Risiken reduzieren

Risiken reduzieren, Foto: AdobeStock/pixelrobot
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Klimakrise und Pandemie zeigen: Die Weltgesellschaft baut auf Analysen und Lösungen aus den Naturwissenschaften. Nachwuchskräfte sind in einem beruflichen Umfeld tätig, in dem innovatives Denken und digitale Methoden zur Voraussetzung werden, um den hohen Erwartungen gerecht zu werden. Zentral wird dabei auch der Dialog mit der Öffentlichkeit: Je drängender die Themen sind, desto zentraler wird die Kommunikation. Auch, um Falschmeldungen etwas entgegenzusetzen. Von André Boße

Wenn das Zukunftsinstitut, eine Denkfabrik gegründet vom Trendforscher Matthias Horx, seine Prognosen trifft, dann auf Basis von „Megatrends“. Gemeint sind „Lawinen in Zeitlupe“, wie das Zukunftsinstitut es auf seiner Website beschreibt: „Dieses Bild beschreibt Megatrends ganz gut, denn Megatrends entwickeln sich zwar langsam, sind aber enorm mächtig. Sie wirken auf allen Ebenen der Gesellschaft und beeinflussen so Unternehmen, Institutionen und Individuen.“ Bleibt man bei diesem Bild, dann hat die Pandemie mit ihren vielfältigen Folge- und Nebenerscheinungen die Dynamik dieser „Lawinen in Zeitlupe“ verändert. Einigen hat sie einen Temposchub gegeben, insbesondere der Digitalisierung. Anderen hat sie einen Backlash gegeben.

In ihrem Beitrag „Megatrends 2021: Zeit für eine Revision“, zu finden auf der Website des Zukunftsinstituts, nennen die Trendforscher zum Beispiel den Megatrend „Silver Society“. Er basiert auf der Tatsache, dass die Menschen nicht nur älter werden, sondern auch länger gesund leben. Daraus hat sich eine „völlig neue Lebensphase im letzten Drittel des Lebens“ abgeleitet, die auf Vitalität und Selbstentfaltung basiert – „Abschied von Jugendwahn und eine grundlegende Umdeutung von Alter und Altern“ inklusive. Dann der Covid-19-Backlash: Das Alter wurde zum Indikator für höheres Risiko, aus „Silver Agern“ wurden „Risikogruppen“. Was zum Beispiel für die forschende Pharmabranche bedeutete, dass die Forschung an lebensrettenden Medikamenten in den Fokus rückte – Lebensoptimierungspräparate dagegen zwischenzeitlich an Bedeutung verloren.

Gefragt in Talkshows

Ein weiterer Megatrend, den die Pandemie vor Herausforderungen stellt, ist die „Wissenskultur“: „Die Welt wird schlauer“, stellen die Forscher vom Zukunftsinstitut fest. „Die Wissenschaft nimmt einen höheren Stellenwert in der Gesellschaft ein.“ Festmachen lässt sich das an einer Analyse der Besetzung von Gesprächsrunden im Fernsehen: „Die Talkshow-Gesellschaft“ lautet der Titel einer Studie der Berliner Innovations-Denkfabrik „Das Progressive Zentrum“. Die Untersuchung aus dem Herbst 2020 zeigt, dass vor Corona Gäste aus dem Bereich Wissenschaft einen Anteil von 8,8 Prozent hatten, während der Pandemie stieg dieser auf 26,5 Prozent. Insbesondere Naturwissenschaftler*innen waren gefragt, weil sie mit ihrem Wissen ein echtes Informationsbedürfnis stillen konnten und zwar sowohl bezogen auf die Frage, was ist hier eigentlich los, als auch darauf, was aus alldem folgen wird.

Die Welt wird schlauer. Die Wissenschaft nimmt einen höheren Stellenwert in der Gesellschaft ein.

Steht die Naturwissenschaft im Fokus der Öffentlichkeit – und das tut sie nicht nur beim Thema Corona, sondern auch in der Klimakrise – ergibt sich ein bedeutsamer Nebeneffekt, den das Zukunftsinstitut wie folgt beschreibt: „Die Vergesellschaftung des Wissens schreitet voran.“ Wissen, so die Trendforscher, verliert damit seinen elitären Charakter, wird zum Gemeingut. Ein Symptom dieser Entwicklung: Im Zuge der Pandemie bestand die Bundesrepublik aus Millionen Hobby- Epidemiolog*innen, von denen die meisten mindestens so gut über das Virus Bescheid wussten wie die tatsächlichen Expert*innen. Was direkt zur nächsten Problematik führt: Wird Wissen zum Gemeingut, gerät, so formulieren es die Trendforscher, „der Geltungsanspruch von Wissen, Fakten und Wahrheit unter Beschuss“. Auf die „Fake News“ folgte ein Begriff wie „Alt Science“: von einer „alternativen Wissenschaft“ also, die das Zukunftsinstitut als „Theoriegebäude zu bestimmten Themen, abseits von Wissenschaftlichkeit, Beweisbarkeit oder Logik“ definiert.

Komplexität beherrschbar machen

Was bedeuten diese Entwicklungen für den naturwissenschaftlichen Nachwuchs? Für junge Menschen, die in Unternehmen oder Forschungseinrichtungen in die Karriere einsteigen? Die Trendforscher vom Zukunftsinstitut glauben, dass die Ansprüche sich verlagern werden „hin zum Lifelong Learning, zur Vermittlung von Methoden und zu den Soft Skills“. Insbesondere Themen wie Kommunikation und Netzwerke werden immer wichtiger. Großes Potenzial gibt es an den Schnittstellen zwischen der Wissenschaft und anderen professionellen Umfeldern – dort also, wo naturwissenschaftliches Know-how zu Produkten, Anwendungen und Services führt, die von anderen Akteuren genutzt werden können. Auch hier hat die Pandemie gezeigt, wie wichtig solche Entwicklungen sind, und auch die Maßnahmen im Kampf gegen die Klimakrise werden zeigen, dass naturwissenschaftliche Innovationen mit gesellschaftlichem Mehrwert weiter an Bedeutung gewinnen werden.

„Risikogesellschaft“

cover risikogesellschaftDer Soziologe Ulrich Beck hat sein wegweisendes Buch „Risikogesellschaft“ im Jahr 1986 geschrieben. Das Werk hat also einige Jahre auf dem Buckel, scheint heute aber aktueller denn je: Beck schreibt zum Beispiel über „naturwissenschaftliche Schadstoffverteilungen“ und meint damit, dass Ereignisse, die früher lokal bedrohlich wirkten, heute globale Folgen haben. 1986 dachte er an den Reaktorunfall in Tschernobyl, heute bietet die Pandemie das beste Beispiel. Beck analysiert die zentrale Rolle der Medien, die die Wahrnehmung der Krise prägen, und beschreibt den paradoxen Effekt, dass aus der permanenten Zunahme von Risiken eine Gleichgültigkeit erwächst: „Wo sich alles in Gefährdungen verwandelt, ist irgendwie auch nichts mehr gefährlich.“ Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp 1986.

Ein Beispiel für eine solche Entwicklung ist CovRadar, eine Plattform zur kontinuierlichen Überwachung von SARS-CoV-2-Mutationen. Entwickelt wurde sie von Wissenschaftler* innen des Hasso-Plattner-Instituts (HPI), des Robert-Koch-Instituts (RKI), des Europäischen Virus-Bioinformatik- Instituts (EVBC) sowie der Medizinischen Hochschule Hannover. Laut einer Pressemitteilung des HPI verbindet die interaktive Plattform Analyseprozesse mit einer Web-Anwendung, um eine Million Sequenzen visualisieren und analysieren zu können – immer auf der Suche nach Virus-Mutationen, von denen eine Gefahr ausgeht, weil sie ansteckender sind oder weil sie als Virus-Escape-Varianten gelten, bei denen die Impfstoffe nur begrenzt wirken.

Die IT-getriebenen naturwissenschaftlichen Prozesse der Analyse sind überaus komplex, die Anwendung ist genau dies nicht, verspricht das HPI in der Pressemeldung: „Die Ergebnisse werden in einer interaktiven PDF-ähnlichen App präsentiert, die eine schnelle, einfache, exportierbare und flexible Auswertung ermöglicht.“ Eine interaktive Deutschlandkarte macht es möglich, die Verbreitung von Varianten in den verschiedenen Regionen zu betrachten. „Unser Ziel ist es, Sequenzinformationen über die neue Plattform CovRadar leichter und nutzerfreundlicher zugänglich zu machen, insbesondere für Virologen und Epidemiologen sowie den Krisenstab des RKI, damit wir notfalls sehr schnell auf Mutationen reagieren können“, wird Prof. Dr. Bernhard Renard, Leiter des Lehrstuhls Data Analytics & Computational Statistics und des CovRadar-Projekts am Hasso- Plattner-Institut (HPI), in der Pressemitteilung zitiert.

Klimakrise ist für Ökonomen das Top-Risiko

Was Naturwissenschaftler*innen leisten: Sie helfen dabei, Risiken zu reduzieren. Und diese Kernkompetenz ist in einer Gesellschaft, die lernen muss, mit neuen Risiken zu leben, besonders gefragt. Die Trendforscher vom Zukunftsinstitut erklären „Sicherheit“ zu einem Megatrend, gemeint ist das Sicherheitsbedürfnis jedes Einzelnen, aber auch der Unternehmen. So fragt das Weltwirtschaftsforum in jedem Jahr die ökonomischen Leader nach ihren Top-Risiken. Früher standen in diesem Ranking ökonomische Probleme auf den obersten Rängen, Schuldenkrisen oder Handelskriege. In der aktuellen Liste belegen drei ökologische Risiken die Plätze eins bis drei: eine verfehlte Klimapolitik, der Verlust der Biodiversität sowie Extremwetterereignisse. Bei der Lösung ökonomischer Krisen waren die Wirtschaftswissenschaftler gefragt. Um ökologische Probleme zu bewältigen, benötigt die Wirtschaft nun jedoch Hilfe aus anderen Disziplinen, allen voran das Knowhow der Naturwissenschaftler*innen, die sich darauf verstehen, die Erderwärmung zu analysieren, zu prognostizieren – und schließlich Lösungen zu entwickeln.

Chemie: Immer mehr Start-ups setzen auf Nachhaltigkeit

Neu gegründete Unternehmen aus der Chemie-Branche setzen verstärkt auf nachhaltige Geschäftsmodelle. Das zeigt eine Studie des Centers für Wirtschaftspolitische Studien (CWS) der Universität Hannover und des ZEW Mannheim im Auftrag des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI). Von den insgesamt 308 in Deutschland wirtschaftenden Chemie-Start-ups bieten laut Pressemitteilung zur Studienveröffentlichung 72 Unternehmen Produkte oder Dienstleistungen mit Fokus auf Nachhaltigkeit an.“ Die meisten dieser Unternehmen wurden in den vergangenen sechs Jahren gegründet“, formulieren die Studienautoren. So lässt sich vermuten, dass sich der Nachhaltigkeitstrend bei den Chemie-Start-ups fortsetzen wird.

Für Naturwissenschaftler*innen ergeben sich dadurch Arbeitsumfelder, in denen innovatives und kundenzentriertes Denken zentral ist. In der Biotechnologie zum Beispiel wird an Nahrungspflanzen geforscht, die dem Klimawandel trotzen, weil sie Hitze und lange Dürreperioden aushalten. Die chemische Industrie versteht sich als Zulieferer bedeutsamer Lösungen für die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft in Richtung Nachhaltigkeit.

„Der Hebel, mit Innovationen positiv auf Klimaschutz und Nachhaltigkeit zu wirken, ist in der chemischen Industrie sehr groß“, erklärt Christian Rammer, Wissenschaftler am „ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung“ in Mannheim, in einer Pressemeldung zur Studie „Innovationsindikatoren Chemie 2020“. Jedes vierte Unternehmen aus der Chemiebranche entwickele laut Untersuchung innovative Lösungen auf den Gebieten Klima, Umwelt, Nachhaltigkeit – eine höhere Quote besitze nur der Maschinenbau, stellt die Studie fest. Den Stellenwert des Themas zeige auch der Blick auf die Patente: „So hat sich der Anteil der angemeldeten Klimaschutzpatente in der deutschen Chemieindustrie zwischen 2005 und 2016 von 7,4 auf 13,5 Prozent nahezu verdoppelt“, schreiben die Studienautor* innen. Auch augenfällig: „Von insgesamt 308 aktiven Chemie-Start-ups bieten 72 entsprechende Produkte oder Dienstleistungen an. Die meisten dieser Unternehmen wurden in den vergangenen sechs Jahren gegründet.“

Pharma: Die Welt wartet auf Lösungen

Eine große Rolle als Risikoreduziererin spielt die Pharmaindustrie. Ihren Unternehmen ist es gelungen, in Rekordzeit wirksame Impfstoffe gegen das neue Virus zu entwickeln. Wie dramatisch wäre unsere Lage heute, wenn dies nicht oder auch nur in einem langsameren, sprich normalen Tempo gelungen wäre? Was sich bei diesem Thema aber auch zeigt: Die Sache ist komplex. Nicht alle Entwicklungen funktionierten. Und kaum wurde die Wirksamkeit bewiesen, stieg die Erwartung an die Unternehmen, doch bitte von jetzt auf gleich Millionen von Menschen zu versorgen. Die Pharmabranche erkannte, wie wichtig naturwissenschaftliche Kommunikation ist – und wie stark der Erfolg der Innovationsleistung von anderen Systemen abhängt, von der Politik, den Medien, dem Grad der Digitalisierung und der öffentlichen Wahrnehmung.

Die Pharmabranche erkannte, wie wichtig naturwissenschaftliche Kommunikation ist – und wie stark der Erfolg der Innovationsleistung von anderen Systemen abhängt, von der Politik, den Medien, dem Grad der Digitalisierung und der öffentlichen Wahrnehmung.

Das Zukunftsinstitut schreibt in diesem Zusammenhang von einem „neuen holistischen Gesundheitsbewusstsein“: „Bei Gesundheit geht es künftig immer weniger um die kleinteilige Betrachtung eines Individuums oder gar eines spezifischen Leidens, sondern sie wird ganzheitlicher betrachtet: Ein bestimmtes Symptom lässt sich nicht losgelöst vom restlichen Körper betrachten und der Körper nicht losgelöst von dem psychischen Empfinden des Individuums, seinen Verhaltensmustern, seinem Lebensstil, seinen Gewohnheiten, seiner sozialen Eingebundenheit, seiner Arbeitsumgebung und seiner Umwelt“, beschreiben die Trendforscher. Der Weg geht vom Symptom zum Kontext. Pharma besitzt dabei fraglos eine Schlüsselrolle, jedoch wird die Komplexität weiter steigen – zumal mit Blick auf individualisierte Präparate aus 3D-Druckern.

Alle diese Entwicklungen zeigen: Naturwissenschaftler* innen rücken in den Fokus. Mit Blick auf die herausfordernden Krisen benötigt die globale Gesellschaft ihre Lösungen. Mehr noch: Sie erwartet diese sogar und bewertet diese kritisch. Wobei wissenschaftsfeindliche Gegenbewegungen diese Lösungen bewusst torpedieren wollen. Das Arbeitsumfeld von Naturwissenschaftler*innen ist also komplex. Aber auch hochspannend. Wobei eines sicher ist: Wer hier tätig ist, wird sich die Frage nach dem Sinn der Arbeit so schnell nicht stellen.

Studie: Pharma-Unternehmen gelten verstärkt als Innovationsvorreiter

Für die Studie „The Most Innovative Companies 2021 – Overcoming the Readiness Gap“ hat die Strategieberatung Boston Consulting Group (BCG) weltweit rund 1600 Innovationsmanager gefragt. Das Ergebnis: „Jedes fünfte der weltweit 50 Unternehmen, die als Vorreiter in Sachen Innovation wahrgenommen werden, kommt aus der Pharma- oder Medizintechnikbranche. Damit hat sich ihre Anzahl im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt“, heißt es in der Pressemeldung zur Studie aus dem April dieses Jahres. „Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass Innovation auch in kurzer Zeit und unter schwierigen Bedingungen möglich ist“, wird Johann Harnoss, Associate Director bei BCG und Autor der Studie, zitiert.