Der Ökobilanzierer Prof. Dr. Matthias Finkbeiner im Interview

Eine betriebswirtschaftliche Bilanz ist selbstverständliches Handwerkszeug des Rechnungswesens. Wie jedoch erstellt man eine Ökobilanz, also eine Lebenszyklusanalyse der Umweltwirkungen eines Menschen, Produkts oder Unternehmens? Und warum ist das auch für Wirtschaftswissenschaftler wichtig? Fragen an Prof. Dr. Matthias Finkbeiner, der an der TU Berlin zu diesem Thema forscht und vor kurzem die erste Ökobilanz eines Menschen erstellt hat – mit einem bemerkenswerten Ergebnis. Das Interview führte André Boße.

Zur Person

Prof. Dr. Matthias Finkbeiner ist Leiter des Fachgebietes Sustainable Engineering und geschäftsführender Direktor des Instituts für Technischen Umweltschutz an der Technischen Universität Berlin. Er besitzt eine Gastprofessur an der chinesischen Akademie der Wissenschaften. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u.a. die Erforschung von CO2- und Wasser-Fußabdrücken, die Erstellung von Ökobilanzen sowie die Analyse der Ressourceneffizienz. Er war Teil der Jury des Umweltzeichen „Blauer Engel“ und Präsident ISO-Ausschuss für Ökobilanzen. Als Autor schrieb er sechs Bücher zu seinen Forschungsthemen, zudem ist er Chefredakteur der führenden Fachzeitschrift zu Ökobilanzen, dem „International Journal of Life Cycle Assessment“.

Herr Prof. Finkbeiner, der Mensch bevölkert die Erde seit vielen Jahren, warum waren Sie und Ihr Team die ersten, die eine Ökobilanz erstellt haben?
Die Ökobilanz ist methodisch noch recht jung, es gibt sie erst seit den 80er-Jahren. Entwickelt wurden sie für einzelne Produkte oder Unternehmen, um herauszufinden, welche Wirkungen auf die Umwelt sie während ihres gesamten Lebenszyklus haben. Diese Methode auf den Menschen anzuwenden, führte zu ein paar heiklen Fragen. Wie zum Beispiel rechnet man die Kindheit an, sind zum Beispiel die Eltern für die Ökobilanz ihrer Kinder mitverantwortlich? Auch kann es ethisch schwierig werden, die Ökobilanzen von Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenssituation zu vergleichen, zum Beispiel zwischen Leuten in der Stadt und auf dem Land. Da kann es schnell zu einer Vergleichsdebatte kommen, die wenig zielführend ist.

Sie haben die Ökobilanz des Unternehmers, Autors und Rechtanwalts Dirk Gratzel erstellt. Was hat Sie am Ergebnis überrascht?
Das Ausmaß seiner Bilanz und der hohe Anteil der Mobilität. Wir wussten, dass er beruflich bedingt viel unterwegs ist, die absoluten Zahlen haben uns aber schon überrascht.

In den ersten 50 Jahren seines Lebens hat er CO2-Emmissionen in Höhe von 1147 Tonnen verursacht.
Ja, und ich denke schon, dass eine solche Vergegenwärtigung einen kathartischen Effekt hat. Es beginnt das Nachdenken darüber, wohin wir uns bewegen, was wir besitzen, was wir konsumieren.

Es beginnt das Nachdenken darüber, wohin wir uns bewegen, was wir besitzen, was wir konsumieren.

Wäre also doch eine Ökobilanz für jeden sinnvoll?
Das zu fordern, dafür reicht mein Sendungsbewusstsein nicht aus. Zudem kann es nicht jeder so machen, wie es Dirk Gratzel für sein Buchprojekt angegangen ist, das wäre ein zu großer Aufwand. Es gibt zwar im Internet relativ simple Rechner, die einem zumindest ein Grundgefühl für die eigene Bilanz geben. Aber diese Tools vereinfachen schon sehr stark: Fliege ich oder nicht, esse ich Fleisch oder nicht – die Komplexität des Lebens besteht ja eben darin, dass wir meistens zwischen den Ja- und Nein-Antworten stehen. Gut wäre daher eine App, die ein individuelles Tracking erlaubt. Das machen die Leute ja eh andauernd, zum Beispiel beim Sport. Da wäre eine Art Konsum-Tracking eine interessante Ergänzung. Denn: Die Zahlen zu sehen, löst bei dem einen oder anderen sicher etwas aus.

Liegen uns Menschen Bilanzen mehr als normative Appelle?
Ich glaube schon, ja. Ich habe aus dem Bauch heraus eine Sympathie für das moralische Pathos, mit dem zum Beispiel die Diskussion über das Klima geführt wird. Andererseits erreiche ich damit einige Menschen eben nicht. Die machen dicht, weil sie sich moralisch nicht in eine Ecke drängen lassen wollen – mit der Folge, dass sich die Gesellschaft in Gruppen spaltet, die dann gegeneinander agieren. Wir sehen es als Wissenschaftler als unsere Aufgabe an, Zahlen, Daten und Fakten bereitzustellen und das normative Element bewusst außen vor zu lassen. Denn das hilft hoffentlich, dass die Debatte freier und ehrlicher wird.

Inwiefern?
Wenn ich normativ argumentiere und Ihnen sage, Sie dürften kein Fleisch mehr essen oder keine Kurzstreckenflüge mehr buchen, dann lasse ich Sie nicht davonkommen und drücke Ihnen einen bestimmten Lebensstil auf. Eine Bilanz dagegen gibt Ihnen die Möglichkeit, selbstbestimmt an bestimmten Stellschrauben zu drehen. Sie könnten zum Beispiel Ihren Konsum generell reduzieren, oder Sie verzichten auf einige Sachen komplett, behalten anderes aber bei. Bilanzen geben Ihnen also mehr Gestaltungsspieltraum und lassen Raum für Individualität – wobei die Zahlen am Ende ganz nüchtern für sich sprechen.

Welche Rolle spielen Ökobilanzen in Unternehmen?
Hier sind ökologische Bilanzbetrachtungen schon länger etabliert, jedoch nicht so sehr in der Öffentlichkeit: 95 Prozent der Ökobilanzen in Unternehmen dienen primär dem internen Erkenntnisgewinn und werden nicht kommuniziert.

Weil sie so schlecht sind?
Eher, weil sie kompliziert zu kommunizieren sind. Eine Bilanz hat die Aufgabe, das gesamte Bild zu zeigen. Und dieses Bild ist fast nie Schwarz oder Weiß. Hat ein Unternehmen zum Beispiel zehn Umweltwirkungen analysiert, dann ist es häufig so, dass man zwar bei acht davon deutlich besser wird, bei zweien aber Rückschritte macht. Ein solches Ergebnis in einer Kultur zu kommunizieren, die über Twitter-Vereinfachungen funktioniert, ist nicht ganz einfach. Nehmen Sie als Beispiel die Frage, was ökologisch besser ist, ein Verbrenner- oder ein Elektroauto: Die Ökobilanz beantwortet diese Frage nicht mit entweder oder, auch wenn die Öffentlichkeit das gerne so hätte. Die Ökobilanz zeigt, unter welchen Herstellungs-, Nutzungs- oder Recyclingbedingungen die jeweilige Technologie ökologische Vor- oder Nachteile mit sich bringt.

Erkennen Sie, dass die Ökobilanzen der Unternehmen besser werden?
Auf jeden Fall, ja. In den Unternehmen wird seit vielen Jahren gehandelt – übrigens im Rahmen dessen, was wir Konsumenten nachfragen: Unternehmen haben heute in vielen Fällen ökologisch bessere Lösungen, und wie sehr sie diese in den Fokus stellen, liegt vor allem daran, wie gut sie im Markt funktionieren. Aber generell kann ich feststellen: Ja, die Unternehmen können immer noch mehr tun, aber führende Unternehmen sind in manchen Bereichen weiter als die Umweltpolitik.

Ich hielte es für sinnvoll, wenn jeder Wirtschaftswissenschaftler eine Lehrveranstaltung zu dem Thema belegen würde. Der Lerneffekt wäre groß – und er ist auch von Bedeutung, weil früher oder später jeder Wiwi- Absolvent mit diesem Thema konfrontiert werden wird.

Was denken Sie, bekommen Absolvent* innen der Wirtschaftswissenschaften im Studium genug Wissen über die Erstellung von Ökobilanzen mit?
Ich hielte es für sinnvoll, wenn jeder Wirtschaftswissenschaftler eine Lehrveranstaltung zu dem Thema belegen würde. Der Lerneffekt wäre groß – und er ist auch von Bedeutung, weil früher oder später jeder Wiwi-Absolvent mit diesem Thema konfrontiert werden wird. Ein Grundbriefing dafür, wie man ökologische Aspekte grundsätzlich bewertet und selbst Plausibilitätsbetrachtungen anstellt, wäre sinnvoll. Bei uns an der TU Berlin ist diese Lehrveranstaltung freiwillig, und wir merken, dass die Wiwis, die diese Veranstaltung besuchen, erstens Spaß daran haben und zweitens in den Prüfungen auch sehr gut abschneiden.

Was spricht dafür, die Ökobilanz eines Produktes oder einer Dienstleistung offen zu kommunizieren – und was spricht dagegen?
Natürlich ist es wichtig, den Konsumenten mit einer möglichst einfachen Zahl zu erreichen. Auf der anderen Seite ist es kaum machbar, die 10 bis 15 Kriterien, aus denen sich eine Ökobilanz zusammensetzt, lesbar und verständlich auf eine Packung zu bringen. Die Frage ist also, wie stark darf ich vereinfachen oder gewichten? Und da wird es heikel. Aktuell zum Beispiel spielen in der öffentlichen Diskussion Klimathemen eine dominierende Rolle. Kennzahlen zur Artenvielfalt, zur Bodenversauerung oder Wassernutzung haben es dagegen schwerer. Man würde daher dazu neigen, bei einer einfach zu kommunizierenden Ökobilanz der Klimakrise eine große Bedeutung zu geben, anderes dagegen bliebe unter dem Radar.

Haben Sie eigentlich persönlich nach der Erstellung der Ökobilanz von Dirk Gratzel entscheidende Dinge in Ihrem Leben verändert?
Na ja, in Maßen. Nicht so konsequent wie er, da sündige ich doch noch mehr. (lacht) Aber natürlich gibt es bei jeder Ökobilanz, die wir stellen, ob für einen Menschen, ein Unternehmen oder ein Produkt, einen Aha-Effekt. Wir lernen immer was dazu, es wird nie langweilig – und das macht diesen Bereich sehr interessant.

Ökobilanz eines Menschen

cover projekt green zeroDie Geschichte der Ökobilanzschreibung für Unternehmen und Produkte begann in den 80er-Jahren; die erste Ökobilanz eines Menschen folgte fast vier Jahrzehnte später: Als Auftragsarbeit für das Buchprojekt von Dirk Gratzel erstellte das Team von Matthias Finkbeiner die Ökobilanz des Unternehmers. Gratzel schreibt über die Idee, die Bilanz und ihre Auswirkungen in seinem Buch: Dirk Gratzel: Projekt Green Zero. Mein konsequenter Weg zu einer ausgeglichenen Ökobilanz. Ludwig 2020. 18,00 Euro

Megatrends, die den Handel prägen

Der Retail Report des Zukunftsinstituts benennt und erklärt die wichtigsten Trends im Handel. Seine Erläuterungen, Themenschwerpunkte, Tipps, Best Practices und Statistiken zeigen Händler*innen, welche Prinzipien und Modelle in Zukunft Erfolg haben werden. In der aktuellen Ausgabe schrieb Theresa Schleicher über sechs Megatrends, die für die Handelsbranche von besonderer Bedeutung sind. karriereführer- Leser*innen gibt sie einen Einblick. Von Theresa Schleicher

New Work prägt das Paradigma der Kollaboration

Der Megatrend New Work verändert den Handel von innen heraus: Mitarbeiter*innen haben andere Ansprüche an das Arbeitsleben. Die Kreativökonomie löst die rationale Leistungsgesellschaft ab. New Work stellt die Potenzialentfaltung eines jeden einzelnen Menschen in den Mittelpunkt. Das reicht von Pioniergeist im Startup bis zum Hobby Professional. Denn Kreativität passiert nicht einfach am Schreibtisch zwischen 9 und 17 Uhr – Arbeit und Freizeit verschmelzen immer mehr. Work- Life-Blending beschreibt genau diese Trendentwicklung – mit all ihren Vorteilen der Sinnfindung im Job, aber auch den Herausforderungen des Nicht-abschalten-Könnens. Kollaboration in Teams und Organisationen wird großgeschrieben, inzwischen auch über die Unternehmensgrenzen hinweg – Networking ist das A und O von New Work. Der Trend zu Coopetition geht sogar noch einen Schritt weiter und beschreibt die lose Zusammenarbeit mit bzw. Unterstützung von Mitbewerber*innen, um gemeinsam komplexe Probleme zu lösen. Die Plattform-Ökonomie bietet die perfekte Infrastruktur für solche Kooperationen.

Neo-Ökologie sorgt für ein neues Verantwortungsbewusstsein

Der Megatrend Neo-Ökologie stellt die Retail-Branche nicht von heute auf morgen auf den Kopf, sondern manifestierte sich erst in Nischen. Heute kommt das Bewusstsein für nachhaltigen Konsum langsam aber sicher in der Mitte der Gesellschaft an. So zeigt sich z.B. im Luxusmarkt der Trend zu Sustainable Luxury, indem Statussymbole mit ethischem Mehrwert und nachhaltigem Anliegen aufgeladen werden. Doch auch Designobjekte werden immer häufiger recycelt oder upgecycelt und werden somit zum Ausdruck von Zero Waste und dem Denken in Kreisläufen der Circular Economy. Dass Umweltbewusstsein zwar mit dem Wunsch nach Minimalismus verbunden sein kann, jedoch nicht zwingend Verzicht bedeutet, zeigt der Trend zum Blue Commerce: eine Konsumhaltung, die ethisch korrekt und verschwenderisch zugleich ist.

Urbanisierung verdeutlicht: Ohne Handel keine Stadt

Der Megatrend Urbanisierung und der Handel sind seit jeher eng miteinander verwoben. Eine Stadt ohne Orte des Handels wie Ladengeschäfte oder Marktplätze ist kaum vorstellbar, Handel losgelöst von einem Ort allerdings ist längst Realität. Trends wie Local Commerce, AuthentiCity und Hybrid Spaces oder die Renaissance der Straßenmärkte sind kreative Maßnahmen, die Stadt als Handelsplatz wieder attraktiv zu gestalten. Vor allem Klein- und Mittelstädte in Deutschland haben mit der Abwanderung von Händler*innen und Marken aus den Einkaufsstraßen zu kämpfen. Die aktuelle Entwicklung zum ImmoTail zeigt allerdings auch, dass Städte die neuen Zentren der Macht sind: Sie greifen bewusst in die Entwicklung von Handelsstandorten ein, sodass Händler*innen ihre Konzepte nicht mehr losgelöst vom Umfeld denken können. Zugleich trägt dieser Trend zu vielfältigen und differenzierten Vierteln und Straßenzügen bei.

Mobilität löst den Handel von Raum und Zeit

Eng verbunden mit der Urbanisierung ist auch der Megatrend Mobilität, vor allem was die Versorgung in ländlichen Regionen angeht. Aber auch die Letzte-Meile- Lieferung im urbanen Raum verlangt von Handel und Logistik innovative Lösungen, um den städtischen Verkehr nicht unnötig zu belasten und zugleich kundenfreundliche – sprich auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnittene – Lieferungen zu ermöglichen. Der Trend Instant Shopping beschreibt das Bedürfnis der mobilen Nomaden, alles immer und überall zur Verfügung zu haben. Die ungeduldigen Konsument* innen der 24/7-Gesellschaft fordern nicht nur schnelle Reaktionen, sondern ein Shopping in Echtzeit – und dass Produkte zu ihnen dorthin kommen, wo sie gerade einen Zwischenstopp einlegen. Der Trend ist eine Fortschreibung zum Point of Situation: Dieses Konzept beschreibt, wie sich Verkaufsorte den Bedürfnissen der Kund*innen hin zu situativen Konsummöglichkeiten anpassen müssen, indem sie z.B. in Form von Pop-up-Flächen zu den Menschen kommen. Diese Trendphänomene im Handel sind Ausprägungen des Megatrends Mobilität: Menschen erwarten Angebote, die ihren mobilen Lebensstil ansprechen und sie begleiten.

Individualisierung macht den Handel menschlich

Dieser Wunsch nach Lifestyle Services ist zugleich Ausdruck der Individualisierung – ein weiterer Megatrend. Jeder Mensch möchte als Individuum angesprochen werden, die Zeiten des Massenkonsums sind längst vorbei. Sprachen wir vor circa zehn Jahren noch vom Trend zur Mass Customization, also von der individualisierten Massenfertigung, hat sich diese Entwicklung in zahlreichen Bereichen inzwischen durchgesetzt. Made to Measure beschreibt in der Fashionbranche die individuelle Anpassung von Schnittmustern auf die Maße des jeweiligen Menschen, sodass eine optimale Passform gewährleistet wird. Auch der Trend zum Curated Shopping ist Ausdruck des Wunsches nach Individualisierung und Vereinfachung in Zeiten von Überangebot.

RetailReport2021Der nächste Retail Report erscheint Ende 2021.
www.zukunftsinstitut.de

Konnektivität treibt den Handel zu Höchstleistungen

Big Data, Künstliche Intelligenz und Co. ermöglichen inzwischen auch eine hyperpersonalisierte Ansprache durch die Analyse der Kundendaten im Netz – mit all den offenen Fragen und Bedenken hinsichtlich Privatsphäre, Datenschutz und Cybersecurity rund um die digitalen Identitäten. Digitale Disruption ist zum Buzzword geworden und neue Technologien und digitale Innovatoren aus anderen Branchen stellen die Handelswelt auf den Kopf. Genauso schnell herrscht auch Überforderung in Anbetracht all der technologischen Trends, die damit verbunden sind. Omnichanneling ist heute der Mehrheit der Retailer ein Begriff, doch ob man nun in seinem Laden Roboter, dynamische Preise oder Augmented Reality einsetzen, ob man in seinem Online-Shop Voice Commerce anbieten oder doch lieber auf Subscription- Modelle setzen soll, sorgt für Überforderung. Doch dass Künstliche Intelligenz alle Dimensionen des Handels, von der Produktion bis zur Schnittstelle zum Kunden, verändert und auch künftig weiter verändern wird, steht außer Frage.

Redaktionstipp:

Masterstudiengang bereitet auf Handels-Karriere vor

Mit dem Masterstudiengang „Retail and Consumer Management“ bietet die Technische Hochschule Ingolstadt die Möglichkeit, in drei Semestern Kompetenzen u.a. in den Bereichen Strategie, Internationalisierung, Marketingkonzeption, Handels- und Konsumentenmanagement sowie Digitalisierung zu erwerben. Das englischsprachige Programm richtet sich an Studierende mit einem ersten Hochschulabschluss und praktischer Erfahrung im Kompetenzfeld Handel und Konsumenten. www.thi.de

 

„Die größte Mission in einer digitalen Welt: Gefühle zulassen und nutzen.“

Dr. Leon Windscheid, 32 Jahre, ist Psychologe, Unternehmer und Autor. Sein aktuelles Buch über Gefühle ist ein Bestseller, seine Leidenschaft für Psychologie vermittelt er bei Vorträgen, in seinem Live- Programm und in seinen drei Podcasts. Dem Fernsehpublikum wurde Leon Windscheid 2015 bekannt, als er bei Günther Jauchs Sendung „Wer wird Millionär?“ eine Million Euro gewann. Von Kerstin Neurohr

Herr Dr. Windscheid, der Berufseinstieg ist ja mit vielen verschiedenen Gefühlen verbunden: Man freut sich, aber oft sind da auch Angst und Unsicherheit. Wie geht man mit solchen Gefühlen um?
Viele Menschen haben ein unglaublich schlechtes Bild von der Angst. Sie wollen angstfrei leben. Aber gerade junge Menschen erleben oft Zukunftsangst, und da hilft es, sich ganz bewusst die positiven Optionen einer Entscheidung aufzuschreiben, sich zu fragen, was denn auch gut gehen könnte. Also den Spieß bewusst umdrehen, gegen diese Negativität angehen. Wobei es auch wichtig ist, die Angst anzunehmen, man kann auch einen Wert darin sehen. Ein Leben ohne Angst wäre langweilig. Keine Angst zu haben wäre tödlich, weil Angst eben auch ein Schutzmechanismus ist. Es ist normal, dass ich mir Angst, dass ich mir Sorgen mache. Das ist gut, denn es stellt den Fokus scharf.

Redet man überhaupt über Gefühle im beruflichen Kontext?
Meistens nicht – und ich glaube, das ist ein ganz großes Missverständnis in dieser digitalen und technisierten Welt: Dass wir uns messen sollten mit der Künstlichen Intelligenz, die immer besser wird, immer mehr Druck aufbaut, uns immer mehr Leistung abnimmt. Bisher dachte man, da gibt‘s auf der einen Seite das Rationale im Menschen und auf der anderen Seite das Emotionale. Und wir wollen alle das Rationale stringent geradeaus denken, keine Fehler machen. Das ist aber nicht menschlich. Wenn wir eine Zukunft haben wollen in einer digitalen Welt, dann müssen wir anerkennen, was uns wirklich einzigartig macht, was uns für immer von den Maschinen unterscheiden wird: Fühlen. Ein Gefühl wie Leidenschaft kann andere anstecken. Ein Gefühl wie Mut brauche ich, um neue Wege zu gehen. Empathie ist essentiell, um andere Menschen zu verstehen, um in einem großen Kollektiv zu funktionieren. Deswegen ist es ganz, ganz wichtig, dass die Berufswelt nicht mehr als eine betrachtet wird die rein rational sein soll, sondern im Gegenteil: Wir sollten Gefühle zulassen und auch nutzen lernen – das ist die größte Mission in einer digitalen Welt.

Wie zufrieden kann ein Job uns machen, und was trägt zur Zufriedenheit bei?
Ein Job ist ganz, ganz wichtig für uns Menschen und auch für unser Selbstverständnis. Wir haben das in der Coronakrise gesehen: Am Anfang dachten viele, toll, Homeoffice machen, vielleicht auch mehr freihaben, super! Aber ganz schnell spürt man doch, wie wichtig das echte Zusammenkommen ist. Das gibt Struktur. Der Austausch an der Kaffeemaschine – das ist etwas, was ganz wichtig ist. Neben all dem, was man im Beruf ohnehin erleben kann: Dass man sich verwirklichen kann, etwas bewegen kann, Dinge umsetzen kann. So kann ein Job ein ganz großer Beitrag zur Zufriedenheit sein.

Welche Rolle spielt Geld dabei?
Es geht nicht in erster Linie um das Geld. Klar, das Geld muss ungefähr stimmen. Aber Einkommen macht ab einem gewissen Punkt nicht immer mehr zufrieden. Wer nur dem Geld hinterherrennt, oder externen Faktoren wie Firmenwagen und Prestige, der untergräbt, dass eine Zufriedenheit aus ihm selbst heraus entsteht. Ich empfehle, immer mehrere Facetten zu betrachten, wenn man danach fragt, was einem der Job gibt. Passt das so grundsätzlich zu meiner Mission? Bin ich vielleicht jemand, der ökologisch leben möchte – und macht diese Firma das? Bin ich jemand, dem Diversity und Vielfalt wichtig ist – und setzt diese Firma das um? Wenn das nicht gegeben ist, kann der Job nicht wirklich zufrieden machen. Man sollte immer prüfen, ob man sich selbst verwirklichen kann. Unser Selbst möchte wachsen, sich weiterentwickeln. Das sollten wir versuchen einzufordern.

cover besser fühlenLeon Windscheid: Besser fühlen. Eine Reise zur Gelassenheit. Rowohlt 2021. 16,00 Euro Im Herbst geht Leon Windscheid mit seinem Programm „Altes Hirn, neue Welt“ auf Tour. Infos und Termine: www.leonwindscheid.de

Business-Smoothie: Kultur-, Buch- und Linktipps

Plädoyer für eine Weiterentwicklung der europäischen Verfassung

Globalisierung, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und der Klimawandel stellen unsere Gesellschaft vor neue Herausforderungen und schaffen Handlungsbedarf. Mit „Jeder Mensch“ gibt Ferdinand von Schirach den Anstoß zu einer Ergänzung der EU-Grundrechtecharta. Er ruft dazu auf, eine „gesellschaftliche Utopie“ zu wagen, um auf die derzeitigen Entwicklungen in Europa und der Welt zu reagieren. Prominente Personen aus der Umweltbewegung, der Wirtschaft und dem Recht unterstützen die Idee bereits, auf www.jeder-mensch.eu kann man dies ebenfalls tun. Ferdinand von Schirach: Jeder Mensch. Luchterhand 2021. 5,00 Euro.

Podcast über das Innenleben im digitalen Zeitalter

„Being Underwater“ ist ein Podcast der Sozialunternehmerin und Anthropologin Joana Breidenbach, die auch das Buch „New Work needs Inner Work“ geschrieben hat. Sie spricht mit unterschiedlichsten Gästen, wobei es ihr darum geht, unsere Beziehung zur Technologie zu definieren, anstatt uns von der Technologie definieren zu lassen.

Thriller: Wer das Geld hat, hat die Macht.

Cover Monte CryptoWo ist das Vermögen von Gregory Hollister? Als der spleenige Start-up-Unternehmer bei einem Unfall ums Leben kommt, beginnt die Suche nach dem digitalen Schatz. Mehrere Millionen soll Hollister in der Kryptowährung Bitcoin angelegt haben – doch das Geld ist gut versteckt. Der Privatdetektiv Ed Dante macht sich auf die Suche und stellt schnell fest, dass auch noch andere hinter dem verschwundenen Geld her sind… Warum interessieren sich ausländische Geheimdienste, das FBI und die Mafia für den Schatz? Geht es um einen Finanzskandal, der die gesamte Weltwirtschaft in den Abgrund reißen könnte? Ein raffinierter literarischer Thriller über die neue internationale Finanzwirtschaft., hochspannend und aktuell. Tom Hillenbrand: Montecrypto. KiWi 2021. 16,00 Euro

Entspannt durch den Job-Alltag

Cover Stark trotz StressFür diesen Ratgeber haben sich fünf Frauen zusammengetan, die vielfältige Management-Erfahrung mitbringen und als Coachin oder Therapeutin tätig sind. Sie zeigen Strategien, mit denen es gelingt, trotz erhöhter Anforderungen im Alltag dauerhaft entspannt zu bleiben, die Energie-Akkus rechtzeitig wieder aufzuladen und nach Feierabend richtig abzuschalten. Sie erklären, warum Pausen so wichtig sind, wie man sich im Urlaub am besten erholt und warum Perfektionismus zur Karrierebremse werden kann. Vera Heim / Gabriele Lindemann u.a.: Stark trotz Stress. Gelassenheit finden und Kraft tanken im Job. Haufe 2021. 19,95 Euro

„Ihr werdet es einmal schlechter haben!“

Cover Working ClassSich Wohlstand aus eigener Kraft zu erarbeiten ist schwieriger geworden, insbesondere für die, die heute unter 45 sind. Die Hälfte von ihnen fürchtet, im Alter arm zu sein. Was sind die Ursachen für diesen großen gesellschaftlichen Umbruch? Julia Friedrichs hat Wissenschaftler*innen, Expert*innen und Politiker*innen befragt. Und sie hat Menschen begleitet, die dachten, dass Arbeit sie durchs Leben trägt, die reinigen, unterrichten, Tag für Tag ins Büro gehen und merken, dass es doch nicht reicht. Julia Friedrichs: Working Class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können. Berlin Verlag 2021. 22,00 Euro.

Energie statt dauernder Müdigkeit

Cover EnergySich immer müde und erschöpft zu fühlen – das kennen auch viele Studierende und Berufseinsteiger*innen. Das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, dass man ein Leben auf Sparflamme führt, kann zermürbend sein. Dr. Anne Fleck, Ärztin für Präventiv- und Ernährungsmedizin, geht der Sache auf den Grund und erklärt, welche verborgenen Ursachen hinter ständiger Müdigkeit, Infektanfälligkeit und bisher unerklärlichen Beschwerden stecken können. Mit einem speziellen Programm zeigt sie Auswege: Dabei geht es darum, die Kraft der richtigen Ernährung zu nutzen, den individuell passenden Rhythmus zu finden, und das Immunsystem zu stärken. Anne Fleck: Energy! Der gesunde Weg aus dem Müdigkeitslabyrinth. dtv 2021. 25,00 Euro. Mit 30-Tage-Selbsthilfeprogramm

Zerreißt der radikale Individualismus unsere Gesellschaft?

Cover das ende der gierWarum werden die demokratischen Gesellschaften der westlichen Welt in ihrem Kern immer weiter ausgehöhlt? Und wie war es möglich, dass unter dem Firnis der Demokratie Extremismus und Populismus gedeihen? Danach fragen die beiden weltweit renommierten britischen Ökonomen Paul Collier und John Kay in ihrem Debattenbuch. Sie führen vor, wohin die Gier des Einzelnen führen kann – und was politisch geschehen muss, um das Auseinanderbrechen der Gesellschaft zu verhindern. Paul Collier, John Kay: Das Ende der Gier. Wie der Individualismus unsere Gesellschaft zerreißt und warum die Politik wieder dem Zusammenhalt dienen muss. Siedler 2021. 24,00 Euro

Theater im Stream: Cum-Ex Papers

CUM-EX-PAPERS, Bild: Anja Beutler
CUM-EX-PAPERS, Bild: Anja Beutler

Im Stile eines Wirtschaftsthrillers bringt das Theaterstück CUM-EX PAPERS von Regisseur Helge Schmidt den vermutlich komplexesten Finanzskandal der Jetztzeit auf die Bühne. Investoren und Banken bereichern sich mit phantasievollen Steuertricks auf Kosten des Sozialwesens. Mit welcher Rechtfertigung lehnen sie eine Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft ab? Wer empört sich darüber? Warum liegt die Strafverfolgung weit hinter den Tricksern zurück? Ein Jahr recherchierten Journalist*innen aus zwölf Ländern im Verborgenen, das Theaterteam durfte den journalistischen Prozess begleiten. Cum-Ex Papers – Eine Recherche zum entfesselten Finanzwesen. Stream auf www.spectyou.com, abrufbar zum selbst gewählten Preis ab 3,00 Euro.

Das letzte Wort hat: Dr. Niels Müller-Wickop, Gründer JoinMyTrip

Dr. Niels Müller-Wickop hat nach einer Weltreise sein berufliches Leben radikal verändert: In der Zeit vor Corona war er mit seiner Freundin auf Weltreise – fast ein ganzes Jahr lang. Eine großartige Erfahrung, die sein Leben grundlegend verändert hat: Danach hatte er keine Lust mehr auf seinen Job als Vorstandsassistent. Viel lieber wollte er auch anderen ermöglichen, authentisch zu reisen. Deshalb gründete er eine Plattform, auf der Solo-Reisende passende Gefährt*innen finden und Globetrotter*innen Reisen für Gruppen organisieren. Die Idee schlug ein, Investor*innen gaben Kapital, und nach zwei Jahren hatte das Unternehmen mehr als 100.000 Nutzer aus 17 Ländern. Doch dann kamen Corona und der Branchen-Crash … Das Interview führte Kerstin Neurohr.

Dr. Niels Müller-Wickop, Foto: JoinMyTrip
Dr. Niels Müller-Wickop, Foto: JoinMyTrip

Herr Dr. Müller-Wickop, wie haben Sie als Gründer eines Reise-Start-ups die Coronakrise erlebt?
Als Unternehmen der Reisebranche hat uns die Coronakrise hart getroffen, das lässt sich nicht schönreden. Wir starteten gerade richtig durch, unsere Nutzerzahlen wuchsen stetig an. Dann plötzlich vor einer so unerwarteten Krise zu stehen, die die gesamte Branche betrifft, war wirklich hart. Doch mir wurde das Optimisten-Gen in die Wiege gelegt und ich habe mich früh in Resilienz geübt. Nachdem wir den ersten Schockmoment verdaut hatten, haben wir das Team (virtuell) zusammengetrommelt und uns einen Fahrplan überlegt: Was können wir jetzt machen? Wie müssen wir uns in der Krise anpassen?

Und wie sah der Fahrplan aus?
Wir haben in zwei Stoßrichtungen gedacht: Erstens, wie wir uns für den Ansturm nach der Pandemie rüsten können, wenn der Reisehunger der Menschen groß sein wird. Und zweitens, wie wir unser Angebot kurzfristig anpassen können. Da nur noch sehr wenige Menschen zu ihrem Privatvergnügen verreist sind, brauchten wir eine Alternative. Und diese fanden wir in Co-Working- und Co-Study-Trips: Also einmal in einen Flieger zu steigen, um Homeoffice oder Online-Vorlesungen an einen anderen, sicheren Ort zu verlegen, der mit gutem Wetter punkten kann.

Und wie geht’s jetzt weiter?
Die Zeit des Lockdowns haben wir genutzt, um eine Reihe neuer Features zu implementieren. Darüber hinaus werden wir wieder verstärkt international expandieren. Erste Testläufe Anfang letzten Jahres haben gezeigt, dass unser Konzept weltweit begeistert, und das wollen wir natürlich nutzen.

Informationen

www.joinmytrip.com

Was nehmen Sie aus der Krise mit?
Ich denke, die Krise hat uns als Team und als Unternehmen noch stärker gemacht. Und der Support unserer Community war riesig. Das hat unserem Selbstvertrauen einen ordentlichen Push verliehen und uns gezeigt, warum wir unseren Job so lieben. Und das kann ich auch allen Berufseinsteiger*innen mit auf den Weg geben: Eure Einstellung bestimmt euren Weg. Wer Gipfel erklimmen will, muss Täler durchqueren, und das ist nicht immer einfach. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass diejenigen, die ihr Ziel klar vor Augen haben, dieses immer erreichen werden.

karriereführer naturwissenschaften 2021.2022 – Risiken reduzieren: Analysen und Lösungen aus den Naturwissenschaften

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Risiken reduzieren: Analysen und Lösungen aus den Naturwissenschaften

Klimakrise und Pandemie zeigen: Die Weltgesellschaft baut auf Analysen und Lösungen aus den Naturwissenschaften. Nachwuchskräfte sind in einem beruflichen Umfeld tätig, in dem innovatives Denken und digitale Methoden zur Voraussetzung werden, um den hohen Erwartungen gerecht zu werden. Zentral wird dabei auch der Dialog mit der Öffentlichkeit: Je drängender die Themen sind, desto zentraler wird die Kommunikation. Auch, um Falschmeldungen etwas entgegenzusetzen.

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Risiken reduzieren

Klimakrise und Pandemie zeigen: Die Weltgesellschaft baut auf Analysen und Lösungen aus den Naturwissenschaften. Nachwuchskräfte sind in einem beruflichen Umfeld tätig, in dem innovatives Denken und digitale Methoden zur Voraussetzung werden, um den hohen Erwartungen gerecht zu werden. Zentral wird dabei auch der Dialog mit der Öffentlichkeit: Je drängender die Themen sind, desto zentraler wird die Kommunikation. Auch, um Falschmeldungen etwas entgegenzusetzen. Von André Boße

Wenn das Zukunftsinstitut, eine Denkfabrik gegründet vom Trendforscher Matthias Horx, seine Prognosen trifft, dann auf Basis von „Megatrends“. Gemeint sind „Lawinen in Zeitlupe“, wie das Zukunftsinstitut es auf seiner Website beschreibt: „Dieses Bild beschreibt Megatrends ganz gut, denn Megatrends entwickeln sich zwar langsam, sind aber enorm mächtig. Sie wirken auf allen Ebenen der Gesellschaft und beeinflussen so Unternehmen, Institutionen und Individuen.“ Bleibt man bei diesem Bild, dann hat die Pandemie mit ihren vielfältigen Folge- und Nebenerscheinungen die Dynamik dieser „Lawinen in Zeitlupe“ verändert. Einigen hat sie einen Temposchub gegeben, insbesondere der Digitalisierung. Anderen hat sie einen Backlash gegeben.

In ihrem Beitrag „Megatrends 2021: Zeit für eine Revision“, zu finden auf der Website des Zukunftsinstituts, nennen die Trendforscher zum Beispiel den Megatrend „Silver Society“. Er basiert auf der Tatsache, dass die Menschen nicht nur älter werden, sondern auch länger gesund leben. Daraus hat sich eine „völlig neue Lebensphase im letzten Drittel des Lebens“ abgeleitet, die auf Vitalität und Selbstentfaltung basiert – „Abschied von Jugendwahn und eine grundlegende Umdeutung von Alter und Altern“ inklusive. Dann der Covid-19-Backlash: Das Alter wurde zum Indikator für höheres Risiko, aus „Silver Agern“ wurden „Risikogruppen“. Was zum Beispiel für die forschende Pharmabranche bedeutete, dass die Forschung an lebensrettenden Medikamenten in den Fokus rückte – Lebensoptimierungspräparate dagegen zwischenzeitlich an Bedeutung verloren.

Gefragt in Talkshows

Ein weiterer Megatrend, den die Pandemie vor Herausforderungen stellt, ist die „Wissenskultur“: „Die Welt wird schlauer“, stellen die Forscher vom Zukunftsinstitut fest. „Die Wissenschaft nimmt einen höheren Stellenwert in der Gesellschaft ein.“ Festmachen lässt sich das an einer Analyse der Besetzung von Gesprächsrunden im Fernsehen: „Die Talkshow-Gesellschaft“ lautet der Titel einer Studie der Berliner Innovations-Denkfabrik „Das Progressive Zentrum“. Die Untersuchung aus dem Herbst 2020 zeigt, dass vor Corona Gäste aus dem Bereich Wissenschaft einen Anteil von 8,8 Prozent hatten, während der Pandemie stieg dieser auf 26,5 Prozent. Insbesondere Naturwissenschaftler*innen waren gefragt, weil sie mit ihrem Wissen ein echtes Informationsbedürfnis stillen konnten und zwar sowohl bezogen auf die Frage, was ist hier eigentlich los, als auch darauf, was aus alldem folgen wird.

Die Welt wird schlauer. Die Wissenschaft nimmt einen höheren Stellenwert in der Gesellschaft ein.

Steht die Naturwissenschaft im Fokus der Öffentlichkeit – und das tut sie nicht nur beim Thema Corona, sondern auch in der Klimakrise – ergibt sich ein bedeutsamer Nebeneffekt, den das Zukunftsinstitut wie folgt beschreibt: „Die Vergesellschaftung des Wissens schreitet voran.“ Wissen, so die Trendforscher, verliert damit seinen elitären Charakter, wird zum Gemeingut. Ein Symptom dieser Entwicklung: Im Zuge der Pandemie bestand die Bundesrepublik aus Millionen Hobby- Epidemiolog*innen, von denen die meisten mindestens so gut über das Virus Bescheid wussten wie die tatsächlichen Expert*innen. Was direkt zur nächsten Problematik führt: Wird Wissen zum Gemeingut, gerät, so formulieren es die Trendforscher, „der Geltungsanspruch von Wissen, Fakten und Wahrheit unter Beschuss“. Auf die „Fake News“ folgte ein Begriff wie „Alt Science“: von einer „alternativen Wissenschaft“ also, die das Zukunftsinstitut als „Theoriegebäude zu bestimmten Themen, abseits von Wissenschaftlichkeit, Beweisbarkeit oder Logik“ definiert.

Komplexität beherrschbar machen

Was bedeuten diese Entwicklungen für den naturwissenschaftlichen Nachwuchs? Für junge Menschen, die in Unternehmen oder Forschungseinrichtungen in die Karriere einsteigen? Die Trendforscher vom Zukunftsinstitut glauben, dass die Ansprüche sich verlagern werden „hin zum Lifelong Learning, zur Vermittlung von Methoden und zu den Soft Skills“. Insbesondere Themen wie Kommunikation und Netzwerke werden immer wichtiger. Großes Potenzial gibt es an den Schnittstellen zwischen der Wissenschaft und anderen professionellen Umfeldern – dort also, wo naturwissenschaftliches Know-how zu Produkten, Anwendungen und Services führt, die von anderen Akteuren genutzt werden können. Auch hier hat die Pandemie gezeigt, wie wichtig solche Entwicklungen sind, und auch die Maßnahmen im Kampf gegen die Klimakrise werden zeigen, dass naturwissenschaftliche Innovationen mit gesellschaftlichem Mehrwert weiter an Bedeutung gewinnen werden.

„Risikogesellschaft“

cover risikogesellschaftDer Soziologe Ulrich Beck hat sein wegweisendes Buch „Risikogesellschaft“ im Jahr 1986 geschrieben. Das Werk hat also einige Jahre auf dem Buckel, scheint heute aber aktueller denn je: Beck schreibt zum Beispiel über „naturwissenschaftliche Schadstoffverteilungen“ und meint damit, dass Ereignisse, die früher lokal bedrohlich wirkten, heute globale Folgen haben. 1986 dachte er an den Reaktorunfall in Tschernobyl, heute bietet die Pandemie das beste Beispiel. Beck analysiert die zentrale Rolle der Medien, die die Wahrnehmung der Krise prägen, und beschreibt den paradoxen Effekt, dass aus der permanenten Zunahme von Risiken eine Gleichgültigkeit erwächst: „Wo sich alles in Gefährdungen verwandelt, ist irgendwie auch nichts mehr gefährlich.“ Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp 1986.

Ein Beispiel für eine solche Entwicklung ist CovRadar, eine Plattform zur kontinuierlichen Überwachung von SARS-CoV-2-Mutationen. Entwickelt wurde sie von Wissenschaftler* innen des Hasso-Plattner-Instituts (HPI), des Robert-Koch-Instituts (RKI), des Europäischen Virus-Bioinformatik- Instituts (EVBC) sowie der Medizinischen Hochschule Hannover. Laut einer Pressemitteilung des HPI verbindet die interaktive Plattform Analyseprozesse mit einer Web-Anwendung, um eine Million Sequenzen visualisieren und analysieren zu können – immer auf der Suche nach Virus-Mutationen, von denen eine Gefahr ausgeht, weil sie ansteckender sind oder weil sie als Virus-Escape-Varianten gelten, bei denen die Impfstoffe nur begrenzt wirken.

Die IT-getriebenen naturwissenschaftlichen Prozesse der Analyse sind überaus komplex, die Anwendung ist genau dies nicht, verspricht das HPI in der Pressemeldung: „Die Ergebnisse werden in einer interaktiven PDF-ähnlichen App präsentiert, die eine schnelle, einfache, exportierbare und flexible Auswertung ermöglicht.“ Eine interaktive Deutschlandkarte macht es möglich, die Verbreitung von Varianten in den verschiedenen Regionen zu betrachten. „Unser Ziel ist es, Sequenzinformationen über die neue Plattform CovRadar leichter und nutzerfreundlicher zugänglich zu machen, insbesondere für Virologen und Epidemiologen sowie den Krisenstab des RKI, damit wir notfalls sehr schnell auf Mutationen reagieren können“, wird Prof. Dr. Bernhard Renard, Leiter des Lehrstuhls Data Analytics & Computational Statistics und des CovRadar-Projekts am Hasso- Plattner-Institut (HPI), in der Pressemitteilung zitiert.

Klimakrise ist für Ökonomen das Top-Risiko

Was Naturwissenschaftler*innen leisten: Sie helfen dabei, Risiken zu reduzieren. Und diese Kernkompetenz ist in einer Gesellschaft, die lernen muss, mit neuen Risiken zu leben, besonders gefragt. Die Trendforscher vom Zukunftsinstitut erklären „Sicherheit“ zu einem Megatrend, gemeint ist das Sicherheitsbedürfnis jedes Einzelnen, aber auch der Unternehmen. So fragt das Weltwirtschaftsforum in jedem Jahr die ökonomischen Leader nach ihren Top-Risiken. Früher standen in diesem Ranking ökonomische Probleme auf den obersten Rängen, Schuldenkrisen oder Handelskriege. In der aktuellen Liste belegen drei ökologische Risiken die Plätze eins bis drei: eine verfehlte Klimapolitik, der Verlust der Biodiversität sowie Extremwetterereignisse. Bei der Lösung ökonomischer Krisen waren die Wirtschaftswissenschaftler gefragt. Um ökologische Probleme zu bewältigen, benötigt die Wirtschaft nun jedoch Hilfe aus anderen Disziplinen, allen voran das Knowhow der Naturwissenschaftler*innen, die sich darauf verstehen, die Erderwärmung zu analysieren, zu prognostizieren – und schließlich Lösungen zu entwickeln.

Chemie: Immer mehr Start-ups setzen auf Nachhaltigkeit

Neu gegründete Unternehmen aus der Chemie-Branche setzen verstärkt auf nachhaltige Geschäftsmodelle. Das zeigt eine Studie des Centers für Wirtschaftspolitische Studien (CWS) der Universität Hannover und des ZEW Mannheim im Auftrag des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI). Von den insgesamt 308 in Deutschland wirtschaftenden Chemie-Start-ups bieten laut Pressemitteilung zur Studienveröffentlichung 72 Unternehmen Produkte oder Dienstleistungen mit Fokus auf Nachhaltigkeit an.“ Die meisten dieser Unternehmen wurden in den vergangenen sechs Jahren gegründet“, formulieren die Studienautoren. So lässt sich vermuten, dass sich der Nachhaltigkeitstrend bei den Chemie-Start-ups fortsetzen wird.

Für Naturwissenschaftler*innen ergeben sich dadurch Arbeitsumfelder, in denen innovatives und kundenzentriertes Denken zentral ist. In der Biotechnologie zum Beispiel wird an Nahrungspflanzen geforscht, die dem Klimawandel trotzen, weil sie Hitze und lange Dürreperioden aushalten. Die chemische Industrie versteht sich als Zulieferer bedeutsamer Lösungen für die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft in Richtung Nachhaltigkeit.

„Der Hebel, mit Innovationen positiv auf Klimaschutz und Nachhaltigkeit zu wirken, ist in der chemischen Industrie sehr groß“, erklärt Christian Rammer, Wissenschaftler am „ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung“ in Mannheim, in einer Pressemeldung zur Studie „Innovationsindikatoren Chemie 2020“. Jedes vierte Unternehmen aus der Chemiebranche entwickele laut Untersuchung innovative Lösungen auf den Gebieten Klima, Umwelt, Nachhaltigkeit – eine höhere Quote besitze nur der Maschinenbau, stellt die Studie fest. Den Stellenwert des Themas zeige auch der Blick auf die Patente: „So hat sich der Anteil der angemeldeten Klimaschutzpatente in der deutschen Chemieindustrie zwischen 2005 und 2016 von 7,4 auf 13,5 Prozent nahezu verdoppelt“, schreiben die Studienautor* innen. Auch augenfällig: „Von insgesamt 308 aktiven Chemie-Start-ups bieten 72 entsprechende Produkte oder Dienstleistungen an. Die meisten dieser Unternehmen wurden in den vergangenen sechs Jahren gegründet.“

Pharma: Die Welt wartet auf Lösungen

Eine große Rolle als Risikoreduziererin spielt die Pharmaindustrie. Ihren Unternehmen ist es gelungen, in Rekordzeit wirksame Impfstoffe gegen das neue Virus zu entwickeln. Wie dramatisch wäre unsere Lage heute, wenn dies nicht oder auch nur in einem langsameren, sprich normalen Tempo gelungen wäre? Was sich bei diesem Thema aber auch zeigt: Die Sache ist komplex. Nicht alle Entwicklungen funktionierten. Und kaum wurde die Wirksamkeit bewiesen, stieg die Erwartung an die Unternehmen, doch bitte von jetzt auf gleich Millionen von Menschen zu versorgen. Die Pharmabranche erkannte, wie wichtig naturwissenschaftliche Kommunikation ist – und wie stark der Erfolg der Innovationsleistung von anderen Systemen abhängt, von der Politik, den Medien, dem Grad der Digitalisierung und der öffentlichen Wahrnehmung.

Die Pharmabranche erkannte, wie wichtig naturwissenschaftliche Kommunikation ist – und wie stark der Erfolg der Innovationsleistung von anderen Systemen abhängt, von der Politik, den Medien, dem Grad der Digitalisierung und der öffentlichen Wahrnehmung.

Das Zukunftsinstitut schreibt in diesem Zusammenhang von einem „neuen holistischen Gesundheitsbewusstsein“: „Bei Gesundheit geht es künftig immer weniger um die kleinteilige Betrachtung eines Individuums oder gar eines spezifischen Leidens, sondern sie wird ganzheitlicher betrachtet: Ein bestimmtes Symptom lässt sich nicht losgelöst vom restlichen Körper betrachten und der Körper nicht losgelöst von dem psychischen Empfinden des Individuums, seinen Verhaltensmustern, seinem Lebensstil, seinen Gewohnheiten, seiner sozialen Eingebundenheit, seiner Arbeitsumgebung und seiner Umwelt“, beschreiben die Trendforscher. Der Weg geht vom Symptom zum Kontext. Pharma besitzt dabei fraglos eine Schlüsselrolle, jedoch wird die Komplexität weiter steigen – zumal mit Blick auf individualisierte Präparate aus 3D-Druckern.

Alle diese Entwicklungen zeigen: Naturwissenschaftler* innen rücken in den Fokus. Mit Blick auf die herausfordernden Krisen benötigt die globale Gesellschaft ihre Lösungen. Mehr noch: Sie erwartet diese sogar und bewertet diese kritisch. Wobei wissenschaftsfeindliche Gegenbewegungen diese Lösungen bewusst torpedieren wollen. Das Arbeitsumfeld von Naturwissenschaftler*innen ist also komplex. Aber auch hochspannend. Wobei eines sicher ist: Wer hier tätig ist, wird sich die Frage nach dem Sinn der Arbeit so schnell nicht stellen.

Studie: Pharma-Unternehmen gelten verstärkt als Innovationsvorreiter

Für die Studie „The Most Innovative Companies 2021 – Overcoming the Readiness Gap“ hat die Strategieberatung Boston Consulting Group (BCG) weltweit rund 1600 Innovationsmanager gefragt. Das Ergebnis: „Jedes fünfte der weltweit 50 Unternehmen, die als Vorreiter in Sachen Innovation wahrgenommen werden, kommt aus der Pharma- oder Medizintechnikbranche. Damit hat sich ihre Anzahl im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt“, heißt es in der Pressemeldung zur Studie aus dem April dieses Jahres. „Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass Innovation auch in kurzer Zeit und unter schwierigen Bedingungen möglich ist“, wird Johann Harnoss, Associate Director bei BCG und Autor der Studie, zitiert.

Der „analytische Denker“ Dr. Anno Borkowsky im Interview

Als Mitglied des Vorstands der LANXESS AG ist Dr. Anno Borkowsky verantwortlich für das Segment Special Additives. Was genau sein Bereich entwickelt und welche Rolle dabei naturwissenschaftliche Fachkräfte einnehmen, berichtet er im Interview – und erklärt, an welchen Stellen seine Expertise als promovierter Chemiker im Vorstand des Konzerns gefragt ist. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Dr. Anno Borkowsky wurde 1959 in Köln geboren. Nach seinem Abschluss als Biologisch- Technischer Assistent studierte er Chemie an der Universität zu Köln, wo er 1989 promovierte. Danach stieg Borkowsky bei der Bayer AG in Leverkusen als Bereichsleiter ein. Im September 1995 wechselte er als Betriebsleiter zur Bayer Corp. nach Orange, Texas, USA. 1999 startete er als Technischer Geschäftsführer bei der Rhein Chemie Rheinau GmbH, damals eine Tochtergesellschaft der Bayer AG, deren alleiniger Geschäftsführer er 2002 wurde. Er übernahm als CEO die weltweite Verantwortung für die Rhein Chemie Gruppe. Mit der Gründung von LANXESS im Jahr 2004 wurde Rhein Chemie Teil des Spezialchemie-Konzerns. Im Januar 2015 übernahm Borkowsky die weltweite Leitung des neu gegründeten Geschäftsbereichs Rhein Chemie Additives. 2019 wurde er zum Mitglied des LANXESS-Vorstands bestellt. Dort ist er verantwortlich für das Segment Specialty Additives. Anno Borkowsky ist verheiratet und hat drei Kinder.

Herr Dr. Borkowsky, Sie haben nach Ihrer Uni-Zeit Ende der 1980er-, Anfang der 90er-Jahre Ihre Laufbahn in der Chemie begonnen. Wann haben Sie für sich zum ersten Mal mit großer Sicherheit feststellen dürfen: „In dieser Branche bin ich richtig?“
Das habe ich sehr schnell gemerkt. Mir gefiel es direkt, dass man in der Chemie nicht in einem Silo – also nur in seiner Abteilung – arbeitet, sondern sich mit allen Bereichen austauscht. Ein Produkt in der Forschung zu entwickeln, reicht eben nicht. Zunächst finden wir gemeinsam mit dem Marketing heraus, ob überhaupt ein Markt für das Produkt vorhanden ist. Dann gestalten wir es kundenspezifisch mit der Anwendungstechnik aus. Anschließend muss mit der Produktion geprüft werden, wie man es am geeignetsten herstellen kann. Und schließlich arbeiten wir mit dem Vertrieb daran, den besten Weg zu den potenziellen Kunden zu finden. Dieser bereichsübergreifende Austausch ist spannend und macht die Chemie aus meiner Sicht einzigartig.

Mit Blick auf den Arbeitsalltag: Was war damals noch vollkommen anders, als es sich heute darstellt?
In den vergangenen 30 Jahren hat sich viel Positives getan. Zum Beispiel hat sich die technische Ausstattung stark weiterentwickelt, was die Arbeit im Labor heute einfacher macht – auch weil viel mehr automatisiert und digitalisiert abläuft. Das erfordert natürlich ganz andere Fähigkeiten bei den Mitarbeitenden. Besonders spannend finde ich außerdem, dass die Themen Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft stark an Bedeutung gewonnen haben. Daraus ergibt sich ein neues interessantes Aufgabenspektrum.

Im Vorstand verantworten Sie das Segment Special Additives. Wenn ein Kind Sie fragen würde: Was genau stellen Sie da eigentlich her, welche sehr einfache Antwort würden Sie geben?
Ein Additiv ist ein Zusatzstoff, der einem Produkt eine bestimmte Eigenschaft verleiht oder eine unerwünschte Eigenschaft unterdrückt. Es kann zum Beispiel Autoreifen elastisch und geschmeidig machen oder Getriebeöl länger haltbar. Es kann aber auch dafür sorgen, dass Material nicht so schnell brennt, zum Beispiel Dämmstoffe. Additive werden nur in kleinen Mengen zum Produkt dazugegeben, besitzen aber eine große Wirkung. Sie sind damit die heimlichen Stars der Chemie.

Welche Job-Profile für Naturwissenschaftler* innen bietet dieser Bereich?
Die meisten Möglichkeiten gibt es sicherlich im Bereich Forschung und Entwicklung sowie in der Anwendungstechnik. Unsere Geschäftsbereiche verantworten jeweils ihre Produktforschung selbst, die sich eng an den Kundenbedürfnissen orientiert. Darüber hinaus haben wir eine zentrale Prozessforschung, dort arbeiten wir zum Beispiel daran, unseren Rohstoff- und Energieeinsatz zu optimieren. Auch direkt in unseren Produktionsbetrieben ist es natürlich für Chemiker spannend, zum Beispiel in der Betriebsleitung. Naturwissenschaftler können ihre Expertise aber auch im Marketing einsetzen, besonders wenn sie Spaß haben, mit Kunden zusammenzuarbeiten. Oder sie entwickeln mit uns neue Strategien für unser Geschäft und unsere Produkte im Corporate Development.

In der Produktentwicklung setzen wir immer häufiger Künstliche Intelligenz ein, um etwa die Entwicklungszeit für Rezepturen deutlich zu verkürzen. Das sind Projekte, bei denen Chemiker, Ingenieure und Datenwissenschaftler zusammenarbeiten.

Auf welche Fähigkeiten kommt es an, um in diesem Segment Karriere zu machen?
Fachkenntnisse und analytische Fähigkeiten setze ich bei Naturwissenschaftlern eigentlich voraus. Eine große Herausforderung ist heute vielmehr, dass mehr und mehr Projekte bereichsübergreifend stattfinden. Ich nenne mal ein Beispiel: In der Produktentwicklung setzen wir immer häufiger Künstliche Intelligenz ein, um etwa die Entwicklungszeit für Rezepturen deutlich zu verkürzen. Das sind Projekte, bei denen Chemiker, Ingenieure und Datenwissenschaftler zusammenarbeiten. Es kommt also darauf an, im Team mit unterschiedlichsten Personen und Charakteren zusammenzuarbeiten und als Team eine gemeinsame Lösung zu entwickeln.

Als Biologisch-Technischer Assistent und Chemiker haben Sie viel Zeit in Laboren verbracht. Als Vorstand werden Sie kaum noch Zeit dafür finden. Was vermissen Sie an diesen forschenden Tätigkeiten besonders?
Ich stand tatsächlich nie besonders gerne im Labor. Aber das ist ja das Schöne als Naturwissenschaftler: Mir stehen einige Türen offen, weil ich in vielen Bereichen arbeiten kann.

Und wo sehen Sie als Chemiker Ihre besondere Qualität im Vorstand?
Unsere Produkte sind die Basis unseres Erfolgs. Die Kompetenz, zu verstehen, wie diese funktionieren und wie man sie weiterentwickeln kann, gehört meines Erachtens in den Vorstand eines Chemiekonzerns. Als Chemiker lernt man, analytisch zu denken. Und das hilft mir heute, Prozesse und Anwendungen zu verstehen, aber auch das Potenzial von Geschäften richtig einzuordnen.

Mit Blick auf die Entwicklungen in Ihrem Segment, welche Rolle spielt hier die Digitalisierung, welche ganz neuen Entwicklungen werden durch digitale Innovationen ermöglicht?
Die Digitalisierung eröffnet ganz neue Möglichkeiten für uns. Wir sind zum Beispiel dabei, unsere Anlagen weltweit mit Technologien zur Datenanalyse auszurüsten. In einem unserer Betriebe im Geschäftsbereich Polymer Additives haben wir darauf aufsetzend kürzlich ein Projekt umgesetzt: Chemiker und Ingenieure haben ein Programm entwickelt, das die Daten aus dem Prozessleitsystem erfasst und produktionsrelevante Parameter berechnet. Der Betrieb konnte nun Dinge sehen, die zuvor verborgen waren. Es wurde zum Beispiel deutlich, dass die Anlage deutlich mehr Dampf verbraucht, als eigentlich benötigt wird. Der Betrieb hat diesen Prozess neu justiert und spart dadurch 600 Kilogramm Dampf pro Stunde, das entspricht knapp 4000 Tonnen CO2 weniger im Jahr. Wir sparen also Kosten und schonen die Umwelt.

Der bereichsübergreifende Austausch ist spannend und macht die Chemie aus meiner Sicht einzigartig.

Sie haben lange in den USA gelebt und gearbeitet. Mit Blick auf die Job- und Forschungskultur: Wo liegen die großen Unterschiede zwischen Europa und Amerika?
Ich habe häufig den Eindruck, dass sich Europäer und im Speziellen Deutsche viel zu lange mit Misserfolgen und deren Analyse aufhalten. US-Amerikaner machen schneller weiter und verbuchen den vermeintlichen Misserfolg als Lernerfolg, der ihnen beim nächsten Versuch weiterhilft. Von dieser positiven Grundeinstellung können wir uns Einiges aneignen. Damit will ich natürlich nicht sagen, dass Gründlichkeit eine schlechte Eigenschaft ist. Sie führt ja auch dazu, dass gerade in Europa die Detailtiefe von Analysen kaum etwas zu wünschen übriglässt.

Trotz aller Unterschiede war es Ihre Aufgabe, bei der Integration des US-Unternehmens Chemtura in den Konzern die zwei Kulturen zu integrieren. Worauf kommt es an, damit aus der Diversität ein Team entsteht?
Bei der Integration von Chemtura haben wir uns von Anfang an darauf konzentriert, eine gemeinsame Kultur zu entwickeln. Denn ohne eine solche kann diese Integration nicht gelingen. Die Teams waren paritätisch mit Mitarbeitenden aus beiden Unternehmen besetzt, denn wir wollten alle Stimmen und Meinungen einfangen. Schon einen Monat nach Abschluss der Transaktion haben wir einen globalen Willkommens-Workshop abgehalten, bei dem kulturelle Themen im Vordergrund standen. Wir hatten auch temporär ein Mitglied mit Chemtura- Wurzeln im Vorstand. Diese Person konnte uns auf oberster Ebene den nötigen Einblick in die Kultur und Geschichte von Chemtura geben und war als integrative Figur extrem wichtig. Zudem haben wir immer betont, dass wir – der Käufer – nicht alle Dinge vorgeben, sondern voneinander lernen wollen. Dieses Verständnis besteht auch heute noch.

Zum Unternehmen

Die LANXESS AG ist ein Spezialchemiekonzern mit rund 14.200 Mitarbeitenden in 33 Ländern, der Hauptsitz befindet sich in Köln. Die Kernkompetenzen des Konzerns liegen in Produktion, Entwicklung und Vertrieb von chemischen Zwischenprodukten, Additiven, Spezialchemikalien und Kunststoffen. Gesteuert wird das operative Geschäft über die vier Segmente Advanced Intermediates, Specialty Additives, Consumer Protection und Engineering Materials, denen zehn Business Units zugeordnet sind, mit denen das Unternehmen auf den Märkten auftritt. In Sachen Klimaschutz hat sich der Konzern das Ziel gesteckt, bis 2040 klimaneutral zu werden. Laut eigenen Angaben habe der Konzern seit seiner Gründung im Jahr 2004 die Emissionen bereits halbiert: von 6,5 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente auf 3,2 Millionen Tonnen. Bis 2040 soll dieser Wert auf 300.000 Tonnen reduziert werden, die Restemissionen sollen durch Kompensationsmaßnahmen reduziert werden.

Assessment-Center erfolgreich bestehen

Johannes Stärk ist Assessment-Center-Coach und Bestseller-Autor. Für den karriereführer naturwissenschaften beschreibt er, was Bewerber*innen erwartet, wenn sie ein Assessment-Center absolvieren, und wie sie es bestehen.

Wer eine Einladung zum Assessment- Center, Auswahltag oder Orientierungscenter erhalten hat, zählt zum engsten Kreis der ernstzunehmenden Bewerber. Das typische Assessment- Center dauert einen halben bis einen Tag und besteht aus diversen Einzel- und Gruppenaufgaben, die unter Zeitdruck zu lösen sind. Hier die wichtigsten Fakten und die besten Tipps zu den häufigsten Aufgaben:

Postkorb
Die wichtigsten Fakten: Sie erhalten umfangreiche Unterlagen, die den Posteingang Ihres Verantwortungsbereichs darstellen. Ihre Aufgabe besteht darin, Termine zu koordinieren, Abläufe zu organisieren und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Die besten Tipps: Verschaffen Sie sich einen groben Überblick über alle Unterlagen und arbeiten Sie die Vorgänge nach Priorität ab. Seien Sie darauf gefasst, dass sich am Ende des Bearbeitungsstapels Mitteilungen von hoher Tragweite verstecken, wie zum Beispiel die Krankmeldung eines Mitarbeiters, die Einfluss auf andere Vorgänge hat.

Gruppendiskussion
Die wichtigsten Fakten: Bei der typischen Gruppendiskussion müssen Sie gemeinsam mit anderen Teilnehmern einen vorgegebenen Auftrag bearbeiten. So kann es beispielsweise darum gehen, ein Konzept zu entwickeln oder sich auf einen Verbesserungsvorschlag zu einigen. Die besten Tipps: Stellen Sie zu Beginn sicher, dass alle das gleiche Verständnis vom Arbeitsauftrag haben. Seien Sie präsent und beteiligen Sie sich kontinuierlich. Engagieren Sie sich für Ihre eigene Position, aber zeigen Sie sich auch kompromissbereit, damit ein gemeinsames Ziel erreichbar ist.

Fallstudie/Case-Study
Die wichtigsten Fakten: Sie erhalten umfangreiche Ausgangsinformationen und müssen zu einer strategischen Fragestellung eine Lösung erarbeiten. Die besten Tipps: Präsentieren Sie nicht nur einen Lösungsvorschlag, sondern zeigen Sie auch nachvollziehbar Ihren Lösungsweg auf, denn die einzig richtige Musterlösung gibt es oft nicht.

Rollenspiel
Die wichtigsten Fakten: Ein Rollenspiel ist die Simulation eines Vier-Augen-Gesprächs. Abhängig von der zu besetzenden Position handelt es sich dabei um ein Mitarbeiter-, ein Kunden- oder ein Kollegengespräch. Die besten Tipps: Gehen Sie mit dem persönlichen Anspruch ins Gespräch, die Motive, Bedürfnisse und Ziele Ihres Gesprächspartners exakt verstehen zu wollen. Dazu ist es erforderlich, die richtigen Fragen zu stellen und aktiv zuzuhören. In diesem Vorgehen liegt der Schlüssel zum Erfolg. Achten Sie dabei auf ausgewogene Redeanteile.

Präsentation
Die wichtigsten Fakten: Diese Aufgabe kann Ihnen im Assessment-Center mehrfach begegnen, zum Beispiel in Form einer Selbst-, Fach- und Ergebnispräsentation. Manchmal werden Präsentationsaufträge im Vorfeld als „Hausaufgabe“ erteilt. Die besten Tipps: Entwickeln Sie bereits vorab ein Konzept für Ihre Selbstpräsentation, denn kommt diese Aufgabe unvermittelt im Assessment-Center, gelingt es in der Kürze der Zeit nur den Wenigsten, eine überzeugende Selbstpräsentation zu erstellen. Machen Sie sich im Vorfeld mit Flipchart-Präsentationen vertraut, da Flipchart in vielen Assessment-Centern das Standard-Medium für Ad-hoc-Präsentationen ist.

Buchtipp

cover assessment centerJohannes Stärk: Assessment-Center erfolgreich bestehen. GABAL Verlag 2021, 24. Aufl. ISBN: 978-3-86936-184-0. 29,90 Euro.

 

Link-Tipp
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Welt der Physik

Podcasts, Nachrichten, Interviews und Wissenswertes aus dem Reich der Physik bietet die Webseite www.weltderphysik.de des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG).

Stimmtraining

cover sei deine stimmeStarke Stimme – starker Auftritt: Unsere Stimme ist der Spiegel unserer Seele. Sie hat großen Einfluss darauf, wie unsere Umwelt uns wahrnimmt. Habe ich überhaupt eine Stimme? Was habe ich der Welt zu sagen? Wie verschaffe ich mir Gehör? Wer bin ich? Was sagt meine innere Stimme? Der Musikwissenschaftler, Theologe und Coach Gerrit Winter macht in seinen Trainings den Menschen ihre schlummernden Fähigkeiten bewusst und birgt lange vergessene Potenziale. Gerrit Winter: Sei eine Stimme, nicht nur Echo. ZS-Verlag 2021. 16.99 Euro.

„Das wilde Herz Europas“

Wolf, Braunbär und Luchs und die unberührte Wildnis – kaum jemand denkt dabei an das dicht besiedelte Mitteleuropa. Die gute Nachricht ist: Es gibt sie noch, die wilden Flecken direkt vor unserer Haustür! Das Herz Europas hat es neben hoher Bevölkerungsdichte, Tourismus und Industrie geschafft, sich auch ein Stück Natur zu bewahren, für die Tiere wie Bären oder Luchse zum Symbolbild, ja zu Hoffnungsträgern werden. Denn ihre Anwesenheit zeigt auch, dass die Natur sich genau dort wieder mehr entfaltet, wo sie wild sein darf, dass natürliche Prozesse wieder in Gang kommen. Christine Sonvilla und Marc Graf dokumentieren in ungesehenen Aufnahmen die Rückkehr der wilden Tiere. Marc Graf, Christine Sonvilla: Das wilde Herz Europas. Die Rückkehr von Luchs, Wolf und Bär. Knesebeck 2020. ISBN 978-3-95728-369-6. 35 Euro.

Das Leben ist einfach …

cover das leben ist einfachDer erfahrene Psychotherapeut Holger Kuntze erklärt in seinem neuen Buch, warum wir persönlichen Krisen nicht hilflos ausgeliefert sind – und warum sie manchmal geradezu sinnvoll sein können. Er gewährt uns mithilfe moderner Verhaltenstherapie sowie neuester Erkenntnisse der Neurowissenschaft und Evolutionsforschung einen Blick hinter die Kulissen unseres eigenen Fühlens und Denkens. Mit kleinen Notfallinterventionen und zwanzig Begriffspaaren, die das Leben leichter machen, öffnet er einen Zugang zu unseren inneren Freiräumen. Konkret und mit Beispielen aus seiner eigenen Praxis benennt er Ressourcen, die uns auf der Basis akzeptanzbasierter Strategien ermöglichen, die Zumutungen des Lebens anzuerkennen und uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Holger Kuntze: Das Leben ist einfach, wenn du verstehst, warum es so schwierig ist. Kösel 2021. 18 Euro.

Deutsche Biotechnologietage

Die Deutschen Biotechnologietage– kurz DBT – werden vom Branchenverband BIO Deutschland organisiert und sind Treffpunkt für Unternehmer, Forscher, Politiker, Förderinstitutionen und Verwaltung. Die Konferenz befasst sich in Plenarvorträgen, Podiumsdiskussionen und Frühstücksrunden mit den Rahmenbedingungen und den vielfältigen Anwendungsfeldern der Biotechnologie und findet jährlich an wechselnden Orten statt.

„Fenster ins Gehirn“

Cover Fenster ins GehirnZu wissen, was im Kopf des Gegenübers vor sich geht, ist seit jeher eine tiefe Sehnsucht des Menschen. Tatsächlich kann die Forschung bereits Gedanken aus der Hirnaktivität auslesen. Der Neurowissenschaftler und Psychologe John-Dylan Haynes hat es geschafft, verborgene Absichten in den Hirnen seiner Probanden zu entschlüsseln. Aus seiner Forschung ergeben sich provokante Fragen: Sind unsere Gedanken wirklich so frei und sicher wie wir glauben? Oder wird man irgendwann per Gehirnscan unsere Wünsche und Gefühle oder gar unsere PINs auslesen können? Kann die Werbung unsere Hirnprozesse gezielt beeinflussen? Haben wir überhaupt einen freien Willen oder sind unsere Entscheidungen durch unser Gehirn vorherbestimmt? John-Dylan Haynes und Matthias Eckoldt zeigen, was heute schon möglich ist, und worauf wir uns in den kommenden Jahren einstellen sollten. John-Dylan Haynes und Matthias Eckoldt: Fenster ins Gehirn. Ullstein 2021. ISBN 978-3-550-20003-8. 24 Euro.

Wer singt denn da?

cover singvoegelVon A wie Amsel bis Z wie Zilpzalp – in Deutschland findet sich mit 510 Singvögeln eine enorme Artenvielfalt. Je nach Region und Landschaft lassen sich verschiedene Exemplare identifizieren. Beim Beobachten ist es sogar möglich, spezifische Merkmale zu bestimmen sowie etwas über das jeweilige Revier- und Balzverhalten herauszufinden. Doch warum zwitschern Buntspecht, Rotkehlchen und Co. überhaupt? Und warum ist der Artenschutz für ihr Überleben so wichtig? All diese Fragen beantwortet das FWU Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht in der Filmproduktion „Einheimische Singvögel“, die als DVD und in der Mediathek erhältlich ist.

„Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“

cover kleinste gemeinsame wirklichkeitDie bekannte Wissenschaftsjournalistin Dr. Mai Thi Nguyen-Kim untersucht mit analytischem Scharfsinn und unbestechlicher Logik brennende Streitfragen unserer Gesellschaft. Mit Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen kontert sie Halbwahrheiten, Fakes und Verschwörungsmythen – und zeigt, wo wir uns mangels Beweisen noch munter streiten dürfen. Die Themen: Legalisierung von Drogen, Videospiele, Gewalt, Gender Pay Gap, systemrelevante Berufe, Care-Arbeit, Lohngerechtigkeit, Big Pharma vs. Alternative Medizin … Dr. Mai Thi Nguyen-Kim: Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit. Wahr, falsch, plausibel – die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft. Droemer 2021. ISBN 978-3-42627-822-2. 20 Euro

 

 

Das letzte Wort hat: Linus Reichlin alias H. D. Walden

Linus Reichlin, geboren 1957, lebt als freier Schriftsteller in Berlin und Zürich. Sein in mehrere Sprachen übersetzter Debütroman „Die Sehnsucht der Atome“ stand monatelang auf der KrimiWelt-Bestenliste und erhielt 2009 den Deutschen Krimipreis. Sein neuestes Buch hat er unter dem Pseudonym H. D. Walden veröffentlicht und es beschreibt seine Flucht aus der Stadt, raus in den Wald in eine einsame Hütte, wo er mehre Monate lebte und lernte, die Natur zu lieben. Die Fragen stellte Christiane Martin.

Linus Reichlin aka H. D. Walden, Foto: Privat
Linus Reichlin aka H. D. Walden, Foto: Privat

Herr Reichlin, Sie haben letztes Jahr mehrere Monate lang allein in einer einsam gelegenen Hütte im Wald gelebt. Wie kam es dazu?
Ich lebe in Berlin, aber die Stadt war damals coronabedingt nur noch ein Schatten ihrer selbst. Außerdem sah man in jedem Menschen einen potenziellen Infektionsherd. Da ich beruflich mobil bin, konnte ich es mir leisten, das zu tun, was die Leute in Seuchenzeiten schon immer getan haben: Flucht in die Wälder.

Woher kommt das Pseudonym H. D. Walden?
H. D. Thoreau war ein Zivilisationskritiker des 19. Jahrhunderts, der sich für eine Weile in die Wälder zurückzog. Die Idee für das Pseudonym kam vom Verlag, und mir gefiel der Name Walden, weil dieser Begriff in der Outdoorszene seit einiger Zeit die Bedeutung von „in den Wald gehen“ bekommen hat: „Ich gehe walden.“ Vermutlich hat das gar nichts mit Thoreau zu tun, dessen Buch „Walden“ heißt. Es klingt einfach gut.

Was waren die beeindruckendsten Erfahrungen, die Sie im Wald gemacht haben?
Ich lernte sozusagen ja eine Waschbärin näher kennen, und etwas vom Schönsten, das ich in der Hütte erlebt habe, war, als sie mir ihr Junges vorstellte. Es war wirklich so: Sie stellte mir ihr Kind vor. Das mag nach Vermenschlichung von tierischem Verhalten klingen – aber nur für jemanden, der glaubt, dass Tiere sich grundlegend anders verhalten als Menschen. Das tun sie nicht, und vor allem nicht auf der emotionalen Ebene.

Denken Sie, dass wir von der Natur etwas lernen können?
Meiner Meinung nach müssen wir sogar etwas lernen. Und zwar, dass die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier falsch ist. Es gibt nur Wildtiere und domestizierte Tiere. Der Mensch ist ein (selbst-)domestiziertes Tier und verhält sich exakt so, wie domestizierte Tiere es tun. Alles, was wir in unserem Leben tun, sogar die Kunst, lässt sich auf die drei Hauptmotive aller Lebewesen zurückführen: Fortpflanzung, Nahrungsbeschaffung, Schutz vor Feinden. Der Mensch ist ein sehr intelligenter Affe, aber er ist, in allem, was er tut, eben immer noch Affe. Die Überzeugung, wir seien etwas anderes als Tiere wurde von uns selbst geschaffen, um die Ausbeutung der anderen Tiere zu rechtfertigen – aber sie ist keine reale Tatsache.

Was können Sie speziell jungen Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftlern mit auf den Weg geben, die am Anfang Ihrer beruflichen Laufbahn stehen?
Der Physiker Lawrence Krauss sagt, die Lust am Nichtwissen sei der Beweggrund aller Wissenschaft. Damit meint er, dass es eine Tugend ist, sich einzugestehen, dass man etwas nicht weiß. Es gibt genügend Leute, die glauben, sie wüssten alles. Die werden uns nicht voranbringen.

Buchtipp

cover ein stadtmensch im waldD. Walden: Ein Stadtmensch im Wald. Galiani Berlin 2021. ISBN: 978-3-86971-242-0. 14 Euro.