Das letzte Wort hat: Linus Reichlin alias H. D. Walden

Schriftsteller, Kolumnist und Stadtmensch, der die Natur entdeckt hat

Foto: Fotolia/fotofabrika
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Linus Reichlin, geboren 1957, lebt als freier Schriftsteller in Berlin und Zürich. Sein in mehrere Sprachen übersetzter Debütroman „Die Sehnsucht der Atome“ stand monatelang auf der KrimiWelt-Bestenliste und erhielt 2009 den Deutschen Krimipreis. Sein neuestes Buch hat er unter dem Pseudonym H. D. Walden veröffentlicht und es beschreibt seine Flucht aus der Stadt, raus in den Wald in eine einsame Hütte, wo er mehre Monate lebte und lernte, die Natur zu lieben. Die Fragen stellte Christiane Martin.

Linus Reichlin aka H. D. Walden, Foto: Privat
Linus Reichlin aka H. D. Walden, Foto: Privat

Herr Reichlin, Sie haben letztes Jahr mehrere Monate lang allein in einer einsam gelegenen Hütte im Wald gelebt. Wie kam es dazu?
Ich lebe in Berlin, aber die Stadt war damals coronabedingt nur noch ein Schatten ihrer selbst. Außerdem sah man in jedem Menschen einen potenziellen Infektionsherd. Da ich beruflich mobil bin, konnte ich es mir leisten, das zu tun, was die Leute in Seuchenzeiten schon immer getan haben: Flucht in die Wälder.

Woher kommt das Pseudonym H. D. Walden?
H. D. Thoreau war ein Zivilisationskritiker des 19. Jahrhunderts, der sich für eine Weile in die Wälder zurückzog. Die Idee für das Pseudonym kam vom Verlag, und mir gefiel der Name Walden, weil dieser Begriff in der Outdoorszene seit einiger Zeit die Bedeutung von „in den Wald gehen“ bekommen hat: „Ich gehe walden.“ Vermutlich hat das gar nichts mit Thoreau zu tun, dessen Buch „Walden“ heißt. Es klingt einfach gut.

Was waren die beeindruckendsten Erfahrungen, die Sie im Wald gemacht haben?
Ich lernte sozusagen ja eine Waschbärin näher kennen, und etwas vom Schönsten, das ich in der Hütte erlebt habe, war, als sie mir ihr Junges vorstellte. Es war wirklich so: Sie stellte mir ihr Kind vor. Das mag nach Vermenschlichung von tierischem Verhalten klingen – aber nur für jemanden, der glaubt, dass Tiere sich grundlegend anders verhalten als Menschen. Das tun sie nicht, und vor allem nicht auf der emotionalen Ebene.

Denken Sie, dass wir von der Natur etwas lernen können?
Meiner Meinung nach müssen wir sogar etwas lernen. Und zwar, dass die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier falsch ist. Es gibt nur Wildtiere und domestizierte Tiere. Der Mensch ist ein (selbst-)domestiziertes Tier und verhält sich exakt so, wie domestizierte Tiere es tun. Alles, was wir in unserem Leben tun, sogar die Kunst, lässt sich auf die drei Hauptmotive aller Lebewesen zurückführen: Fortpflanzung, Nahrungsbeschaffung, Schutz vor Feinden. Der Mensch ist ein sehr intelligenter Affe, aber er ist, in allem, was er tut, eben immer noch Affe. Die Überzeugung, wir seien etwas anderes als Tiere wurde von uns selbst geschaffen, um die Ausbeutung der anderen Tiere zu rechtfertigen – aber sie ist keine reale Tatsache.

Was können Sie speziell jungen Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftlern mit auf den Weg geben, die am Anfang Ihrer beruflichen Laufbahn stehen?
Der Physiker Lawrence Krauss sagt, die Lust am Nichtwissen sei der Beweggrund aller Wissenschaft. Damit meint er, dass es eine Tugend ist, sich einzugestehen, dass man etwas nicht weiß. Es gibt genügend Leute, die glauben, sie wüssten alles. Die werden uns nicht voranbringen.

Buchtipp

cover ein stadtmensch im waldD. Walden: Ein Stadtmensch im Wald. Galiani Berlin 2021. ISBN: 978-3-86971-242-0. 14 Euro.