – und erklärt, an welchen Stellen seine Expertise als promovierter Chemiker im Vorstand des Konzerns gefragt ist. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Dr. Anno Borkowsky wurde 1959 in Köln geboren. Nach seinem Abschluss als Biologisch- Technischer Assistent studierte er Chemie an der Universität zu Köln, wo er 1989 promovierte. Danach stieg Borkowsky bei der Bayer AG in Leverkusen als Bereichsleiter ein. Im September 1995 wechselte er als Betriebsleiter zur Bayer Corp. nach Orange, Texas, USA. 1999 startete er als Technischer Geschäftsführer bei der Rhein Chemie Rheinau GmbH, damals eine Tochtergesellschaft der Bayer AG, deren alleiniger Geschäftsführer er 2002 wurde. Er übernahm als CEO die weltweite Verantwortung für die Rhein Chemie Gruppe. Mit der Gründung von LANXESS im Jahr 2004 wurde Rhein Chemie Teil des Spezialchemie-Konzerns. Im Januar 2015 übernahm Borkowsky die weltweite Leitung des neu gegründeten Geschäftsbereichs Rhein Chemie Additives. 2019 wurde er zum Mitglied des LANXESS-Vorstands bestellt. Dort ist er verantwortlich für das Segment Specialty Additives. Anno Borkowsky ist verheiratet und hat drei Kinder.

Herr Dr. Borkowsky, Sie haben nach Ihrer Uni-Zeit Ende der 1980er-, Anfang der 90er-Jahre Ihre Laufbahn in der Chemie begonnen. Wann haben Sie für sich zum ersten Mal mit großer Sicherheit feststellen dürfen: „In dieser Branche bin ich richtig?“
Das habe ich sehr schnell gemerkt. Mir gefiel es direkt, dass man in der Chemie nicht in einem Silo – also nur in seiner Abteilung – arbeitet, sondern sich mit allen Bereichen austauscht. Ein Produkt in der Forschung zu entwickeln, reicht eben nicht. Zunächst finden wir gemeinsam mit dem Marketing heraus, ob überhaupt ein Markt für das Produkt vorhanden ist. Dann gestalten wir es kundenspezifisch mit der Anwendungstechnik aus. Anschließend muss mit der Produktion geprüft werden, wie man es am geeignetsten herstellen kann. Und schließlich arbeiten wir mit dem Vertrieb daran, den besten Weg zu den potenziellen Kunden zu finden. Dieser bereichsübergreifende Austausch ist spannend und macht die Chemie aus meiner Sicht einzigartig.

Mit Blick auf den Arbeitsalltag: Was war damals noch vollkommen anders, als es sich heute darstellt?
In den vergangenen 30 Jahren hat sich viel Positives getan. Zum Beispiel hat sich die technische Ausstattung stark weiterentwickelt, was die Arbeit im Labor heute einfacher macht – auch weil viel mehr automatisiert und digitalisiert abläuft. Das erfordert natürlich ganz andere Fähigkeiten bei den Mitarbeitenden. Besonders spannend finde ich außerdem, dass die Themen Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft stark an Bedeutung gewonnen haben. Daraus ergibt sich ein neues interessantes Aufgabenspektrum.

Im Vorstand verantworten Sie das Segment Special Additives. Wenn ein Kind Sie fragen würde: Was genau stellen Sie da eigentlich her, welche sehr einfache Antwort würden Sie geben?
Ein Additiv ist ein Zusatzstoff, der einem Produkt eine bestimmte Eigenschaft verleiht oder eine unerwünschte Eigenschaft unterdrückt. Es kann zum Beispiel Autoreifen elastisch und geschmeidig machen oder Getriebeöl länger haltbar. Es kann aber auch dafür sorgen, dass Material nicht so schnell brennt, zum Beispiel Dämmstoffe. Additive werden nur in kleinen Mengen zum Produkt dazugegeben, besitzen aber eine große Wirkung. Sie sind damit die heimlichen Stars der Chemie.

Welche Job-Profile für Naturwissenschaftler* innen bietet dieser Bereich?
Die meisten Möglichkeiten gibt es sicherlich im Bereich Forschung und Entwicklung sowie in der Anwendungstechnik. Unsere Geschäftsbereiche verantworten jeweils ihre Produktforschung selbst, die sich eng an den Kundenbedürfnissen orientiert. Darüber hinaus haben wir eine zentrale Prozessforschung, dort arbeiten wir zum Beispiel daran, unseren Rohstoff- und Energieeinsatz zu optimieren. Auch direkt in unseren Produktionsbetrieben ist es natürlich für Chemiker spannend, zum Beispiel in der Betriebsleitung. Naturwissenschaftler können ihre Expertise aber auch im Marketing einsetzen, besonders wenn sie Spaß haben, mit Kunden zusammenzuarbeiten. Oder sie entwickeln mit uns neue Strategien für unser Geschäft und unsere Produkte im Corporate Development.

In der Produktentwicklung setzen wir immer häufiger Künstliche Intelligenz ein, um etwa die Entwicklungszeit für Rezepturen deutlich zu verkürzen. Das sind Projekte, bei denen Chemiker, Ingenieure und Datenwissenschaftler zusammenarbeiten.

Auf welche Fähigkeiten kommt es an, um in diesem Segment Karriere zu machen?
Fachkenntnisse und analytische Fähigkeiten setze ich bei Naturwissenschaftlern eigentlich voraus. Eine große Herausforderung ist heute vielmehr, dass mehr und mehr Projekte bereichsübergreifend stattfinden. Ich nenne mal ein Beispiel: In der Produktentwicklung setzen wir immer häufiger Künstliche Intelligenz ein, um etwa die Entwicklungszeit für Rezepturen deutlich zu verkürzen. Das sind Projekte, bei denen Chemiker, Ingenieure und Datenwissenschaftler zusammenarbeiten. Es kommt also darauf an, im Team mit unterschiedlichsten Personen und Charakteren zusammenzuarbeiten und als Team eine gemeinsame Lösung zu entwickeln.

Als Biologisch-Technischer Assistent und Chemiker haben Sie viel Zeit in Laboren verbracht. Als Vorstand werden Sie kaum noch Zeit dafür finden. Was vermissen Sie an diesen forschenden Tätigkeiten besonders?
Ich stand tatsächlich nie besonders gerne im Labor. Aber das ist ja das Schöne als Naturwissenschaftler: Mir stehen einige Türen offen, weil ich in vielen Bereichen arbeiten kann.

Und wo sehen Sie als Chemiker Ihre besondere Qualität im Vorstand?
Unsere Produkte sind die Basis unseres Erfolgs. Die Kompetenz, zu verstehen, wie diese funktionieren und wie man sie weiterentwickeln kann, gehört meines Erachtens in den Vorstand eines Chemiekonzerns. Als Chemiker lernt man, analytisch zu denken. Und das hilft mir heute, Prozesse und Anwendungen zu verstehen, aber auch das Potenzial von Geschäften richtig einzuordnen.

Mit Blick auf die Entwicklungen in Ihrem Segment, welche Rolle spielt hier die Digitalisierung, welche ganz neuen Entwicklungen werden durch digitale Innovationen ermöglicht?
Die Digitalisierung eröffnet ganz neue Möglichkeiten für uns. Wir sind zum Beispiel dabei, unsere Anlagen weltweit mit Technologien zur Datenanalyse auszurüsten. In einem unserer Betriebe im Geschäftsbereich Polymer Additives haben wir darauf aufsetzend kürzlich ein Projekt umgesetzt: Chemiker und Ingenieure haben ein Programm entwickelt, das die Daten aus dem Prozessleitsystem erfasst und produktionsrelevante Parameter berechnet. Der Betrieb konnte nun Dinge sehen, die zuvor verborgen waren. Es wurde zum Beispiel deutlich, dass die Anlage deutlich mehr Dampf verbraucht, als eigentlich benötigt wird. Der Betrieb hat diesen Prozess neu justiert und spart dadurch 600 Kilogramm Dampf pro Stunde, das entspricht knapp 4000 Tonnen CO2 weniger im Jahr. Wir sparen also Kosten und schonen die Umwelt.

Der bereichsübergreifende Austausch ist spannend und macht die Chemie aus meiner Sicht einzigartig.

Sie haben lange in den USA gelebt und gearbeitet. Mit Blick auf die Job- und Forschungskultur: Wo liegen die großen Unterschiede zwischen Europa und Amerika?
Ich habe häufig den Eindruck, dass sich Europäer und im Speziellen Deutsche viel zu lange mit Misserfolgen und deren Analyse aufhalten. US-Amerikaner machen schneller weiter und verbuchen den vermeintlichen Misserfolg als Lernerfolg, der ihnen beim nächsten Versuch weiterhilft. Von dieser positiven Grundeinstellung können wir uns Einiges aneignen. Damit will ich natürlich nicht sagen, dass Gründlichkeit eine schlechte Eigenschaft ist. Sie führt ja auch dazu, dass gerade in Europa die Detailtiefe von Analysen kaum etwas zu wünschen übriglässt.

Trotz aller Unterschiede war es Ihre Aufgabe, bei der Integration des US-Unternehmens Chemtura in den Konzern die zwei Kulturen zu integrieren. Worauf kommt es an, damit aus der Diversität ein Team entsteht?
Bei der Integration von Chemtura haben wir uns von Anfang an darauf konzentriert, eine gemeinsame Kultur zu entwickeln. Denn ohne eine solche kann diese Integration nicht gelingen. Die Teams waren paritätisch mit Mitarbeitenden aus beiden Unternehmen besetzt, denn wir wollten alle Stimmen und Meinungen einfangen. Schon einen Monat nach Abschluss der Transaktion haben wir einen globalen Willkommens-Workshop abgehalten, bei dem kulturelle Themen im Vordergrund standen. Wir hatten auch temporär ein Mitglied mit Chemtura- Wurzeln im Vorstand. Diese Person konnte uns auf oberster Ebene den nötigen Einblick in die Kultur und Geschichte von Chemtura geben und war als integrative Figur extrem wichtig. Zudem haben wir immer betont, dass wir – der Käufer – nicht alle Dinge vorgeben, sondern voneinander lernen wollen. Dieses Verständnis besteht auch heute noch.

Zum Unternehmen

Die LANXESS AG ist ein Spezialchemiekonzern mit rund 14.200 Mitarbeitenden in 33 Ländern, der Hauptsitz befindet sich in Köln. Die Kernkompetenzen des Konzerns liegen in Produktion, Entwicklung und Vertrieb von chemischen Zwischenprodukten, Additiven, Spezialchemikalien und Kunststoffen. Gesteuert wird das operative Geschäft über die vier Segmente Advanced Intermediates, Specialty Additives, Consumer Protection und Engineering Materials, denen zehn Business Units zugeordnet sind, mit denen das Unternehmen auf den Märkten auftritt. In Sachen Klimaschutz hat sich der Konzern das Ziel gesteckt, bis 2040 klimaneutral zu werden. Laut eigenen Angaben habe der Konzern seit seiner Gründung im Jahr 2004 die Emissionen bereits halbiert: von 6,5 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente auf 3,2 Millionen Tonnen. Bis 2040 soll dieser Wert auf 300.000 Tonnen reduziert werden, die Restemissionen sollen durch Kompensationsmaßnahmen reduziert werden.

Assessment-Center erfolgreich bestehen

Johannes Stärk ist Assessment-Center-Coach und Bestseller-Autor. Für den karriereführer naturwissenschaften beschreibt er, was Bewerber*innen erwartet, wenn sie ein Assessment-Center absolvieren, und wie sie es bestehen.

Wer eine Einladung zum Assessment- Center, Auswahltag oder Orientierungscenter erhalten hat, zählt zum engsten Kreis der ernstzunehmenden Bewerber. Das typische Assessment- Center dauert einen halben bis einen Tag und besteht aus diversen Einzel- und Gruppenaufgaben, die unter Zeitdruck zu lösen sind. Hier die wichtigsten Fakten und die besten Tipps zu den häufigsten Aufgaben:

Postkorb
Die wichtigsten Fakten: Sie erhalten umfangreiche Unterlagen, die den Posteingang Ihres Verantwortungsbereichs darstellen. Ihre Aufgabe besteht darin, Termine zu koordinieren, Abläufe zu organisieren und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Die besten Tipps: Verschaffen Sie sich einen groben Überblick über alle Unterlagen und arbeiten Sie die Vorgänge nach Priorität ab. Seien Sie darauf gefasst, dass sich am Ende des Bearbeitungsstapels Mitteilungen von hoher Tragweite verstecken, wie zum Beispiel die Krankmeldung eines Mitarbeiters, die Einfluss auf andere Vorgänge hat.

Gruppendiskussion
Die wichtigsten Fakten: Bei der typischen Gruppendiskussion müssen Sie gemeinsam mit anderen Teilnehmern einen vorgegebenen Auftrag bearbeiten. So kann es beispielsweise darum gehen, ein Konzept zu entwickeln oder sich auf einen Verbesserungsvorschlag zu einigen. Die besten Tipps: Stellen Sie zu Beginn sicher, dass alle das gleiche Verständnis vom Arbeitsauftrag haben. Seien Sie präsent und beteiligen Sie sich kontinuierlich. Engagieren Sie sich für Ihre eigene Position, aber zeigen Sie sich auch kompromissbereit, damit ein gemeinsames Ziel erreichbar ist.

Fallstudie/Case-Study
Die wichtigsten Fakten: Sie erhalten umfangreiche Ausgangsinformationen und müssen zu einer strategischen Fragestellung eine Lösung erarbeiten. Die besten Tipps: Präsentieren Sie nicht nur einen Lösungsvorschlag, sondern zeigen Sie auch nachvollziehbar Ihren Lösungsweg auf, denn die einzig richtige Musterlösung gibt es oft nicht.

Rollenspiel
Die wichtigsten Fakten: Ein Rollenspiel ist die Simulation eines Vier-Augen-Gesprächs. Abhängig von der zu besetzenden Position handelt es sich dabei um ein Mitarbeiter-, ein Kunden- oder ein Kollegengespräch. Die besten Tipps: Gehen Sie mit dem persönlichen Anspruch ins Gespräch, die Motive, Bedürfnisse und Ziele Ihres Gesprächspartners exakt verstehen zu wollen. Dazu ist es erforderlich, die richtigen Fragen zu stellen und aktiv zuzuhören. In diesem Vorgehen liegt der Schlüssel zum Erfolg. Achten Sie dabei auf ausgewogene Redeanteile.

Präsentation
Die wichtigsten Fakten: Diese Aufgabe kann Ihnen im Assessment-Center mehrfach begegnen, zum Beispiel in Form einer Selbst-, Fach- und Ergebnispräsentation. Manchmal werden Präsentationsaufträge im Vorfeld als „Hausaufgabe“ erteilt. Die besten Tipps: Entwickeln Sie bereits vorab ein Konzept für Ihre Selbstpräsentation, denn kommt diese Aufgabe unvermittelt im Assessment-Center, gelingt es in der Kürze der Zeit nur den Wenigsten, eine überzeugende Selbstpräsentation zu erstellen. Machen Sie sich im Vorfeld mit Flipchart-Präsentationen vertraut, da Flipchart in vielen Assessment-Centern das Standard-Medium für Ad-hoc-Präsentationen ist.

Buchtipp

cover assessment centerJohannes Stärk: Assessment-Center erfolgreich bestehen. GABAL Verlag 2021, 24. Aufl. ISBN: 978-3-86936-184-0. 29,90 Euro.

 

Link-Tipp
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Welt der Physik

Podcasts, Nachrichten, Interviews und Wissenswertes aus dem Reich der Physik bietet die Webseite www.weltderphysik.de des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG).

Stimmtraining

cover sei deine stimmeStarke Stimme – starker Auftritt: Unsere Stimme ist der Spiegel unserer Seele. Sie hat großen Einfluss darauf, wie unsere Umwelt uns wahrnimmt. Habe ich überhaupt eine Stimme? Was habe ich der Welt zu sagen? Wie verschaffe ich mir Gehör? Wer bin ich? Was sagt meine innere Stimme? Der Musikwissenschaftler, Theologe und Coach Gerrit Winter macht in seinen Trainings den Menschen ihre schlummernden Fähigkeiten bewusst und birgt lange vergessene Potenziale. Gerrit Winter: Sei eine Stimme, nicht nur Echo. ZS-Verlag 2021. 16.99 Euro.

„Das wilde Herz Europas“

Wolf, Braunbär und Luchs und die unberührte Wildnis – kaum jemand denkt dabei an das dicht besiedelte Mitteleuropa. Die gute Nachricht ist: Es gibt sie noch, die wilden Flecken direkt vor unserer Haustür! Das Herz Europas hat es neben hoher Bevölkerungsdichte, Tourismus und Industrie geschafft, sich auch ein Stück Natur zu bewahren, für die Tiere wie Bären oder Luchse zum Symbolbild, ja zu Hoffnungsträgern werden. Denn ihre Anwesenheit zeigt auch, dass die Natur sich genau dort wieder mehr entfaltet, wo sie wild sein darf, dass natürliche Prozesse wieder in Gang kommen. Christine Sonvilla und Marc Graf dokumentieren in ungesehenen Aufnahmen die Rückkehr der wilden Tiere. Marc Graf, Christine Sonvilla: Das wilde Herz Europas. Die Rückkehr von Luchs, Wolf und Bär. Knesebeck 2020. ISBN 978-3-95728-369-6. 35 Euro.

Das Leben ist einfach …

cover das leben ist einfachDer erfahrene Psychotherapeut Holger Kuntze erklärt in seinem neuen Buch, warum wir persönlichen Krisen nicht hilflos ausgeliefert sind – und warum sie manchmal geradezu sinnvoll sein können. Er gewährt uns mithilfe moderner Verhaltenstherapie sowie neuester Erkenntnisse der Neurowissenschaft und Evolutionsforschung einen Blick hinter die Kulissen unseres eigenen Fühlens und Denkens. Mit kleinen Notfallinterventionen und zwanzig Begriffspaaren, die das Leben leichter machen, öffnet er einen Zugang zu unseren inneren Freiräumen. Konkret und mit Beispielen aus seiner eigenen Praxis benennt er Ressourcen, die uns auf der Basis akzeptanzbasierter Strategien ermöglichen, die Zumutungen des Lebens anzuerkennen und uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Holger Kuntze: Das Leben ist einfach, wenn du verstehst, warum es so schwierig ist. Kösel 2021. 18 Euro.

Deutsche Biotechnologietage

Die Deutschen Biotechnologietage– kurz DBT – werden vom Branchenverband BIO Deutschland organisiert und sind Treffpunkt für Unternehmer, Forscher, Politiker, Förderinstitutionen und Verwaltung. Die Konferenz befasst sich in Plenarvorträgen, Podiumsdiskussionen und Frühstücksrunden mit den Rahmenbedingungen und den vielfältigen Anwendungsfeldern der Biotechnologie und findet jährlich an wechselnden Orten statt.

„Fenster ins Gehirn“

Cover Fenster ins GehirnZu wissen, was im Kopf des Gegenübers vor sich geht, ist seit jeher eine tiefe Sehnsucht des Menschen. Tatsächlich kann die Forschung bereits Gedanken aus der Hirnaktivität auslesen. Der Neurowissenschaftler und Psychologe John-Dylan Haynes hat es geschafft, verborgene Absichten in den Hirnen seiner Probanden zu entschlüsseln. Aus seiner Forschung ergeben sich provokante Fragen: Sind unsere Gedanken wirklich so frei und sicher wie wir glauben? Oder wird man irgendwann per Gehirnscan unsere Wünsche und Gefühle oder gar unsere PINs auslesen können? Kann die Werbung unsere Hirnprozesse gezielt beeinflussen? Haben wir überhaupt einen freien Willen oder sind unsere Entscheidungen durch unser Gehirn vorherbestimmt? John-Dylan Haynes und Matthias Eckoldt zeigen, was heute schon möglich ist, und worauf wir uns in den kommenden Jahren einstellen sollten. John-Dylan Haynes und Matthias Eckoldt: Fenster ins Gehirn. Ullstein 2021. ISBN 978-3-550-20003-8. 24 Euro.

Wer singt denn da?

cover singvoegelVon A wie Amsel bis Z wie Zilpzalp – in Deutschland findet sich mit 510 Singvögeln eine enorme Artenvielfalt. Je nach Region und Landschaft lassen sich verschiedene Exemplare identifizieren. Beim Beobachten ist es sogar möglich, spezifische Merkmale zu bestimmen sowie etwas über das jeweilige Revier- und Balzverhalten herauszufinden. Doch warum zwitschern Buntspecht, Rotkehlchen und Co. überhaupt? Und warum ist der Artenschutz für ihr Überleben so wichtig? All diese Fragen beantwortet das FWU Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht in der Filmproduktion „Einheimische Singvögel“, die als DVD und in der Mediathek erhältlich ist.

„Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“

cover kleinste gemeinsame wirklichkeitDie bekannte Wissenschaftsjournalistin Dr. Mai Thi Nguyen-Kim untersucht mit analytischem Scharfsinn und unbestechlicher Logik brennende Streitfragen unserer Gesellschaft. Mit Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen kontert sie Halbwahrheiten, Fakes und Verschwörungsmythen – und zeigt, wo wir uns mangels Beweisen noch munter streiten dürfen. Die Themen: Legalisierung von Drogen, Videospiele, Gewalt, Gender Pay Gap, systemrelevante Berufe, Care-Arbeit, Lohngerechtigkeit, Big Pharma vs. Alternative Medizin … Dr. Mai Thi Nguyen-Kim: Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit. Wahr, falsch, plausibel – die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft. Droemer 2021. ISBN 978-3-42627-822-2. 20 Euro

 

 

Das letzte Wort hat: Linus Reichlin alias H. D. Walden

Linus Reichlin, geboren 1957, lebt als freier Schriftsteller in Berlin und Zürich. Sein in mehrere Sprachen übersetzter Debütroman „Die Sehnsucht der Atome“ stand monatelang auf der KrimiWelt-Bestenliste und erhielt 2009 den Deutschen Krimipreis. Sein neuestes Buch hat er unter dem Pseudonym H. D. Walden veröffentlicht und es beschreibt seine Flucht aus der Stadt, raus in den Wald in eine einsame Hütte, wo er mehre Monate lebte und lernte, die Natur zu lieben. Die Fragen stellte Christiane Martin.

Linus Reichlin aka H. D. Walden, Foto: Privat
Linus Reichlin aka H. D. Walden, Foto: Privat

Herr Reichlin, Sie haben letztes Jahr mehrere Monate lang allein in einer einsam gelegenen Hütte im Wald gelebt. Wie kam es dazu?
Ich lebe in Berlin, aber die Stadt war damals coronabedingt nur noch ein Schatten ihrer selbst. Außerdem sah man in jedem Menschen einen potenziellen Infektionsherd. Da ich beruflich mobil bin, konnte ich es mir leisten, das zu tun, was die Leute in Seuchenzeiten schon immer getan haben: Flucht in die Wälder.

Woher kommt das Pseudonym H. D. Walden?
H. D. Thoreau war ein Zivilisationskritiker des 19. Jahrhunderts, der sich für eine Weile in die Wälder zurückzog. Die Idee für das Pseudonym kam vom Verlag, und mir gefiel der Name Walden, weil dieser Begriff in der Outdoorszene seit einiger Zeit die Bedeutung von „in den Wald gehen“ bekommen hat: „Ich gehe walden.“ Vermutlich hat das gar nichts mit Thoreau zu tun, dessen Buch „Walden“ heißt. Es klingt einfach gut.

Was waren die beeindruckendsten Erfahrungen, die Sie im Wald gemacht haben?
Ich lernte sozusagen ja eine Waschbärin näher kennen, und etwas vom Schönsten, das ich in der Hütte erlebt habe, war, als sie mir ihr Junges vorstellte. Es war wirklich so: Sie stellte mir ihr Kind vor. Das mag nach Vermenschlichung von tierischem Verhalten klingen – aber nur für jemanden, der glaubt, dass Tiere sich grundlegend anders verhalten als Menschen. Das tun sie nicht, und vor allem nicht auf der emotionalen Ebene.

Denken Sie, dass wir von der Natur etwas lernen können?
Meiner Meinung nach müssen wir sogar etwas lernen. Und zwar, dass die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier falsch ist. Es gibt nur Wildtiere und domestizierte Tiere. Der Mensch ist ein (selbst-)domestiziertes Tier und verhält sich exakt so, wie domestizierte Tiere es tun. Alles, was wir in unserem Leben tun, sogar die Kunst, lässt sich auf die drei Hauptmotive aller Lebewesen zurückführen: Fortpflanzung, Nahrungsbeschaffung, Schutz vor Feinden. Der Mensch ist ein sehr intelligenter Affe, aber er ist, in allem, was er tut, eben immer noch Affe. Die Überzeugung, wir seien etwas anderes als Tiere wurde von uns selbst geschaffen, um die Ausbeutung der anderen Tiere zu rechtfertigen – aber sie ist keine reale Tatsache.

Was können Sie speziell jungen Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftlern mit auf den Weg geben, die am Anfang Ihrer beruflichen Laufbahn stehen?
Der Physiker Lawrence Krauss sagt, die Lust am Nichtwissen sei der Beweggrund aller Wissenschaft. Damit meint er, dass es eine Tugend ist, sich einzugestehen, dass man etwas nicht weiß. Es gibt genügend Leute, die glauben, sie wüssten alles. Die werden uns nicht voranbringen.

Buchtipp

cover ein stadtmensch im waldD. Walden: Ein Stadtmensch im Wald. Galiani Berlin 2021. ISBN: 978-3-86971-242-0. 14 Euro.

karriereführer recht 2.2021 – Legal-Tech, NewLaw, neue Business Cases

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Cover karrierefuehrer recht 2-2021

Legal-Tech, NewLaw, neue Business Cases: Eine Branche verändert sich

LegalTech, NewLaw, neue Business Cases: Im Zuge der Digitalisierung fächert sich der Rechtsmarkt auf, angetrieben wird die Entwicklung durch die Folgen der Pandemie. Gewohnte Abläufe verlieren an Bedeutung. Was zählt, sind neue Konzepte und Abrechnungsmodelle. Für die junge Generation ergeben sich Chancen, vor allem dann, wenn ihre digitalen Kenntnisse zu einem Wissens- und Erfahrungsvorsprung führen.

E-Paper karriereführer recht 2.2021 – Legal-Tech, NewLaw, neue Business Cases

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Die neue Ungewöhnlichkeit

LegalTech, NewLaw, neue Business Cases: Im Zuge der Digitalisierung fächert sich der Rechtsmarkt auf, angetrieben wird die Entwicklung durch die Folgen der Pandemie. Gewohnte Abläufe verlieren an Bedeutung. Was zählt, sind neue Konzepte und Abrechnungsmodelle. Für die junge Generation ergeben sich Chancen, vor allem dann, wenn ihre digitalen Kenntnisse zu einem Wissens- und Erfahrungsvorsprung führen. Ein Essay von André Boße

„Business as usual“? Klingt nach gepflegter Langeweile. Wer „business as usual“ betreibt, gehört zwar nicht zu den Innovationsführern, doch steht der Ansatz in einem gewissen Maße für Stabilität. Gerade in einer Branche wie dem Rechtsmarkt, in der Veränderungen mit Blick auf die Arbeitskultur sowie die Geschäftsmodelle der Kanzleien lange Zeit eher vorsichtig angegangen wurden. Nun aber beginnt der „Future Ready Lawyer 2021“-Report des Informationsdienstleisters Wolters Kluwer mit folgender Formulierung: „Für viele Juristen wurde im Jahr 2020 ‚Business as usual‘ zu einem Überlebenskampf.“

Ausschlaggebend dafür sei, schreiben die Studienautoren, die Pandemie gewesen, die den generellen Megatrend der Digitalen Transformation zusätzlich befeuert habe. Den Wandel hätte es auch ohne das Corona-Virus gegeben. Mit ihm hat er sich mit einem Tempo und einer Radikalität vollzogen, die der Rechtsmarkt so bislang nicht kannte. „Es galt, die Organisationen im Rechtsmarkt durch nie dagewesene Zeiten zu steuern – von der Krise und der Reaktion darauf bis zur Erholung“, heißt es in der Studie. Jetzt, im Herbst 2021, müssten sich die Organisationen auf ein neues „Business as usual“ einstellen. Wobei der Trend wohl eher dahin geht, dass die Ungewöhnlichkeit permanent bleibt.

Digitalisierung beherrscht Komplexität

Wie das aussieht? Der Report skizziert Punkte, die ab jetzt eine zentrale Bedeutung besitzen. Für die Anwält*innen kam es darauf an, „mithilfe von Technologien die Leistungserbringung aufrecht zu erhalten, um vom Home-Office aus Remote mit Mandanten, Kollegen und den Gerichten zu interagieren.“ Dabei habe die Krise verdeutlicht: „Technische Lösungen sind für die Belastbarkeit der Organisation und den Service für Mandanten unabdingbar.“ Sprich: Die Digitale Transformation der Kanzleien folgt keinem Selbstzweck und keinem Zukunftsplan –, sondern ist hier und heute die Voraussetzung dafür, die Qualität der juristischen Beratung und Dienstleistung aufrecht zu erhalten. „Experten sehen den digitalen Wandel und die Technologie als Haupttreiber für eine verbesserte Leistungserbringung“, heißt es in der Studie. Die Rechtsbranche werde daher weiter in technologische Lösungen investieren sowie diese stärker nutzen.

Legal Tech und das Anwaltsmonopol

cover legal techLegal Tech ist in aller Munde. Die Möglichkeit des Einsatzes von Legal Tech wirft dabei vor allem die Frage auf, ob Rechtsdienstleistungen weiterhin primär nur durch Rechtsanwälte erbracht werden dürfen. Diese Fragestellung wurde bisher allein mit Blick auf die Regelungen im deutschen Recht betrachtet. Bernhard Brechmann untersucht hingegen die Zulässigkeit des Einsatzes von Legal Tech im europäischen und internationalen Kontext. Denn im Gegensatz zu Deutschland kennt eine Reihe von Mitgliedstaaten der EU kein entsprechendes Anwaltsmonopol für die Erbringung von Rechtsdienstleistungen. Die Frage ist daher, ob diese ausländischen Vorschriften in Deutschland zur Anwendung gebracht werden können. Bernhard Brechmann: Legal Tech und das Anwaltsmonopol. Mohr Siebeck 2021, 80 Euro.

Dass viele Kanzleien dabei vor einer großen Herausforderung stehen, zeigen zwei zentrale Kennzahlen der Studie. Befragt wurden 700 Jurist*innen aus neun europäischen Ländern und den USA nach den für sie bedeutsamsten Trends der kommenden drei Jahre? Die „steigende Bedeutung von ,Legal Technology’“ sowie die „Bewältigung zunehmender Informationsmengen und Komplexität“ erhalten mit jeweils 77 Prozent die höchste Zustimmung. Das Problem: Nur 33 Prozent der Befragten halten ihre Organisation für „sehr gut“ auf die „steigende Bedeutung von ,Legal Technology’“ vorbereitet, nur 32 Prozent fühlen sich „sehr gut“ auf die „Bewältigung zunehmender Informationsmengen und Komplexität“ vorbereitet. Zu wissen, was wichtig wird – aber zu glauben, hier noch nicht optimal aufgestellt zu sein: Der Report zeigt deutlich, dass der Wandel des Rechtsmarkts für die Kanzleien anspruchsvolle Aufgaben mit sich bringt.

Die papierlose Kanzlei

Ein Blick in eine Organisation, die von sich selbst sagt, „vollständig durchdigitalisiert“ zu sein. Renz Schuhknecht Baumann mit Sitz in Stuttgart ist eine interdisziplinäre, stark auf Steuer- und juristische Wirtschaftsberatung ausgerichtete Kanzlei. Sowohl im steuerlichen als auch im anwaltlichen Bereich erfolge die Aktenführung komplett digital, sagt Michael Renz. „Alle in die Kanzlei eingehenden Dokumente werden – sofern sie uns nicht ohnehin schon digital erreichen – digitalisiert.“ Lediglich ein kleiner Auszug davon – nämlich, soweit er für Gerichtstermine relevant ist – werde zusätzlich als herkömmliche Papierakte geführt. „Das ist wegen der schlechten digitalen Anbindung der Gerichte leider auch heute noch notwendig.“ Die Kanzlei nutzt dabei das Portfolio des Software-Entwicklers und IT-Dienstleisters DATEV, der gezielt für die Arbeit von Jurist*innen und Steuerberater*innen digitale Lösungen konzipiert.

Das Unternehmen ist als Berufsgenossenschaft organsiert, rund 40.000 Rechtsanwält*innen, Steuerberater*innen oder Wirtschaftsprüfer*innen sind Mitglied. Michael Renz ist als stellvertretender Vorsitzender des DATEV-Vertreterrats mit dafür verantwortlich, den Unternehmensvorstand aus Sicht der Anwenderschaft zu beraten. Es ermöglicht, die gesamte Korrespondenz mit anderen Kanzleien, Notar*innen oder Gerichten komplett zu digitalisieren, „in diesem Bereich verlässt unser Büro kein Stück Papier mehr“, sagt Michael Renz. Dazu nutze die Kanzlei im anwaltlichen Bereich das Tool einer „juristischen Textanalyse“, das zum Beispiel bei aufwändigen Due-diligence-Verfahren für Effizienz sorgt.

Kreative Tätigkeiten statt Fleißarbeit

Bei solchen Prozessen zeigten sich die direkten Vorteile der Digitalisierung, doch Michael Renz glaubt, der „wirkliche Nutzen“ zeigte sich nur dann, „wenn auch die Randbereiche digital aufgestellt sind“. Diktat-Software, digitale Telekommunikation über CTI, elektronische Arbeitszeiterfassung, Gebührenrechner, datenschutzkonforme Videokonferenz-Systeme – der Stand der Digitalisierung hängt von vielen Elementen ab. Für die Kanzlei zahlte sich das aus: Innerhalb von drei Tagen sei es gelungen, die komplette Belegschaft ins Homeoffice „auszulagern – und dies im ersten Lockdown für drei und im zweiten Lockdown für acht Monate aufrecht zu erhalten“, sagt Michael Renz – und verweist darauf, dass der Nutzen deutlich größer sei als die Nebenwirkungen der Digitalisierung.

Stichwort Security? „Ich bin überzeugt, dass der größte Sicherheits-Schwachpunkt der Digitalisierung menschlichen Ursprungs ist“, sagt Michael Renz. „Wir legen daher großen Wert darauf, unsere Belegschaft im Umgang mit der EDV zu schulen und das Problembewusstsein für mögliche Angriffsszenarien zu schärfen.“ Thema Update-Wahnsinn? „Natürlich halten wir unsere EDV immer auf dem aktuellen Softwarestand, aber als ‚Update-Wahnsinn‘ würde ich das nicht bezeichnen. Jeder Schreiner schärft seine Sägen und erneuert seinen Maschinenpark regelmäßig – anders ist das mit dem Werkzeug EDV in der Kanzlei letztlich nicht.“ System-Ausfall? „In den ganzen Jahren hatten wir genau dreimal einen zeitweisen Technikausfall. Einmal war die Ursache ein mehrstündiger lokaler Stromausfall, die beiden anderen Stillstände waren deutlich kürzer und waren Folge eines Hardwaredefekts, den wir aber bis zur Reparatur ohne fremde Hilfe durch eigene Backup- und Ausweichsysteme ausgleichen konnten.“

Während auf diese Weise immer mehr Kanzleien mit Hilfe der Digitalisierung neue Wege gehen, etablieren sich parallel auf dem deutschen Rechtsmarkt neue Anbieter, die mit ihren Geschäftsmodellen die juristische Arbeit anders angehen und abrechnen.

Der nächste Schritt ist für Michael Renz nun ein „gezielter Einsatz von künstlicher Intelligenz, als eine gute Basis für die im Anwaltsgeschäft erforderliche Kreativität: Fleißarbeit und Recherchezeit könnte dann sinnvoller zur eigentlichen juristischen Arbeit eingesetzt werden.“ Keine technische Entwicklung ohne die andere Seite der Medaille: Mit Sorge beobachtet Michael Renz eine Tendenz zur „Industrialisierung des Anwaltsberufes“, zum Beispiel mit Blick auf die Klagen zum „Diesel-Skandal“: „Da werden Massenverfahren geführt und Schriftsätze aus Baukästen zusammengestellt. Die eigentliche juristische Arbeit hat vielleicht zu Beginn der Verfahren noch eine Rolle gespielt, zwischenzeitlich ist das aber zu Copy & Paste ‚verkommen‘.“

NewLaw: Recht on-demand

Während auf diese Weise immer mehr Kanzleien mit Hilfe der Digitalisierung neue Wege gehen, etablieren sich parallel auf dem deutschen Rechtsmarkt neue Anbieter, die mit ihren Geschäftsmodellen die juristische Arbeit anders angehen und abrechnen. Eine Bezeichnung, die dabei die Runde macht, ist die von „NewLaw“. Centurion Plus ist einer der ersten Anbieter auf dem deutschen Markt, der NewLaw zum Markenkern macht mit dem Ansatz, „hochqualifizierte Anwälte ondemand“ zu bieten. „Das NewLaw Modell unterscheidet sich von der traditionellen Erbringung von Rechtsdienstleistungen vor allem in drei Bereichen: in der Art und Weise, wie Firmen Kunden gewinnen, der Art und Weise, wie die Arbeit erledigt wird und der Art und Weise, wie die Firma geführt wird“, beschreibt das Unternehmen seinen Ansatz in Form eines „NewLaw-Guides“, zu finden auf der Homepage des Anbieters.

Vergleichbar mit Dienstleistungsunternehmen anderer Branchen finden NewLaw-Firmen ihren Kundenstamm „durch Marketing, Geschäftsentwicklung und ein Alleinstellungsmerkmal“; der Mandantenstamm werde durch die Bekanntheit der Kanzleimarke aufgebaut, nicht durch individuelle Netzwerke oder persönliche Beziehungen. „Dies bedeutet, dass es einer NewLaw Firma leichtfallen sollte, von zeitbasierten Abrechnungen wegzukommen, da der Kunde den Dienstleister für ein bestimmtes Ergebnis beauftragt“, heißt es im „NewLaw-Guide“ von Centurion Plus.

NewLaw: Definition

Der US-Strategieberater mit Rechts-Schwerpunkt Eric Chin hat in einem Blog- Eintrag bereits 2013 den Begriff NewLaw wie folgt definiert: „Jedes Modell, Verfahren oder Instrument, das einen wesentlich differenzierteren Ansatz für die Schaffung oder Bereitstellung von Rechtsdienstleistungen darstellt als das, was die Rechtsberufe traditionell anwenden.“ (im englischen Original: „Any model, process, or tool that represents a significantly different approach to the creation or provision of legal services than what the legal profession traditionally has employed.“)

Dadurch ändere sich das Abrechnungssystem der juristischen Arbeit: NewLaw-Firmen entfernten sich von Stundensätzen, tendierten dazu, alternative Modelle zu entwickeln, zum Beispiel: „Abrechnung auf Projektbasis oder eine feste Gebühr für die Dienstleistungen.“ Wer heute in den Beruf einsteigt, darf davon ausgehen, dass die Frage „herkömmliche Kanzlei oder NewLaw?“ keine Entweder-oder-Entscheidung darstellt. Offensichtlich jedoch ist, dass sich der Rechtsmarkt weiter ausdifferenziert, mit der Digitalisierung als Treiber, die neue Geschäftsmodelle und Kommunikationsformen ermöglicht, den Workflow der in den Organisationen tätigen Jurist*innen verändert und bei den Mandanten Ansprüche weckt. Für die junge Generation sind das positive Entwicklungen. Denn überall dort, wo Veränderungen stattfinden, sich Strukturen verändern und eine innovationsgetriebene Offenheit gefordert ist, ergeben sich für Nachwuchskräfte Chancen. „Die Digital Natives sind mit digitalen Hilfsmitteln groß geworden. Insofern darf man erwarten, dass sie damit auch gewandt und zielführend umzugehen verstehen“, sagt Michael Renz von der Kanzlei Renz Schuhknecht Baumann. Wenn daraus ein Wissens- und Erfahrungsvorsprung resultiere, sei dieser „eine gute Voraussetzung für die Karriere als auch für eine gesunde Work-Life- Balance“.

Das Vario-Geschäft der Wirtschaftskanzlei Pinsent Masons

Vario ist ein 2013 von der internationalen Wirtschaftskanzlei Pinsent Masons eingeführtes Angebot im Bereich innovativer Rechtsberatungskonzepte. Vario arbeitet weltweit mit einem Pool von über 1000 Projektjuristen zusammen und zählt damit zu den führenden Anbietern von flexiblen Rechtsbratungsdienstleistungen. Vario ist nicht VC-, Private Equity- oder börsenfinanziert. Von anderen Anbietern flexibler Rechtsberatungsdienstleistungen unterscheidet sich Vario durch die enge Anbindung an eine führende internationale Anwaltskanzlei. „Das Angebot flexibler Rechtsberatungsdienstleistungen ist noch neu auf dem deutschen Markt. Aber mehr und mehr Unternehmen erkennen, dass Projektjuristen, die einer Kanzlei wie Pinsent Masons nahestehen, einen ganz erheblichen Mehrwert für sie schaffen können“, sagte Dr. Carl Renner im Zuge seiner Ernennung zu einem der Co-Heads von Vario in Deutschland im Juli 2020.

Alternative Anbieter im Kommen

Die Studie „Future Ready Lawyer 2021“ fragte Anwält*innen nach den großen Trends, die in den kommenden drei Jahren eine Auswirkung auf die Arbeit der großen Kanzleien haben werden. Der größte Zuwachs mit sechs Prozentpunkten auf nun 74 Prozent gelingt dem Trend „Zunahme Alternativer Anbieter von Rechtsdienstleistungen“. Zugleich glauben 74 Prozent der befragen Jurist*innen, dass die Themen Preiswettbewerb/alternativen Gebührenstrukturen/Kosteneinsparungen in den kommenden drei Jahren die Abrechnungsmodelle stark prägen und verändern werden.

Der Veränderer Philipp Glock im Interview

Als Anwalt bei KPMG Law ist Philipp Glock mit seinen Schwerpunkten Legal Technology, Managed Services und Legal Project Management häufig in sehr engem Kontakt mit den Mandanten. Was dem Juristen dabei auffällt: In Sachen Digitalisierung hat sich bei den Unternehmen einiges getan. Entsprechend hoch sind die Ansprüche an juristische Beratung mit Hilfe neuer Techniken. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Philipp Glock studierte Rechtswissenschaften an den Universitäten Bonn, Lausanne und an der HU Berlin. Seinen Referendariatsdienst leistete er in Berlin ab, nachdem er in Kapstadt und Stellenbosch/Südafrika den Titel eines Magister Legum (LL.M.) erworben hatte. Vor seiner Zeit bei KPMG Law war er in einer anderen großen deutschen Rechtsanwaltskanzlei sowie bei Sony Deutschland GmbH tätig. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Digitalisierungs-, Technologie- und Prozessberatung von Rechtsabteilungen sowie das Gesellschafts- und Handelsrecht. Als Co- Head der Solution Legal Process & Technology ist Philipp Glock mit den aktuellen digitalen Lösungen für Unternehmen jeder Größe vertraut und berät die Mandanten sowohl bei der Auswahl und Einführung der entsprechenden Tools als auch bei der Implementierung sowie Überarbeitung von Prozessen in der Rechtsfunktion.

Herr Glock, über Ihrem Anwaltsprofil bei KPMG Law haben Sie einen Satz von Albert Einstein zitiert: „Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.“ Wie häufig treffen Sie als Jurist auf diese Einstellung?
Das kommt schon mal vor, ist aber natürlich nicht die Regel. Um es salopp zu formulieren: Juristinnen und Juristen sind nicht unbedingt das verrückteste Völkchen. Will heißen, dass ein gewisser Anteil von denjenigen, die in dieser Berufsgruppe tätig sind, bei Wandlungsprozessen nicht unbedingt zu den Pionieren zählen.

Wenn Sie diesen digitalen Wandel beziffern müssten, wie sehr greift er generell in die juristische Arbeit ein?
Noch nicht so radikal, wie man glauben könnte. Ich schätze mal, dass durchschnittlich bei 90 Prozent der Arbeit weiterhin klassisches juristisches Know-how gefragt ist. Dieser Anteil lässt sich vielfach auch kaum digitalisieren, weil es hier zum Beispiel um individuelle Beratung geht. Oder um juristische Expertise, die nicht von Bots oder Künstlicher Intelligenz übernommen werden kann. Richtig ist aber auch, dass der Raum für Arbeiten, die sich digitalisieren lassen, kontinuierlich wächst.

Sprich: Tendenz steigend.
Genau. Ich vergleiche das Profil eines Juristen gerne mit einer Torte: Es gibt die klassische Anwalts-Torte, einhundert Prozent Jura. Meine persönliche Torte würde ich vielleicht so beschreiben: Die Hälfte der Stücke sind klassisch juristisch geprägt, die andere Hälfte digital. Wichtig ist: Für alle Tortenarten gibt es noch passende Deckel.

Welche juristischen Arbeiten können heute sinnvoll digitalisiert werden?
Tätigkeiten, die so häufig vorkommen, dass sie standardisierbar sind. Darunter gibt es durchaus Arbeiten, die eine große Komplexität besitzen. Zum Beispiel die juristische Ausgestaltung von Verträgen. Sind diese in gewisser Weise repetitiv, kann die digitale Technik hier vieles übernehmen. Schon heute gibt es im Kanzleialltag viele sich wiederholende Arbeiten, die ganz selbstverständlich von digitalen Tools übernommen werden. Steht eine Tätigkeit eher für einen einzelnen Fall, lohnt sich dieser Schritt nicht, da ist es effektiver, die Arbeit auf traditionelle Weise zu übernehmen.

In den Kanzleien kommt es also darauf an, zu entscheiden: Was machen wir digital – was weiterhin analog.
Ja, das sind neue Fragen, die sich in den Kanzleien stellen. Interessant wird es, wenn zwei Kulturen aufeinandertreffen. Vereinfacht gibt es diejenigen, die noch gerne die Idee bedienen, dass Juristen nur in der juristischen Manufaktur arbeiten. Dazu stoßen nun immer mehr aus einer jungen Generation, die mit Begriffen wie New Law oder Alternative Legal etwas anfangen können.

Stehen junge Jurist*innen vor der Entscheidung: Entweder-oder?
Ich glaube, dass man sich sein Profil heute noch selbst erstellen kann, ohne dabei Gefahr zu laufen, abgehängt zu werden. Jedoch steigen die Potenziale für alle, die diesen Beruf neu denken.

Wie wichtig ist juristisches Know-how, um die digitalen Tools zu implementieren?
Das ist in der Tat eine neue zentrale Aufgabe. Um repetitive Abläufe in standardisierte Prozesse zu überführen, wird juristisches Verständnis benötigt, zum Beispiel, um bei skalierbaren Fällen die richtigen Wenn-dann-Verknüpfungen zu erstellen. Bei diesen Themen kommt es darauf an, Jura- und IT-Kenntnisse zu verknüpfen. Die Teams, die an diesen Projekten arbeiten, sind entsprechend interdisziplinär besetzt. Junge Juristinnen und Juristen, die verstehen, wie IT-Prozesse funktionieren, haben gute Chancen, in diesen Teams eine wichtige Rolle zu spielen.

Die Aufgabe ist, das, was wir Anwälte in unserer juristischen Sprache klar benennen können, in die Technologie, in die Tools zu übersetzen.

Wo liegen die besonderen Herausforderungen bei der Transformation von juristischen Abläufen in IT-Prozesse?
Ein Thema ist hier sicherlich die Kommunikation. Juristen nutzen eine eigene Fachsprache, Informatiker auch. Die Aufgabe ist, das, was wir Anwälte in unserer juristischen Sprache klar benennen können, in die Technologie, in die Tools zu übersetzen. Je komplexer die juristischen Themen sind, desto wichtiger ist es, hier Fehler und Missverständnisse zu vermeiden. Ich glaube daher, dass das Finden einer gemeinsamen Sprache weiter an Bedeutung gewinnen wird.

Erkennen Sie, dass sich die Ansprüche der Mandanten ändern? Dass Sie auf digitale Lösungen pochen?
Ja, hier bewegt sich was. Wenn wir vor fünf, sechs Jahren in die Unternehmen kamen, waren diese häufig vergleichsweise wenig digitalisiert. Brachten wir digitale Lösungen mit, konnten wir damit punkten. Das ist heute schon nicht mehr der Fall, mittlerweile haben die Unternehmen digital und auch personell aufgerüstet, sie kennen die Möglichkeiten der Digitalisierung – entsprechend sind die Ansprüche gewachsen.

Wie reagieren Sie als Anwalt auf diese Entwicklung?
Ich finde das grundsätzlich gut, weil höhere Ansprüche meine Arbeit am Ende des Tages besser machen. Wobei wir auch hier festhalten sollten, dass nicht alle Kanzleien gezwungen sind, mit dieser Entwicklung mitzugehen. Es gibt welche, die ihren Markenkern nicht verändern. Weil sie sich treu bleiben wollen – oder auch, weil sie sich als kleinere Kanzleien schwertun, digitale Innovationen umzusetzen. Und ich denke schon, dass auch diese Kanzleien in bestimmten Bereichen weiterhin die Chance haben, sich am Markt zu behaupten.

Um repetitive Abläufe in standardisierte Prozesse zu überführen, wird juristisches Verständnis benötigt, zum Beispiel, um bei skalierbaren Fällen die richtigen Wenn-dann-Verknüpfungen zu erstellen.

Können Sie die gehobenen Ansprüche der Mandanten konkret machen?
Auf den Punkt gebracht: Wollen wir unsere Mandanten mit Legal-Tech-Anwendungen überzeugen, dann müssen sich diese am Niveau der Marktführer (oder großen Player etc.) orientieren. Sprich: Es kommt auf den Komfort und intuitive Bedienbarkeit an. Putzige Legal-Tech-Tools, die vor fünf Jahren noch für große Augen gesorgt haben, werden heute schon nicht mehr ernst genommen. Ein Beispiel, unsere Mandanten wissen, dass ihre Mitarbeitenden Plattformen für Budget-Reports oder Vertragsmanagement kaum nutzen werden, wenn sie sich immer wieder neu anmelden und immer die gleichen Daten eingeben müssen. Hier bedarf es einer möglichst einheitlichen Umgebung. Die Benchmark für Legal-Tech-Lösungen liegt heute sehr hoch, gerade was die Nutzerfreundlichkeit und den Ertrag betrifft. Und der Anspruch wird weiter steigen, da immer mehr große Anbieter in den Legal-Markt reingehen: Große Software- Konzerne erkennen, dass es eine große Nachfrage im Legal-Bereich gibt.

Was können digitale Plattformen, die mit Algorithmen und Big Data arbeiten, im besten Fall an Mehrwert generieren?
Durch das Zusammenführen von Daten über eine Plattform ergibt sich eine nie dagewesene Transparenz. Denken Sie zum Beispiel an Themen wie Korruption oder Geldwäsche. Wenn ich vorhandene Daten nutze und mit juristischen Prüflogiken verbinde, kann ich deutlich schneller und einfacher Verdachtsfälle aufzeigen. Oder nehmen Sie das Thema Ausschreibungen: Wenn man in der Lage ist, mit digitalen Tools Ausschreibungen zu durchleuchten, um anhand von Daten und Mustern eventuelle Verstöße gegen das Kartellrecht ausfindig zu machen, zeigt sich der Mehrwert: Das Unternehmen schützt sich vor Risiken durch böse Überraschungen. Wobei auch in diesem Fall die juristische Beratung nicht an Bedeutung verliert: Das Muster richtig in das Tool zu überführen ist auch Jura. Und dann ist die eine Sache, dass das Tool das Muster erkennt. Wie damit umzugehen ist, die andere.

Zum Unternehmen

KPMG Law Rechtsanwaltsgesellschaft mbH (KPMG Law) ist eine international ausgerichtete multidisziplinäre Kanzlei, die mit mehr als 350 Anwält*innen an 16 deutschen Standorten vertreten ist. KPMG Law ist als rechtlich eigenständige Wirtschaftskanzlei mit der KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft assoziiert und eng verbunden. Schwerpunkte der rechtlichen Beratung sind der öffentliche Sektor, Financial und Corporate Services sowie Beratung bei M&ATransaktionen, Joint Ventures sowie Reorganisations- oder Sanierungsprojekte im In- und Ausland.

KI beinhaltet Chancen und Risiken

In viele unserer Lebensbereiche hat Künstliche Intelligenz (KI) bereits Einzug gehalten. Gleiches gilt für unseren Arbeitsalltag und die Nutzung der digitalen Technologie in Unternehmen. Damit werden auch zahlreiche rechtliche Fragestellungen aufgeworfen, die es zu beantworten gilt. Von Christoph Berger

Im Januar 2019 nahm die Manchot Forschungsgruppe „Entscheidungsfindung mit Hilfe von Methoden der Künstlichen Intelligenz“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU) ihre wissenschaftlichen Arbeiten auf. Zunächst für drei Jahre. Doch bereits seit Juli 2021 ist klar, dass die Jürgen Manchot Stiftung die interdisziplinäre Forschungsgruppe auch ab Januar 2022 für weitere drei Jahre fördern wird. Ziel dabei ist es, die Künstliche Intelligenz (KI)-Forschung an der HHU zu vernetzen und ihre Anwendung in allen Fakultäten der Universität voranzutreiben.

Gestartet wurde 2019 mit drei Use Cases, wobei es in einem gemeinsamen Projekt der Betriebswirtschaftslehre und der Rechtswissenschaften um „Good Governance und Compliance“ geht: Wie kann gute Unternehmensführung durch KI unterstützt werden – fordern Gesellschaft und Staat von Unternehmen doch genau beides ein? Dies betreffe interne Abläufe im Unternehmen, wo Gesetze und gesellschaftliche Normen einzuhalten seien, aber auch das Verhältnis von Unternehmen und Staat, etwa die Besteuerung, heißt es in der Projektbeschreibung. Dabei sei der wachsende Einsatz von KI bei immer vielfältigeren Funktionen im Unternehmen im Hinblick auf diese Kriterien sowohl Chance – zum Beispiel bei der Erkennung von Normverstößen – als auch Aufgabe, etwa bei der Verhinderung von Diskriminierung durch Algorithmen. In dem Projekt wolle man analysieren und insbesondere beantworten, ob und unter welchen Bedingungen KI die Einhaltung gesellschaftlicher Normen unterstützt, Verstöße gegen geltende Regeln aufdeckt oder vorhersagt und wie makroökonomische Effekte des zunehmenden Einsatzes von KI zu behandeln sind.

KI: Abwägen von Chancen und Risiken

Das Projekt zeigt neben der fachlichen Beantwortung der aufgezählten Fragen vor allem eines: Bei KI geht es immer auch und vor allem um das Abwägen von Chancen und Risiken. Dies wird ebenso bei einem Blick in das von der Europäischen Kommission im Februar 2020 veröffentlichten Weißbuch „Zur Künstlichen Intelligenz – ein europäisches Konzept für Exzellenz und Vertrauen“ deutlich. Darin heißt es unter anderem: „Angesichts der erheblichen Auswirkungen, die KI auf unsere Gesellschaft und die notwendige Vertrauensbildung haben kann, ist es von entscheidender Bedeutung, dass die europäische KI auf unseren Werten und Grundrechten wie Menschenwürde und Schutz der Privatsphäre fußt. Zudem sollten die Auswirkungen von KI-Systemen nicht nur aus dem Blickwinkel des Einzelnen betrachtet werden, sondern auch aus der Perspektive der gesamten Gesellschaft.“ Der Deutsche Anwaltverein (DAV), der neben anderen Institutionen um eine Stellungnahme zu dem Weißbuch gebeten worden war, empfiehlt bei der Ausarbeitung eines neuen Rahmenwerks zur künstlichen Intelligenz folgende Erkenntnisse in Bezug auf das Recht zu berücksichtigen:

  • Die Einführung von KI-Systemen im Bereich der Justiz ist mit besonders hohen Grundrechtsrisiken verbunden und sollte daher strengen Anforderungen unterworfen werden.
  • Gerichtliche und ähnlich eingriffsintensive verbindliche Entscheidungen staatlicher Instanzen dürfen niemals vollständig automatisiert werden.
  • In jedem Fall müssen umfassende und sinnvolle Transparenzpflichten eingehalten werden.
  • Darüber hinaus müssen die Haftungsregeln auf EU-Ebene in Bezug auf KI erweitert werden. Ebenso müssen wirksame Rechtsbehelfs- und Kontrollmechanismen für den Einsatz von KI im Bereich der Justiz und der öffentlichen Verwaltung geschaffen werden.
  • Um den von der EU verfolgten menschenzentrierten Ansatz zu gewährleisten, müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten, dafür sorgen, dass die zunehmende Automatisierung von Dienstleistungen nicht zu einem Abbau von Arbeitsplätzen im Justizsektor führt, sondern zusätzliche Ausbildungsangebote und einen verstärkten Wissensaustausch für Angehörige von Rechtsberufen im Bereich KI schaffen.

KI bringt Vorteile

Prinzipiell gelte: „Wenn wir eine humane Gesellschaft erhalten wollen, in welcher der Mensch weiterhin die endgültigen Entscheidungen trifft, müssen wir jedoch sicherstellen, dass der Mensch die Kontrolle behält. Diese Überlegungen gelten insbesondere für die Bereiche Justiz, Strafverfolgung und öffentliche Verwaltung. Auch in diesen Bereichen, die für das Funktionieren jeder demokratischen Gesellschaft von zentraler Bedeutung sind, schreitet die Digitalisierung – wenn derzeit auch noch in einem frühen Stadium – voran.“ Dabei bedeute die Betonung der menschlichen Gesellschaft nicht, die Vorteile von Innovation und Fortschritt zu verkennen. So könne Technologie – einschließlich KI-basierter Instrumente – beispielsweise den Zugang zum Rechtssystem erweitern oder intelligente Systeme könnten eingesetzt werden, um die Einreichung von Schriftsätzen und die Ausfertigung von Gerichtsbeschlüssen in Zivilverfahren weitgehend zu automatisieren. Doch: „Sobald jedoch KI-basierte Technologie im Gerichtssaal oder in Entscheidungsprozessen angewandt wird, könnten Grundrechte ernsthaft beeinträchtigt werden.“

Wenn wir eine humane Gesellschaft erhalten wollen, in welcher der Mensch weiterhin die endgültigen Entscheidungen trifft, müssen wir jedoch sicherstellen, dass der Mensch die Kontrolle behält.

An einem geeigneten rechtlichen Rahmen für den KI-Einsatz arbeitet auch die Forschungsgruppe „Regulierung der digitalen Wirtschaft“ des Max-Planck-Instituts für Innovation und Wettbewerb. Identifiziert wurden von der juristischen Abteilung des Instituts mögliche Fragestellungen, die sich an der Schnittstelle zwischen Künstlicher Intelligenz und IP-Rechten, also dem gewerblichen Rechtsschutz, ergeben können. Und es werden verschiedene Richtungen aufgezeigt, wie Antworten gefunden werden könnten. Denn: Bislang fokussiere sich die politische und rechtliche Diskussion primär auf den Output, also das, was durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz oder zumindest unterstützt durch sie generiert werde.

Um beurteilen zu können, inwieweit das bestehende IP-System seine Funktion unter den Rahmenbedingungen dieser rasant voranschreitenden Technologie noch erfüllen könne, sei jedoch eine umfassendere Sichtweise notwendig, heißt es. Zu berücksichtigen seien insbesondere die einzelnen Schritte eines KI-getriebenen Innovationszyklus, in denen IP-Rechte eine Rolle spielen können. Die Untersuchung konzentriert sich dabei auf das materielle europäische Immaterialgüterrecht, insbesondere auf das Urheber-, Patent- und Geschmacksmusterrecht sowie den sui-generis-Schutz für Datenbanken, also das Datenbankherstellerrecht, und den Schutz von Geschäftsgeheimnissen. Es gibt also noch vieles zu regeln und zu gestalten, wenn es um den Einsatz Künstlicher Intelligenz im Recht geht.

Weiterführende Informationen zum Thema:

Europäische Kommission: Künstliche Intelligenz – Exzellenz und Vertrauen
Stellungnahme des DAV zum Weißbuch der EU-Kommission zu Künstlicher Intelligenz
Max-Planck-Analyse „Artificial Intelligence and Intellectual Property Law“ (PDF)

Weiterbildung

Masterstudiengang „Informationstechnologie und Recht“ des Instituts für Rechtsinformatik der Universität des Saarlandes

„KI & Recht kompakt“

cover KI RechtMatthias Hartmann (Hrsg.): KI & recht kompakt. Springer Vieweg 2020, 20 Euro

 

Das neue Urheberrecht

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Der deutsche Gesetzgeber hat auf die aktuellen und rasanten Entwicklungen in den Medientechnologien reagiert und das Urheberrecht umfassend reformiert. Bei dieser Reform handelt es sich um die umfangreichste der letzten 20 Jahre, weswegen sich ein Blick auf ausgewählte Neuregelungen lohnt. Von Adrienne Bauer, Rechtsanwältin bei der Beiten Burkhardt Rechtsanwaltsgesellschaft mbH in München

Das neue Urheberrechts-Diensteanbieter- Gesetz (UrhDaG) trat zum 1. August in Kraft, gleichzeitig finden sich umfangreiche Änderungen im Urhebergesetz (UrhG) selbst, die bereits seit 7. Juni 2021 in Kraft sind. Sollen Facebook, Youtube und Instagram selbst für Urheberrechtsverletzungen haften? Die Gerichte beschäftigt diese Frage seit Jahren, und in der Öffentlichkeit sind Konsequenzen automatisierter Upload-Filter ein kontrovers diskutiertes Thema. Es gab also dringenden Handlungsbedarf.

Das neue Urheberrecht stellt hier eine wichtige Weiche: Plattformanbieter müssen entweder Lizenzen für Inhalte erwerben oder sie müssen rechtsverletzende Inhalte blockieren. Tun sie weder das eine noch das andere, dann haften sie in der Regel selbst für Urheberrechtsverletzungen. Der Gesetzgeber hat jedoch den hohen Stellenwert der Meinungsfreiheit bei dieser Neuregelung beachtet und beim Einsatz von Upload-Filtern Ausnahmen für mutmaßlich erlaubte Nutzungen vorgesehen. Gemeint ist damit die geringfügige Nutzung fremder Inhalte oder die vom Uploader als erlaubt gekennzeichnete Nutzung (Flagging). Die Plattformen informieren den Rechteinhaber im Anschluss über den Upload und er kann Beschwerde einlegen.

Der EuGH hatte das Leistungsschutzrecht für Presseverleger 2019 aus formellen Gründen gekippt, jetzt wird es im Zuge der Reform neu eingeführt. Journalist* innen haben von nun an einen Anspruch auf eine angemessene Beteiligung an den Einnahmen, die die Presseverleger durch die Lizenzierung erhalten, um damit einer Ausbeutung journalistischer Inhalte entgegenzuwirken.

Das Text- und Data Mining ist eine Schlüsseltechnologie für maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz. Das Urheberrecht passt sich auch hier den technischen Entwicklungen an, so ist die Auswertung großer Datenmengen nun aufgrund gesetzlicher Nutzungserlaubnisse ohne Vergütungspflicht möglich.

Reproduktionen visueller Werke, die gemeinfrei sind, erhalten künftig keinen Leistungsschutz mehr (§ 68 UrhG), wobei diese Neuregelung eine teilweise Abkehr zur aktuellen BGH Rechtsprechung darstellt.

Online-Angebote von Universitäten sind ab jetzt rechtssicher europaweit nutzbar, so dass damit digitales Lehren und Lernen einfacher wird.

Die Modernisierung des Urheberrechts ergeht auf Grundlage von zwei EU-Richtlinien und sorgt auf diese Weise für eine europaweite Harmonisierung. Welche Auswirkungen ergeben sich durch die Neuregelungen für die anwaltliche Beratungspraxis? Auch wenn es unsicher ist, welche Plattformen vom neuen Haftungskonzept betroffen sind, werden Youtube, Facebook und Instagram auf automatisierte Verfahren in Form von Upload Filtern zurückgreifen, um ihre Sorgfaltspflichten zu erfüllen. Die Unterstützung von Anwälten wird in diesem Zusammenhang nötig sein, weil insbesondere die technischen Möglichkeiten zur Erkennbarkeit von zulässigen Zitaten und Parodien begrenzt sind.

Plattformregulierung 2.0 – die Reform des NetzDG

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Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, kurz NetzDG, war und ist Gegenstand heftiger Diskussionen, die vor allem über die Medien geführt werden, die von ihm betroffen sind: soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram oder Twitter. Mit einer Reform des NetzDG hat der Deutsche Bundestag auf einige Kritikpunkte reagiert. Was sind die wesentlichen Neuerungen, welche Kritik bleibt und wie geht es weiter? Von Dr. Tobias Frevert und Andreas Daum, LL.M. (LSE), Rechtsanwälte bei Noerr Partnerschaftsgesellschaft mbB

Seit dem 01.10.2017 sind soziale Netzwerke mit über zwei Millionen Usern verpflichtet, Nutzerinhalte, die von anderen Usern gemeldet worden sind und gegen Strafvorschriften verstoßen, innerhalb kurzer Zeit zu sperren. Sonst drohen Bußgelder bis zu fünf Millionen Euro. Während die einen argumentieren, das Gesetz fördere ein „Overblocking“ und beschneide die Meinungsfreiheit, sehen andere darin die richtige Antwort auf den immer weiter zunehmenden Hass im Netz. Nun hat der Deutsche Bundestag das NetzDG entscheidend reformiert.

Zum einen sollen die Betreiber sozialer Netzwerke nun verstärkt mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeiten, um den Kampf gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität im Netz zu verbessern. Allerdings gab es Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser Änderung, wegen derer der Bundespräsident zunächst seine Unterschrift verweigerte. Nach eiliger „Reparatur“ durch den Gesetzgeber konnte das Gesetz dann doch noch ausgefertigt und verkündet werden. Ab dem 01. Februar 2022 müssen soziale Netzwerke nun dem Bundeskriminalamt melden, wenn sie den konkreten Verdacht haben, User könnten Straftaten wie „Volksverhetzung“ oder „Bedrohung“ verwirklicht haben. Zum anderen setzt die Reform Verbesserungen um, die sich aus den bisherigen Erfahrungen mit dem Gesetz ergeben haben.

Kritiker bemängeln, das NetzDG lege die staatliche Aufgabe, für die Einhaltung der Rechtsordnung zu sorgen, in die Hände der sozialen Netzwerke.

Soziale Netzwerke müssen nun ein transparentes Verfahren vorhalten, in dem ihre User die Entscheidung über die Löschung oder Sperrung nochmals überprüfen lassen können. Außerdem dürfen die sozialen Medien die Beschwerdemöglichkeit nicht auf der Website „verstecken“; die Nutzer müssen sie über wenige Klicks einfach erreichen. Das Parlament reagiert damit auf einige soziale Plattformen, die ihren Usern die Prüfung unnötig erschwert hatten. Das Bundesamt für Justiz hatte deswegen etwa Facebook gerügt, und auch beim Messenger Telegram Verbesserungsbedarf gesehen. Kritiker bemängeln, das NetzDG lege die staatliche Aufgabe, für die Einhaltung der Rechtsordnung zu sorgen, in die Hände der sozialen Netzwerke. Dieselbe Kritik wird auch am Urheberrechts-Diensteanbieter-Gesetz geübt, das am 1. August 2021 in Kraft getreten ist und den sozialen Netzwerken ähnliche Aufgaben zuweist, um Urheberrechtsverletzungen ihrer Nutzer zu unterbinden.

Auf europäische Ebene wirft der „Digital Services Act“, der über den Inhalt des NetzDG weit hinaus geht und die Regulierung von Plattformen europaweit vereinheitlichen soll, bereits seine Schatten voraus. Die Zukunft des NetzDG ist daher ungewiss. Die Europäische Kommission hat klargestellt, dass die europäische Regelung sämtliche nationalen Vorschriften verdrängen soll. Die vieldiskutierten Änderungen des NetzDG könnten sich daher als kurzlebig erweisen. Doch angesichts der vielen unterschiedlichen nationalen Vorschriften sind einheitliche Regeln für soziale Plattformen, die ihre Dienste in ganz Europa anbieten, nur zu begrüßen.