karriereführer recht 2.2021 – Legal-Tech, NewLaw, neue Business Cases

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Cover karrierefuehrer recht 2-2021

Legal-Tech, NewLaw, neue Business Cases: Eine Branche verändert sich

LegalTech, NewLaw, neue Business Cases: Im Zuge der Digitalisierung fächert sich der Rechtsmarkt auf, angetrieben wird die Entwicklung durch die Folgen der Pandemie. Gewohnte Abläufe verlieren an Bedeutung. Was zählt, sind neue Konzepte und Abrechnungsmodelle. Für die junge Generation ergeben sich Chancen, vor allem dann, wenn ihre digitalen Kenntnisse zu einem Wissens- und Erfahrungsvorsprung führen.

E-Paper karriereführer recht 2.2021 – Legal-Tech, NewLaw, neue Business Cases

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Die neue Ungewöhnlichkeit

LegalTech, NewLaw, neue Business Cases: Im Zuge der Digitalisierung fächert sich der Rechtsmarkt auf, angetrieben wird die Entwicklung durch die Folgen der Pandemie. Gewohnte Abläufe verlieren an Bedeutung. Was zählt, sind neue Konzepte und Abrechnungsmodelle. Für die junge Generation ergeben sich Chancen, vor allem dann, wenn ihre digitalen Kenntnisse zu einem Wissens- und Erfahrungsvorsprung führen. Ein Essay von André Boße

„Business as usual“? Klingt nach gepflegter Langeweile. Wer „business as usual“ betreibt, gehört zwar nicht zu den Innovationsführern, doch steht der Ansatz in einem gewissen Maße für Stabilität. Gerade in einer Branche wie dem Rechtsmarkt, in der Veränderungen mit Blick auf die Arbeitskultur sowie die Geschäftsmodelle der Kanzleien lange Zeit eher vorsichtig angegangen wurden. Nun aber beginnt der „Future Ready Lawyer 2021“-Report des Informationsdienstleisters Wolters Kluwer mit folgender Formulierung: „Für viele Juristen wurde im Jahr 2020 ‚Business as usual‘ zu einem Überlebenskampf.“

Ausschlaggebend dafür sei, schreiben die Studienautoren, die Pandemie gewesen, die den generellen Megatrend der Digitalen Transformation zusätzlich befeuert habe. Den Wandel hätte es auch ohne das Corona-Virus gegeben. Mit ihm hat er sich mit einem Tempo und einer Radikalität vollzogen, die der Rechtsmarkt so bislang nicht kannte. „Es galt, die Organisationen im Rechtsmarkt durch nie dagewesene Zeiten zu steuern – von der Krise und der Reaktion darauf bis zur Erholung“, heißt es in der Studie. Jetzt, im Herbst 2021, müssten sich die Organisationen auf ein neues „Business as usual“ einstellen. Wobei der Trend wohl eher dahin geht, dass die Ungewöhnlichkeit permanent bleibt.

Digitalisierung beherrscht Komplexität

Wie das aussieht? Der Report skizziert Punkte, die ab jetzt eine zentrale Bedeutung besitzen. Für die Anwält*innen kam es darauf an, „mithilfe von Technologien die Leistungserbringung aufrecht zu erhalten, um vom Home-Office aus Remote mit Mandanten, Kollegen und den Gerichten zu interagieren.“ Dabei habe die Krise verdeutlicht: „Technische Lösungen sind für die Belastbarkeit der Organisation und den Service für Mandanten unabdingbar.“ Sprich: Die Digitale Transformation der Kanzleien folgt keinem Selbstzweck und keinem Zukunftsplan –, sondern ist hier und heute die Voraussetzung dafür, die Qualität der juristischen Beratung und Dienstleistung aufrecht zu erhalten. „Experten sehen den digitalen Wandel und die Technologie als Haupttreiber für eine verbesserte Leistungserbringung“, heißt es in der Studie. Die Rechtsbranche werde daher weiter in technologische Lösungen investieren sowie diese stärker nutzen.

Legal Tech und das Anwaltsmonopol

cover legal techLegal Tech ist in aller Munde. Die Möglichkeit des Einsatzes von Legal Tech wirft dabei vor allem die Frage auf, ob Rechtsdienstleistungen weiterhin primär nur durch Rechtsanwälte erbracht werden dürfen. Diese Fragestellung wurde bisher allein mit Blick auf die Regelungen im deutschen Recht betrachtet. Bernhard Brechmann untersucht hingegen die Zulässigkeit des Einsatzes von Legal Tech im europäischen und internationalen Kontext. Denn im Gegensatz zu Deutschland kennt eine Reihe von Mitgliedstaaten der EU kein entsprechendes Anwaltsmonopol für die Erbringung von Rechtsdienstleistungen. Die Frage ist daher, ob diese ausländischen Vorschriften in Deutschland zur Anwendung gebracht werden können. Bernhard Brechmann: Legal Tech und das Anwaltsmonopol. Mohr Siebeck 2021, 80 Euro.

Dass viele Kanzleien dabei vor einer großen Herausforderung stehen, zeigen zwei zentrale Kennzahlen der Studie. Befragt wurden 700 Jurist*innen aus neun europäischen Ländern und den USA nach den für sie bedeutsamsten Trends der kommenden drei Jahre? Die „steigende Bedeutung von ,Legal Technology’“ sowie die „Bewältigung zunehmender Informationsmengen und Komplexität“ erhalten mit jeweils 77 Prozent die höchste Zustimmung. Das Problem: Nur 33 Prozent der Befragten halten ihre Organisation für „sehr gut“ auf die „steigende Bedeutung von ,Legal Technology’“ vorbereitet, nur 32 Prozent fühlen sich „sehr gut“ auf die „Bewältigung zunehmender Informationsmengen und Komplexität“ vorbereitet. Zu wissen, was wichtig wird – aber zu glauben, hier noch nicht optimal aufgestellt zu sein: Der Report zeigt deutlich, dass der Wandel des Rechtsmarkts für die Kanzleien anspruchsvolle Aufgaben mit sich bringt.

Die papierlose Kanzlei

Ein Blick in eine Organisation, die von sich selbst sagt, „vollständig durchdigitalisiert“ zu sein. Renz Schuhknecht Baumann mit Sitz in Stuttgart ist eine interdisziplinäre, stark auf Steuer- und juristische Wirtschaftsberatung ausgerichtete Kanzlei. Sowohl im steuerlichen als auch im anwaltlichen Bereich erfolge die Aktenführung komplett digital, sagt Michael Renz. „Alle in die Kanzlei eingehenden Dokumente werden – sofern sie uns nicht ohnehin schon digital erreichen – digitalisiert.“ Lediglich ein kleiner Auszug davon – nämlich, soweit er für Gerichtstermine relevant ist – werde zusätzlich als herkömmliche Papierakte geführt. „Das ist wegen der schlechten digitalen Anbindung der Gerichte leider auch heute noch notwendig.“ Die Kanzlei nutzt dabei das Portfolio des Software-Entwicklers und IT-Dienstleisters DATEV, der gezielt für die Arbeit von Jurist*innen und Steuerberater*innen digitale Lösungen konzipiert.

Das Unternehmen ist als Berufsgenossenschaft organsiert, rund 40.000 Rechtsanwält*innen, Steuerberater*innen oder Wirtschaftsprüfer*innen sind Mitglied. Michael Renz ist als stellvertretender Vorsitzender des DATEV-Vertreterrats mit dafür verantwortlich, den Unternehmensvorstand aus Sicht der Anwenderschaft zu beraten. Es ermöglicht, die gesamte Korrespondenz mit anderen Kanzleien, Notar*innen oder Gerichten komplett zu digitalisieren, „in diesem Bereich verlässt unser Büro kein Stück Papier mehr“, sagt Michael Renz. Dazu nutze die Kanzlei im anwaltlichen Bereich das Tool einer „juristischen Textanalyse“, das zum Beispiel bei aufwändigen Due-diligence-Verfahren für Effizienz sorgt.

Kreative Tätigkeiten statt Fleißarbeit

Bei solchen Prozessen zeigten sich die direkten Vorteile der Digitalisierung, doch Michael Renz glaubt, der „wirkliche Nutzen“ zeigte sich nur dann, „wenn auch die Randbereiche digital aufgestellt sind“. Diktat-Software, digitale Telekommunikation über CTI, elektronische Arbeitszeiterfassung, Gebührenrechner, datenschutzkonforme Videokonferenz-Systeme – der Stand der Digitalisierung hängt von vielen Elementen ab. Für die Kanzlei zahlte sich das aus: Innerhalb von drei Tagen sei es gelungen, die komplette Belegschaft ins Homeoffice „auszulagern – und dies im ersten Lockdown für drei und im zweiten Lockdown für acht Monate aufrecht zu erhalten“, sagt Michael Renz – und verweist darauf, dass der Nutzen deutlich größer sei als die Nebenwirkungen der Digitalisierung.

Stichwort Security? „Ich bin überzeugt, dass der größte Sicherheits-Schwachpunkt der Digitalisierung menschlichen Ursprungs ist“, sagt Michael Renz. „Wir legen daher großen Wert darauf, unsere Belegschaft im Umgang mit der EDV zu schulen und das Problembewusstsein für mögliche Angriffsszenarien zu schärfen.“ Thema Update-Wahnsinn? „Natürlich halten wir unsere EDV immer auf dem aktuellen Softwarestand, aber als ‚Update-Wahnsinn‘ würde ich das nicht bezeichnen. Jeder Schreiner schärft seine Sägen und erneuert seinen Maschinenpark regelmäßig – anders ist das mit dem Werkzeug EDV in der Kanzlei letztlich nicht.“ System-Ausfall? „In den ganzen Jahren hatten wir genau dreimal einen zeitweisen Technikausfall. Einmal war die Ursache ein mehrstündiger lokaler Stromausfall, die beiden anderen Stillstände waren deutlich kürzer und waren Folge eines Hardwaredefekts, den wir aber bis zur Reparatur ohne fremde Hilfe durch eigene Backup- und Ausweichsysteme ausgleichen konnten.“

Während auf diese Weise immer mehr Kanzleien mit Hilfe der Digitalisierung neue Wege gehen, etablieren sich parallel auf dem deutschen Rechtsmarkt neue Anbieter, die mit ihren Geschäftsmodellen die juristische Arbeit anders angehen und abrechnen.

Der nächste Schritt ist für Michael Renz nun ein „gezielter Einsatz von künstlicher Intelligenz, als eine gute Basis für die im Anwaltsgeschäft erforderliche Kreativität: Fleißarbeit und Recherchezeit könnte dann sinnvoller zur eigentlichen juristischen Arbeit eingesetzt werden.“ Keine technische Entwicklung ohne die andere Seite der Medaille: Mit Sorge beobachtet Michael Renz eine Tendenz zur „Industrialisierung des Anwaltsberufes“, zum Beispiel mit Blick auf die Klagen zum „Diesel-Skandal“: „Da werden Massenverfahren geführt und Schriftsätze aus Baukästen zusammengestellt. Die eigentliche juristische Arbeit hat vielleicht zu Beginn der Verfahren noch eine Rolle gespielt, zwischenzeitlich ist das aber zu Copy & Paste ‚verkommen‘.“

NewLaw: Recht on-demand

Während auf diese Weise immer mehr Kanzleien mit Hilfe der Digitalisierung neue Wege gehen, etablieren sich parallel auf dem deutschen Rechtsmarkt neue Anbieter, die mit ihren Geschäftsmodellen die juristische Arbeit anders angehen und abrechnen. Eine Bezeichnung, die dabei die Runde macht, ist die von „NewLaw“. Centurion Plus ist einer der ersten Anbieter auf dem deutschen Markt, der NewLaw zum Markenkern macht mit dem Ansatz, „hochqualifizierte Anwälte ondemand“ zu bieten. „Das NewLaw Modell unterscheidet sich von der traditionellen Erbringung von Rechtsdienstleistungen vor allem in drei Bereichen: in der Art und Weise, wie Firmen Kunden gewinnen, der Art und Weise, wie die Arbeit erledigt wird und der Art und Weise, wie die Firma geführt wird“, beschreibt das Unternehmen seinen Ansatz in Form eines „NewLaw-Guides“, zu finden auf der Homepage des Anbieters.

Vergleichbar mit Dienstleistungsunternehmen anderer Branchen finden NewLaw-Firmen ihren Kundenstamm „durch Marketing, Geschäftsentwicklung und ein Alleinstellungsmerkmal“; der Mandantenstamm werde durch die Bekanntheit der Kanzleimarke aufgebaut, nicht durch individuelle Netzwerke oder persönliche Beziehungen. „Dies bedeutet, dass es einer NewLaw Firma leichtfallen sollte, von zeitbasierten Abrechnungen wegzukommen, da der Kunde den Dienstleister für ein bestimmtes Ergebnis beauftragt“, heißt es im „NewLaw-Guide“ von Centurion Plus.

NewLaw: Definition

Der US-Strategieberater mit Rechts-Schwerpunkt Eric Chin hat in einem Blog- Eintrag bereits 2013 den Begriff NewLaw wie folgt definiert: „Jedes Modell, Verfahren oder Instrument, das einen wesentlich differenzierteren Ansatz für die Schaffung oder Bereitstellung von Rechtsdienstleistungen darstellt als das, was die Rechtsberufe traditionell anwenden.“ (im englischen Original: „Any model, process, or tool that represents a significantly different approach to the creation or provision of legal services than what the legal profession traditionally has employed.“)

Dadurch ändere sich das Abrechnungssystem der juristischen Arbeit: NewLaw-Firmen entfernten sich von Stundensätzen, tendierten dazu, alternative Modelle zu entwickeln, zum Beispiel: „Abrechnung auf Projektbasis oder eine feste Gebühr für die Dienstleistungen.“ Wer heute in den Beruf einsteigt, darf davon ausgehen, dass die Frage „herkömmliche Kanzlei oder NewLaw?“ keine Entweder-oder-Entscheidung darstellt. Offensichtlich jedoch ist, dass sich der Rechtsmarkt weiter ausdifferenziert, mit der Digitalisierung als Treiber, die neue Geschäftsmodelle und Kommunikationsformen ermöglicht, den Workflow der in den Organisationen tätigen Jurist*innen verändert und bei den Mandanten Ansprüche weckt. Für die junge Generation sind das positive Entwicklungen. Denn überall dort, wo Veränderungen stattfinden, sich Strukturen verändern und eine innovationsgetriebene Offenheit gefordert ist, ergeben sich für Nachwuchskräfte Chancen. „Die Digital Natives sind mit digitalen Hilfsmitteln groß geworden. Insofern darf man erwarten, dass sie damit auch gewandt und zielführend umzugehen verstehen“, sagt Michael Renz von der Kanzlei Renz Schuhknecht Baumann. Wenn daraus ein Wissens- und Erfahrungsvorsprung resultiere, sei dieser „eine gute Voraussetzung für die Karriere als auch für eine gesunde Work-Life- Balance“.

Das Vario-Geschäft der Wirtschaftskanzlei Pinsent Masons

Vario ist ein 2013 von der internationalen Wirtschaftskanzlei Pinsent Masons eingeführtes Angebot im Bereich innovativer Rechtsberatungskonzepte. Vario arbeitet weltweit mit einem Pool von über 1000 Projektjuristen zusammen und zählt damit zu den führenden Anbietern von flexiblen Rechtsbratungsdienstleistungen. Vario ist nicht VC-, Private Equity- oder börsenfinanziert. Von anderen Anbietern flexibler Rechtsberatungsdienstleistungen unterscheidet sich Vario durch die enge Anbindung an eine führende internationale Anwaltskanzlei. „Das Angebot flexibler Rechtsberatungsdienstleistungen ist noch neu auf dem deutschen Markt. Aber mehr und mehr Unternehmen erkennen, dass Projektjuristen, die einer Kanzlei wie Pinsent Masons nahestehen, einen ganz erheblichen Mehrwert für sie schaffen können“, sagte Dr. Carl Renner im Zuge seiner Ernennung zu einem der Co-Heads von Vario in Deutschland im Juli 2020.

Alternative Anbieter im Kommen

Die Studie „Future Ready Lawyer 2021“ fragte Anwält*innen nach den großen Trends, die in den kommenden drei Jahren eine Auswirkung auf die Arbeit der großen Kanzleien haben werden. Der größte Zuwachs mit sechs Prozentpunkten auf nun 74 Prozent gelingt dem Trend „Zunahme Alternativer Anbieter von Rechtsdienstleistungen“. Zugleich glauben 74 Prozent der befragen Jurist*innen, dass die Themen Preiswettbewerb/alternativen Gebührenstrukturen/Kosteneinsparungen in den kommenden drei Jahren die Abrechnungsmodelle stark prägen und verändern werden.

Der Veränderer Philipp Glock im Interview

Als Anwalt bei KPMG Law ist Philipp Glock mit seinen Schwerpunkten Legal Technology, Managed Services und Legal Project Management häufig in sehr engem Kontakt mit den Mandanten. Was dem Juristen dabei auffällt: In Sachen Digitalisierung hat sich bei den Unternehmen einiges getan. Entsprechend hoch sind die Ansprüche an juristische Beratung mit Hilfe neuer Techniken. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Philipp Glock studierte Rechtswissenschaften an den Universitäten Bonn, Lausanne und an der HU Berlin. Seinen Referendariatsdienst leistete er in Berlin ab, nachdem er in Kapstadt und Stellenbosch/Südafrika den Titel eines Magister Legum (LL.M.) erworben hatte. Vor seiner Zeit bei KPMG Law war er in einer anderen großen deutschen Rechtsanwaltskanzlei sowie bei Sony Deutschland GmbH tätig. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Digitalisierungs-, Technologie- und Prozessberatung von Rechtsabteilungen sowie das Gesellschafts- und Handelsrecht. Als Co- Head der Solution Legal Process & Technology ist Philipp Glock mit den aktuellen digitalen Lösungen für Unternehmen jeder Größe vertraut und berät die Mandanten sowohl bei der Auswahl und Einführung der entsprechenden Tools als auch bei der Implementierung sowie Überarbeitung von Prozessen in der Rechtsfunktion.

Herr Glock, über Ihrem Anwaltsprofil bei KPMG Law haben Sie einen Satz von Albert Einstein zitiert: „Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.“ Wie häufig treffen Sie als Jurist auf diese Einstellung?
Das kommt schon mal vor, ist aber natürlich nicht die Regel. Um es salopp zu formulieren: Juristinnen und Juristen sind nicht unbedingt das verrückteste Völkchen. Will heißen, dass ein gewisser Anteil von denjenigen, die in dieser Berufsgruppe tätig sind, bei Wandlungsprozessen nicht unbedingt zu den Pionieren zählen.

Wenn Sie diesen digitalen Wandel beziffern müssten, wie sehr greift er generell in die juristische Arbeit ein?
Noch nicht so radikal, wie man glauben könnte. Ich schätze mal, dass durchschnittlich bei 90 Prozent der Arbeit weiterhin klassisches juristisches Know-how gefragt ist. Dieser Anteil lässt sich vielfach auch kaum digitalisieren, weil es hier zum Beispiel um individuelle Beratung geht. Oder um juristische Expertise, die nicht von Bots oder Künstlicher Intelligenz übernommen werden kann. Richtig ist aber auch, dass der Raum für Arbeiten, die sich digitalisieren lassen, kontinuierlich wächst.

Sprich: Tendenz steigend.
Genau. Ich vergleiche das Profil eines Juristen gerne mit einer Torte: Es gibt die klassische Anwalts-Torte, einhundert Prozent Jura. Meine persönliche Torte würde ich vielleicht so beschreiben: Die Hälfte der Stücke sind klassisch juristisch geprägt, die andere Hälfte digital. Wichtig ist: Für alle Tortenarten gibt es noch passende Deckel.

Welche juristischen Arbeiten können heute sinnvoll digitalisiert werden?
Tätigkeiten, die so häufig vorkommen, dass sie standardisierbar sind. Darunter gibt es durchaus Arbeiten, die eine große Komplexität besitzen. Zum Beispiel die juristische Ausgestaltung von Verträgen. Sind diese in gewisser Weise repetitiv, kann die digitale Technik hier vieles übernehmen. Schon heute gibt es im Kanzleialltag viele sich wiederholende Arbeiten, die ganz selbstverständlich von digitalen Tools übernommen werden. Steht eine Tätigkeit eher für einen einzelnen Fall, lohnt sich dieser Schritt nicht, da ist es effektiver, die Arbeit auf traditionelle Weise zu übernehmen.

In den Kanzleien kommt es also darauf an, zu entscheiden: Was machen wir digital – was weiterhin analog.
Ja, das sind neue Fragen, die sich in den Kanzleien stellen. Interessant wird es, wenn zwei Kulturen aufeinandertreffen. Vereinfacht gibt es diejenigen, die noch gerne die Idee bedienen, dass Juristen nur in der juristischen Manufaktur arbeiten. Dazu stoßen nun immer mehr aus einer jungen Generation, die mit Begriffen wie New Law oder Alternative Legal etwas anfangen können.

Stehen junge Jurist*innen vor der Entscheidung: Entweder-oder?
Ich glaube, dass man sich sein Profil heute noch selbst erstellen kann, ohne dabei Gefahr zu laufen, abgehängt zu werden. Jedoch steigen die Potenziale für alle, die diesen Beruf neu denken.

Wie wichtig ist juristisches Know-how, um die digitalen Tools zu implementieren?
Das ist in der Tat eine neue zentrale Aufgabe. Um repetitive Abläufe in standardisierte Prozesse zu überführen, wird juristisches Verständnis benötigt, zum Beispiel, um bei skalierbaren Fällen die richtigen Wenn-dann-Verknüpfungen zu erstellen. Bei diesen Themen kommt es darauf an, Jura- und IT-Kenntnisse zu verknüpfen. Die Teams, die an diesen Projekten arbeiten, sind entsprechend interdisziplinär besetzt. Junge Juristinnen und Juristen, die verstehen, wie IT-Prozesse funktionieren, haben gute Chancen, in diesen Teams eine wichtige Rolle zu spielen.

Die Aufgabe ist, das, was wir Anwälte in unserer juristischen Sprache klar benennen können, in die Technologie, in die Tools zu übersetzen.

Wo liegen die besonderen Herausforderungen bei der Transformation von juristischen Abläufen in IT-Prozesse?
Ein Thema ist hier sicherlich die Kommunikation. Juristen nutzen eine eigene Fachsprache, Informatiker auch. Die Aufgabe ist, das, was wir Anwälte in unserer juristischen Sprache klar benennen können, in die Technologie, in die Tools zu übersetzen. Je komplexer die juristischen Themen sind, desto wichtiger ist es, hier Fehler und Missverständnisse zu vermeiden. Ich glaube daher, dass das Finden einer gemeinsamen Sprache weiter an Bedeutung gewinnen wird.

Erkennen Sie, dass sich die Ansprüche der Mandanten ändern? Dass Sie auf digitale Lösungen pochen?
Ja, hier bewegt sich was. Wenn wir vor fünf, sechs Jahren in die Unternehmen kamen, waren diese häufig vergleichsweise wenig digitalisiert. Brachten wir digitale Lösungen mit, konnten wir damit punkten. Das ist heute schon nicht mehr der Fall, mittlerweile haben die Unternehmen digital und auch personell aufgerüstet, sie kennen die Möglichkeiten der Digitalisierung – entsprechend sind die Ansprüche gewachsen.

Wie reagieren Sie als Anwalt auf diese Entwicklung?
Ich finde das grundsätzlich gut, weil höhere Ansprüche meine Arbeit am Ende des Tages besser machen. Wobei wir auch hier festhalten sollten, dass nicht alle Kanzleien gezwungen sind, mit dieser Entwicklung mitzugehen. Es gibt welche, die ihren Markenkern nicht verändern. Weil sie sich treu bleiben wollen – oder auch, weil sie sich als kleinere Kanzleien schwertun, digitale Innovationen umzusetzen. Und ich denke schon, dass auch diese Kanzleien in bestimmten Bereichen weiterhin die Chance haben, sich am Markt zu behaupten.

Um repetitive Abläufe in standardisierte Prozesse zu überführen, wird juristisches Verständnis benötigt, zum Beispiel, um bei skalierbaren Fällen die richtigen Wenn-dann-Verknüpfungen zu erstellen.

Können Sie die gehobenen Ansprüche der Mandanten konkret machen?
Auf den Punkt gebracht: Wollen wir unsere Mandanten mit Legal-Tech-Anwendungen überzeugen, dann müssen sich diese am Niveau der Marktführer (oder großen Player etc.) orientieren. Sprich: Es kommt auf den Komfort und intuitive Bedienbarkeit an. Putzige Legal-Tech-Tools, die vor fünf Jahren noch für große Augen gesorgt haben, werden heute schon nicht mehr ernst genommen. Ein Beispiel, unsere Mandanten wissen, dass ihre Mitarbeitenden Plattformen für Budget-Reports oder Vertragsmanagement kaum nutzen werden, wenn sie sich immer wieder neu anmelden und immer die gleichen Daten eingeben müssen. Hier bedarf es einer möglichst einheitlichen Umgebung. Die Benchmark für Legal-Tech-Lösungen liegt heute sehr hoch, gerade was die Nutzerfreundlichkeit und den Ertrag betrifft. Und der Anspruch wird weiter steigen, da immer mehr große Anbieter in den Legal-Markt reingehen: Große Software- Konzerne erkennen, dass es eine große Nachfrage im Legal-Bereich gibt.

Was können digitale Plattformen, die mit Algorithmen und Big Data arbeiten, im besten Fall an Mehrwert generieren?
Durch das Zusammenführen von Daten über eine Plattform ergibt sich eine nie dagewesene Transparenz. Denken Sie zum Beispiel an Themen wie Korruption oder Geldwäsche. Wenn ich vorhandene Daten nutze und mit juristischen Prüflogiken verbinde, kann ich deutlich schneller und einfacher Verdachtsfälle aufzeigen. Oder nehmen Sie das Thema Ausschreibungen: Wenn man in der Lage ist, mit digitalen Tools Ausschreibungen zu durchleuchten, um anhand von Daten und Mustern eventuelle Verstöße gegen das Kartellrecht ausfindig zu machen, zeigt sich der Mehrwert: Das Unternehmen schützt sich vor Risiken durch böse Überraschungen. Wobei auch in diesem Fall die juristische Beratung nicht an Bedeutung verliert: Das Muster richtig in das Tool zu überführen ist auch Jura. Und dann ist die eine Sache, dass das Tool das Muster erkennt. Wie damit umzugehen ist, die andere.

Zum Unternehmen

KPMG Law Rechtsanwaltsgesellschaft mbH (KPMG Law) ist eine international ausgerichtete multidisziplinäre Kanzlei, die mit mehr als 350 Anwält*innen an 16 deutschen Standorten vertreten ist. KPMG Law ist als rechtlich eigenständige Wirtschaftskanzlei mit der KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft assoziiert und eng verbunden. Schwerpunkte der rechtlichen Beratung sind der öffentliche Sektor, Financial und Corporate Services sowie Beratung bei M&ATransaktionen, Joint Ventures sowie Reorganisations- oder Sanierungsprojekte im In- und Ausland.

KI beinhaltet Chancen und Risiken

In viele unserer Lebensbereiche hat Künstliche Intelligenz (KI) bereits Einzug gehalten. Gleiches gilt für unseren Arbeitsalltag und die Nutzung der digitalen Technologie in Unternehmen. Damit werden auch zahlreiche rechtliche Fragestellungen aufgeworfen, die es zu beantworten gilt. Von Christoph Berger

Im Januar 2019 nahm die Manchot Forschungsgruppe „Entscheidungsfindung mit Hilfe von Methoden der Künstlichen Intelligenz“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU) ihre wissenschaftlichen Arbeiten auf. Zunächst für drei Jahre. Doch bereits seit Juli 2021 ist klar, dass die Jürgen Manchot Stiftung die interdisziplinäre Forschungsgruppe auch ab Januar 2022 für weitere drei Jahre fördern wird. Ziel dabei ist es, die Künstliche Intelligenz (KI)-Forschung an der HHU zu vernetzen und ihre Anwendung in allen Fakultäten der Universität voranzutreiben.

Gestartet wurde 2019 mit drei Use Cases, wobei es in einem gemeinsamen Projekt der Betriebswirtschaftslehre und der Rechtswissenschaften um „Good Governance und Compliance“ geht: Wie kann gute Unternehmensführung durch KI unterstützt werden – fordern Gesellschaft und Staat von Unternehmen doch genau beides ein? Dies betreffe interne Abläufe im Unternehmen, wo Gesetze und gesellschaftliche Normen einzuhalten seien, aber auch das Verhältnis von Unternehmen und Staat, etwa die Besteuerung, heißt es in der Projektbeschreibung. Dabei sei der wachsende Einsatz von KI bei immer vielfältigeren Funktionen im Unternehmen im Hinblick auf diese Kriterien sowohl Chance – zum Beispiel bei der Erkennung von Normverstößen – als auch Aufgabe, etwa bei der Verhinderung von Diskriminierung durch Algorithmen. In dem Projekt wolle man analysieren und insbesondere beantworten, ob und unter welchen Bedingungen KI die Einhaltung gesellschaftlicher Normen unterstützt, Verstöße gegen geltende Regeln aufdeckt oder vorhersagt und wie makroökonomische Effekte des zunehmenden Einsatzes von KI zu behandeln sind.

KI: Abwägen von Chancen und Risiken

Das Projekt zeigt neben der fachlichen Beantwortung der aufgezählten Fragen vor allem eines: Bei KI geht es immer auch und vor allem um das Abwägen von Chancen und Risiken. Dies wird ebenso bei einem Blick in das von der Europäischen Kommission im Februar 2020 veröffentlichten Weißbuch „Zur Künstlichen Intelligenz – ein europäisches Konzept für Exzellenz und Vertrauen“ deutlich. Darin heißt es unter anderem: „Angesichts der erheblichen Auswirkungen, die KI auf unsere Gesellschaft und die notwendige Vertrauensbildung haben kann, ist es von entscheidender Bedeutung, dass die europäische KI auf unseren Werten und Grundrechten wie Menschenwürde und Schutz der Privatsphäre fußt. Zudem sollten die Auswirkungen von KI-Systemen nicht nur aus dem Blickwinkel des Einzelnen betrachtet werden, sondern auch aus der Perspektive der gesamten Gesellschaft.“ Der Deutsche Anwaltverein (DAV), der neben anderen Institutionen um eine Stellungnahme zu dem Weißbuch gebeten worden war, empfiehlt bei der Ausarbeitung eines neuen Rahmenwerks zur künstlichen Intelligenz folgende Erkenntnisse in Bezug auf das Recht zu berücksichtigen:

  • Die Einführung von KI-Systemen im Bereich der Justiz ist mit besonders hohen Grundrechtsrisiken verbunden und sollte daher strengen Anforderungen unterworfen werden.
  • Gerichtliche und ähnlich eingriffsintensive verbindliche Entscheidungen staatlicher Instanzen dürfen niemals vollständig automatisiert werden.
  • In jedem Fall müssen umfassende und sinnvolle Transparenzpflichten eingehalten werden.
  • Darüber hinaus müssen die Haftungsregeln auf EU-Ebene in Bezug auf KI erweitert werden. Ebenso müssen wirksame Rechtsbehelfs- und Kontrollmechanismen für den Einsatz von KI im Bereich der Justiz und der öffentlichen Verwaltung geschaffen werden.
  • Um den von der EU verfolgten menschenzentrierten Ansatz zu gewährleisten, müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten, dafür sorgen, dass die zunehmende Automatisierung von Dienstleistungen nicht zu einem Abbau von Arbeitsplätzen im Justizsektor führt, sondern zusätzliche Ausbildungsangebote und einen verstärkten Wissensaustausch für Angehörige von Rechtsberufen im Bereich KI schaffen.

KI bringt Vorteile

Prinzipiell gelte: „Wenn wir eine humane Gesellschaft erhalten wollen, in welcher der Mensch weiterhin die endgültigen Entscheidungen trifft, müssen wir jedoch sicherstellen, dass der Mensch die Kontrolle behält. Diese Überlegungen gelten insbesondere für die Bereiche Justiz, Strafverfolgung und öffentliche Verwaltung. Auch in diesen Bereichen, die für das Funktionieren jeder demokratischen Gesellschaft von zentraler Bedeutung sind, schreitet die Digitalisierung – wenn derzeit auch noch in einem frühen Stadium – voran.“ Dabei bedeute die Betonung der menschlichen Gesellschaft nicht, die Vorteile von Innovation und Fortschritt zu verkennen. So könne Technologie – einschließlich KI-basierter Instrumente – beispielsweise den Zugang zum Rechtssystem erweitern oder intelligente Systeme könnten eingesetzt werden, um die Einreichung von Schriftsätzen und die Ausfertigung von Gerichtsbeschlüssen in Zivilverfahren weitgehend zu automatisieren. Doch: „Sobald jedoch KI-basierte Technologie im Gerichtssaal oder in Entscheidungsprozessen angewandt wird, könnten Grundrechte ernsthaft beeinträchtigt werden.“

Wenn wir eine humane Gesellschaft erhalten wollen, in welcher der Mensch weiterhin die endgültigen Entscheidungen trifft, müssen wir jedoch sicherstellen, dass der Mensch die Kontrolle behält.

An einem geeigneten rechtlichen Rahmen für den KI-Einsatz arbeitet auch die Forschungsgruppe „Regulierung der digitalen Wirtschaft“ des Max-Planck-Instituts für Innovation und Wettbewerb. Identifiziert wurden von der juristischen Abteilung des Instituts mögliche Fragestellungen, die sich an der Schnittstelle zwischen Künstlicher Intelligenz und IP-Rechten, also dem gewerblichen Rechtsschutz, ergeben können. Und es werden verschiedene Richtungen aufgezeigt, wie Antworten gefunden werden könnten. Denn: Bislang fokussiere sich die politische und rechtliche Diskussion primär auf den Output, also das, was durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz oder zumindest unterstützt durch sie generiert werde.

Um beurteilen zu können, inwieweit das bestehende IP-System seine Funktion unter den Rahmenbedingungen dieser rasant voranschreitenden Technologie noch erfüllen könne, sei jedoch eine umfassendere Sichtweise notwendig, heißt es. Zu berücksichtigen seien insbesondere die einzelnen Schritte eines KI-getriebenen Innovationszyklus, in denen IP-Rechte eine Rolle spielen können. Die Untersuchung konzentriert sich dabei auf das materielle europäische Immaterialgüterrecht, insbesondere auf das Urheber-, Patent- und Geschmacksmusterrecht sowie den sui-generis-Schutz für Datenbanken, also das Datenbankherstellerrecht, und den Schutz von Geschäftsgeheimnissen. Es gibt also noch vieles zu regeln und zu gestalten, wenn es um den Einsatz Künstlicher Intelligenz im Recht geht.

Weiterführende Informationen zum Thema:

Europäische Kommission: Künstliche Intelligenz – Exzellenz und Vertrauen
Stellungnahme des DAV zum Weißbuch der EU-Kommission zu Künstlicher Intelligenz
Max-Planck-Analyse „Artificial Intelligence and Intellectual Property Law“ (PDF)

Weiterbildung

Masterstudiengang „Informationstechnologie und Recht“ des Instituts für Rechtsinformatik der Universität des Saarlandes

„KI & Recht kompakt“

cover KI RechtMatthias Hartmann (Hrsg.): KI & recht kompakt. Springer Vieweg 2020, 20 Euro

 

Das neue Urheberrecht

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Der deutsche Gesetzgeber hat auf die aktuellen und rasanten Entwicklungen in den Medientechnologien reagiert und das Urheberrecht umfassend reformiert. Bei dieser Reform handelt es sich um die umfangreichste der letzten 20 Jahre, weswegen sich ein Blick auf ausgewählte Neuregelungen lohnt. Von Adrienne Bauer, Rechtsanwältin bei der Beiten Burkhardt Rechtsanwaltsgesellschaft mbH in München

Das neue Urheberrechts-Diensteanbieter- Gesetz (UrhDaG) trat zum 1. August in Kraft, gleichzeitig finden sich umfangreiche Änderungen im Urhebergesetz (UrhG) selbst, die bereits seit 7. Juni 2021 in Kraft sind. Sollen Facebook, Youtube und Instagram selbst für Urheberrechtsverletzungen haften? Die Gerichte beschäftigt diese Frage seit Jahren, und in der Öffentlichkeit sind Konsequenzen automatisierter Upload-Filter ein kontrovers diskutiertes Thema. Es gab also dringenden Handlungsbedarf.

Das neue Urheberrecht stellt hier eine wichtige Weiche: Plattformanbieter müssen entweder Lizenzen für Inhalte erwerben oder sie müssen rechtsverletzende Inhalte blockieren. Tun sie weder das eine noch das andere, dann haften sie in der Regel selbst für Urheberrechtsverletzungen. Der Gesetzgeber hat jedoch den hohen Stellenwert der Meinungsfreiheit bei dieser Neuregelung beachtet und beim Einsatz von Upload-Filtern Ausnahmen für mutmaßlich erlaubte Nutzungen vorgesehen. Gemeint ist damit die geringfügige Nutzung fremder Inhalte oder die vom Uploader als erlaubt gekennzeichnete Nutzung (Flagging). Die Plattformen informieren den Rechteinhaber im Anschluss über den Upload und er kann Beschwerde einlegen.

Der EuGH hatte das Leistungsschutzrecht für Presseverleger 2019 aus formellen Gründen gekippt, jetzt wird es im Zuge der Reform neu eingeführt. Journalist* innen haben von nun an einen Anspruch auf eine angemessene Beteiligung an den Einnahmen, die die Presseverleger durch die Lizenzierung erhalten, um damit einer Ausbeutung journalistischer Inhalte entgegenzuwirken.

Das Text- und Data Mining ist eine Schlüsseltechnologie für maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz. Das Urheberrecht passt sich auch hier den technischen Entwicklungen an, so ist die Auswertung großer Datenmengen nun aufgrund gesetzlicher Nutzungserlaubnisse ohne Vergütungspflicht möglich.

Reproduktionen visueller Werke, die gemeinfrei sind, erhalten künftig keinen Leistungsschutz mehr (§ 68 UrhG), wobei diese Neuregelung eine teilweise Abkehr zur aktuellen BGH Rechtsprechung darstellt.

Online-Angebote von Universitäten sind ab jetzt rechtssicher europaweit nutzbar, so dass damit digitales Lehren und Lernen einfacher wird.

Die Modernisierung des Urheberrechts ergeht auf Grundlage von zwei EU-Richtlinien und sorgt auf diese Weise für eine europaweite Harmonisierung. Welche Auswirkungen ergeben sich durch die Neuregelungen für die anwaltliche Beratungspraxis? Auch wenn es unsicher ist, welche Plattformen vom neuen Haftungskonzept betroffen sind, werden Youtube, Facebook und Instagram auf automatisierte Verfahren in Form von Upload Filtern zurückgreifen, um ihre Sorgfaltspflichten zu erfüllen. Die Unterstützung von Anwälten wird in diesem Zusammenhang nötig sein, weil insbesondere die technischen Möglichkeiten zur Erkennbarkeit von zulässigen Zitaten und Parodien begrenzt sind.

Plattformregulierung 2.0 – die Reform des NetzDG

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Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, kurz NetzDG, war und ist Gegenstand heftiger Diskussionen, die vor allem über die Medien geführt werden, die von ihm betroffen sind: soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram oder Twitter. Mit einer Reform des NetzDG hat der Deutsche Bundestag auf einige Kritikpunkte reagiert. Was sind die wesentlichen Neuerungen, welche Kritik bleibt und wie geht es weiter? Von Dr. Tobias Frevert und Andreas Daum, LL.M. (LSE), Rechtsanwälte bei Noerr Partnerschaftsgesellschaft mbB

Seit dem 01.10.2017 sind soziale Netzwerke mit über zwei Millionen Usern verpflichtet, Nutzerinhalte, die von anderen Usern gemeldet worden sind und gegen Strafvorschriften verstoßen, innerhalb kurzer Zeit zu sperren. Sonst drohen Bußgelder bis zu fünf Millionen Euro. Während die einen argumentieren, das Gesetz fördere ein „Overblocking“ und beschneide die Meinungsfreiheit, sehen andere darin die richtige Antwort auf den immer weiter zunehmenden Hass im Netz. Nun hat der Deutsche Bundestag das NetzDG entscheidend reformiert.

Zum einen sollen die Betreiber sozialer Netzwerke nun verstärkt mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeiten, um den Kampf gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität im Netz zu verbessern. Allerdings gab es Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser Änderung, wegen derer der Bundespräsident zunächst seine Unterschrift verweigerte. Nach eiliger „Reparatur“ durch den Gesetzgeber konnte das Gesetz dann doch noch ausgefertigt und verkündet werden. Ab dem 01. Februar 2022 müssen soziale Netzwerke nun dem Bundeskriminalamt melden, wenn sie den konkreten Verdacht haben, User könnten Straftaten wie „Volksverhetzung“ oder „Bedrohung“ verwirklicht haben. Zum anderen setzt die Reform Verbesserungen um, die sich aus den bisherigen Erfahrungen mit dem Gesetz ergeben haben.

Kritiker bemängeln, das NetzDG lege die staatliche Aufgabe, für die Einhaltung der Rechtsordnung zu sorgen, in die Hände der sozialen Netzwerke.

Soziale Netzwerke müssen nun ein transparentes Verfahren vorhalten, in dem ihre User die Entscheidung über die Löschung oder Sperrung nochmals überprüfen lassen können. Außerdem dürfen die sozialen Medien die Beschwerdemöglichkeit nicht auf der Website „verstecken“; die Nutzer müssen sie über wenige Klicks einfach erreichen. Das Parlament reagiert damit auf einige soziale Plattformen, die ihren Usern die Prüfung unnötig erschwert hatten. Das Bundesamt für Justiz hatte deswegen etwa Facebook gerügt, und auch beim Messenger Telegram Verbesserungsbedarf gesehen. Kritiker bemängeln, das NetzDG lege die staatliche Aufgabe, für die Einhaltung der Rechtsordnung zu sorgen, in die Hände der sozialen Netzwerke. Dieselbe Kritik wird auch am Urheberrechts-Diensteanbieter-Gesetz geübt, das am 1. August 2021 in Kraft getreten ist und den sozialen Netzwerken ähnliche Aufgaben zuweist, um Urheberrechtsverletzungen ihrer Nutzer zu unterbinden.

Auf europäische Ebene wirft der „Digital Services Act“, der über den Inhalt des NetzDG weit hinaus geht und die Regulierung von Plattformen europaweit vereinheitlichen soll, bereits seine Schatten voraus. Die Zukunft des NetzDG ist daher ungewiss. Die Europäische Kommission hat klargestellt, dass die europäische Regelung sämtliche nationalen Vorschriften verdrängen soll. Die vieldiskutierten Änderungen des NetzDG könnten sich daher als kurzlebig erweisen. Doch angesichts der vielen unterschiedlichen nationalen Vorschriften sind einheitliche Regeln für soziale Plattformen, die ihre Dienste in ganz Europa anbieten, nur zu begrüßen.

Das Lieferketten­sorgfalts­pflichten­gesetz

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Mit dem neuen „Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz“, umgangssprachlich besser bekannt als „Lieferkettengesetz“, sollen alle an einem Produkt beteiligten Menschen unter akzeptablen, allgemein anerkannten ethischen und wirtschaftlichen Standards an der Wertschöpfung partizipieren können. Von Dr. Campos Nave, Geschäftsführender Partner und Leiter des Geschäftsbereichs Rechtsberatung bei Rödl & Partner, und Clemens Bauer, Associate bei Rödl & Partner

Die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen gewinnt zunehmend an Bedeutung und spielt schon heute im Rahmen der sogenannten „Corporate Social Responsibility“ eine entscheidende Rolle bei der nachhaltigen Ausrichtung unternehmerischer Tätigkeit. Denn ausbeuterische, rücksichtslose und umweltzerstörerische Herstellungs- und Beschaffungsprozesse werden von einer für diese Angelegenheiten zunehmend sensibilisierten Weltöffentlichkeit nicht nur kritisch beobachtet, sondern immer häufiger auch durch angepasstes Konsumverhalten abgestraft.

Als neuer Meilenstein hat der deutsche Gesetzgeber am 11. Juni 2021 mit dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz eine gesetzliche Verpflichtung zur Ausgestaltung nachhaltiger Lieferketten beschlossen. Unternehmen werden unter Androhung von Strafe verpflichtet, Maßnahmen einzuführen, die es ermöglichen, menschenrechtliche und umweltbezogene Risiken innerhalb der Lieferkette zu erkennen und zu minimieren. Entlang der gesamten Wertschöpfungskette müssen die international geltenden Standards zum Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie zur Einhaltung der Menschenrechte befolgt werden.

Verantwortung der Unternehmen für Menschenrechtsschutz

Das Lieferkettengesetz geht auf die im Jahr 2011 beschlossenen UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte (UN Guiding Principles on Business and Human Rights) zurück, die Sorgfaltspflichten von Unternehmen zur Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards festlegen und dabei von drei maßgeblichen Säulen ausgehen: Der Pflicht der Staaten, Menschenrechte zu schützen (I), der Pflicht der Unternehmen, die Menschenrechte zu respektieren (II), und das Recht auf Wiedergutmachung im Falle erlittener Menschenrechtsverletzungen durch wirtschaftliche Akteure (III). Diese Leitlinien bieten einen Bezugsrahmen für die Regulierung der wirtschaftlichen Tätigkeit insbesondere international tätiger Unternehmen entlang der gesamten Wertschöpfungskette „vom Rohstoff zum Endprodukt“ und bilden den Ausgangspunkt für das deutsche Lieferkettengesetz.

Pflicht zur Einführung von Präventions- und Abhilfemaßnahmen

Der Schutz der Menschenrechte in globalen Lieferketten soll durch die Umsetzung bestimmter Sorgfaltspflichten gewährleistet werden. Der Gesetzgeber verlangt konkret, Missstände frühzeitig zu erkennen und gegenzusteuern. Hierfür ist eine umfassende Risikoanalyse sowie aufeinander aufbauende und miteinander verknüpfte Präventions- und Abhilfemaßnahmen wie die Einrichtung eines Risikomanagementsystems vorgesehen. Auf deutsche Unternehmen wächst in Folge der Druck, sich mit Strategien zur Vermeidung von Menschenrechtsverstößen und Umweltskandalen in ihrer Lieferkette auseinanderzusetzen. Berater können hierbei als Erfolgsbegleiter unterstützen. Mit Blick auf die vielfältigen und für Unternehmen oft schlecht greifbaren Anforderungen, stellt die Umsetzung einer erfolgreichen Nachhaltigkeitsstrategie in der Wertschöpfungskette ein attraktives Tätigkeitsfeld für Rechtsanwälte im internationalen Umfeld dar.

„Fit for law“: Das Nachhaltigkeitsrecht als neues juristisches Tätigkeitsfeld

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Viele Gesetze sind mit dem umfassenden Themenfeld der Nachhaltigkeit beschäftigt. Doch prinzipiell sollte auch die juristische Tätigkeit in all ihren Erscheinungsformen hinsichtlich dieses Konzepts kritisch reflektiert werden und sich dementsprechend ausrichten. Von Dr. Dr. Markus Beham, LL.M. (Columbia), Akademischer Rat am Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Völkerrecht, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht der Universität Passau und Mitherausgeber der Fachzeitschrift „Nachhaltigkeitsrecht“

Der Begriff „Nachhaltigkeit“ ist mittlerweile Teil unseres täglichen Sprachgebrauchs geworden. Als „sustainable development“ umfasst der Begriff über die „sustainable development goals“ (SDGs) die komplexen Zusammenhänge zwischen Umweltschutz, wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung. Auf der europäischen Ebene findet sich mittlerweile ein ambitionierter Nachhaltigkeitsbegriff eigener Prägung: Die Union setzt mit dem „Green Deal“ ein Bekenntnis zur nachhaltigen Kreislaufwirtschaft mit dem Ziel eines klimaneutralen Europas bis zum Jahr 2050. Letztlich ist nicht weniger als eine Neuausrichtung hin zur Kreislaufwirtschaft geplant.

Die Nachhaltigkeit lässt sich als gesellschaftspolitische Leitidee allerdings nur dann verwirklichen, wenn ihr auch der Sprung zum allgemeingültigen, rechtlichen Leitprinzip gelingt. Das Recht kann und wird zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele nur ganzheitlich seine volle Wirkung entfalten. Es ist somit auch nicht mehr genüge getan, dieses bloß entlang der „klassischen“ Linien zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht abzugrenzen. Rechtswissenschaft und Praxis sind dazu aufgerufen, ihre Ansätze neu zu denken: als Nachhaltigkeitsrecht. Damit wird dieses auch zu einem neuen juristischen Tätigkeitsfeld.

Podcast

Podcastfolge zum Thema Nachhaltigkeitsrecht

Während das Umwelt-, Energie- und Vergaberecht weiterhin zentrale Rechtsgebiete zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele bleiben werden, wäre eine Beschränkung darauf zu kurz gegriffen. Das wachsende Phänomen der Klimaklagen demonstriert eindrücklich, wie bereits das allgemeine Zivilrecht über Fragen der Kausalität die Möglichkeiten des Verfahrensausgangs begrenzt. Im Gesellschafts- und Unternehmensrecht bestimmt neben Fragen wie „corporate social responsibility“ bereits deren formelle Ordnungsfunktion über Kontroll- und Transparenzmechanismen den Charakter einer Wirtschaftsordnung. Das (europäische) Bank- und Finanzmarktrecht befasst sich schon länger mit dem steigenden Bedürfnis nach grünen beziehungsweise nachhaltigen Finanzprodukten („sustainable finance“) wie etwa „green bonds“. Während sich das Steuerrecht als offensichtlichstes wirtschaftliches Lenkungsinstrument anbietet, steckt das Strafrecht – als ultimativer Ausdruck gesellschaftlicher Sanktionierung – wohl den äußeren Rahmen für die Nachhaltigkeitsziele ab.

Wie sich die Gesellschaft zunehmend dem Anliegen nachhaltiger Konzepte in allen Lebensbereichen hinwendet, muss auch die juristische Tätigkeit in all ihren Erscheinungsformen kritisch reflektiert werden. Das Nachhaltigkeitsrecht wird damit unweigerlich zur juristischen Kernkompetenz. Der juristische Berufsstand wird seine Tätigkeit in Zukunft daran messen müssen, um auch weiterhin seine gesellschaftliche Funktion zu erfüllen.

Zeitschrift „Nachhaltigkeitsrecht“

cover nachhaltigkeitsrechtDie juristische Tätigkeit muss nachhaltig werden: Diesen Ansatz verfolgt die neue Zeitschrift „Nachhaltigkeitsrecht“, die eine Plattform für den Austausch und die Auseinandersetzung mit der ganzheitlichen Betrachtung des Rechts als Instrument zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele bietet.

 

„Die Wahrheit hält die Gesellschaft zusammen“

In seinem Buch „Lüg mich nicht an!“ beschreibt der Jurist und Gerechtigkeitsforscher Markus Schollmeyer seine Erfahrungen bei der Wahrheitssuche. Doch er betont, dass es sich dabei nicht um ein Fachbuch für Anwälte handelt. Denn: Ehrlichkeit und Wahrheit würde uns allen ein besseres Leben ermöglichen. Die Fragen stellte Christoph Berger

Zur Person

Markus Schollmeyer, geboren 1969, studierte Rechtswissenschaften und Journalismus in Los Angeles, Hamburg und München. Seit 30 Jahren ist er zugelassener Rechtsanwalt und seit 15 Jahren als Coach in München tätig. Seit Gründung seines Instituts für Gerechtigkeitsforschung ist er in Medien und auf Kongressen Redner und Experte zu den Themen Fairness, Gerechtigkeit und soziale Intelligenz. Neben seinen Mitgliedschaften in diversen Vereinen und Verbänden engagiert er sich als (Mit)Gründer zahlreicher Start-ups weltweit. 2019 war er Experte in der Sat-1-Sendung „Ungelogen – das ehrlichste Gespräch“, die den Impuls zum vorliegenden Buch gab. www.markusschollmeyer.com

Herr Schollmeyer, wie definieren Sie den Begriff Wahrheit?
Die Wahrheit ist eine Feststellung, die frei von Lügen, Verfälschungen und Unrichtigkeiten ist.

Und gibt es diese eine Wahrheit an sich?
Nein, die gibt es nicht. Aber es gibt Wahrheit, Augenzeugen kennen sie zum Beispiel.

Ich habe den Eindruck, dass es heute immer schwieriger wird, über Wahrheit zu sprechen, jeder Mensch hat seine eigene Wahrheit.
Es gilt, zwischen Wahrheit und Meinung zu unterscheiden. Beim Austausch von Meinungen fühlen sich Menschen angegriffen und sagen: Das stimmt doch überhaupt nicht. Meinungen können immer stimmen.

Aber zu was führen Unrichtigkeiten und Lügen?
Lügen spalten die Gesellschaft.

Muss jeder Mensch damit rechnen, belogen zu werden?
Klar, mehrmals am Tag sogar.

In Ihrem Buch „Lüg mich nicht an!“ schreiben Sie, dass es für Wahrheit Vertrauen bedarf. Ist Vertrauen dann nicht Naivität?
Wenn ich vertrauen kann, bin ich nie naiv. Nur, wenn ich nicht vertrauen kann, wenn ich nicht erkenne, dass ich belogen werde, bin ich naiv. Naivität wäre es, auf die Richtigkeit der Dinge zu vertrauen, auf „es wird schon irgendwie werden“.

Welche Rolle spielt die Wahrheit in der Welt des Rechts?
So gut wie keine. Die Wahrheit interessiert vor Gericht nur die wenigsten Leute. Dort geht es nur darum, das Verfahren abzuschließen, um Prozesseffektivität. Und der erfolgreichste Anwalt ist der, der die Interessen des Mandanten durchsetzt. Ob dies mit einer Lüge geschieht oder nicht, ist vollkommen egal – nirgendwo wird mehr gelogen als vor Gericht. Das Gericht ist ein Ort geworden, an dem sich Menschen auf körperlich gewaltfreie Art ihre Vorteile sichern wollen.

Wie wichtig ist es aber für den Anwalt, die Wahrheit über seine Mandanten zu kennen?
Dies würde ich als sehr wichtig erachten, da man ansonsten schnell instrumentalisiert wird. Das wäre dann wieder Naivität.

Aus Ihrer Erfahrung: Ist das Vertrauen zwischen Anwalt und Mandant in der Regel von Beginn an so vertrauensvoll, dass der Anwalt die Wahrheit erfährt?
Das hängt davon ab, wie sich der Anwalt aufstellt. Wenn bei der Annahme des Mandats klargemacht wird, dass Ehrlichkeit erwartet wird und die Konsequenz für Nichtwahrheit die Niederlegung des Mandats bedeuten kann, dann knicken die meisten Mandanten ein und packen aus. Auch durch gutes Zuhören und Hinterfragen kommt man der Wahrheit näher.

Manchmal tun sich aber auch Anwälte leichter, wenn sie davon ausgehen, einen unschuldigen statt den wahren Täter vor sich zu haben.

In Ihrem Buch gehen Sie auch auf zulässige Lügen im Bewerbungsgespräch ein.
Vom Bundesarbeitsgericht wurden unzulässige Fragen festgestellt. Der Klassiker: Sind Sie schwanger? Auch eine Schwerbehinderung muss nicht angegeben werden, die Frage danach kann unwahr beantwortet werden. Es sei denn, sie beeinträchtigt die später auszuübende Tätigkeit.

Wie bewerten Sie demnach die Tatsache, dass das Recht oftmals über der Wahrheit steht?
Das ist ein grober Fehler. Das Recht hat der Wahrheit zu dienen und zu folgen. Und nicht andersrum.

Man kann ja beobachten und schauen, in welchen Situationen ein Mensch besonders nervös wird, und zu denen kann man nachfragen.

Das Finden der Wahrheit ist jedoch äußerst kompliziert. Wie steht sich jeder Mensch selbst beim Finden der Wahrheit im Weg?
Wenn er nur von sich ausgeht und sich nicht auf sein Gegenüber einlässt. Wer auf der Suche nach der Wahrheit ist, muss erst einmal wissen, wer er selbst ist, ansonsten kommt es zu Verzerrungen. Wer man ist, lässt sich übrigens relativ schnell mit Hilfe des Tests in meinem Buch rausfinden. Denn es ist so: Je ähnlicher mir ein Mensch ist, desto symphytischer ist er mir. Ist mir jemand hingegen unsympathisch, unterstelle ich ihm schnell mal eine Lüge.

Wie funktioniert die von Ihnen entwickelte BACON-Methode, mit deren Hilfe man der Wahrheit auf die Spur kommen kann?
Ein Lügendetektor funktioniert, indem er gewisse Werte eines Menschen misst. Verändern sich diese, geht man von Stress aus – und bei einer Lüge hat der Mensch Stress. Der Name meiner Methode resultiert aus „baseline context“. Ich schaue mir also die Basis eines Menschen an, ist er ruhig oder hektisch oder abgeklärt oder introvertiert. Und diese Erkenntnisse vergleiche ich mit dem Verhalten in konkreten Situationen. Man kann ja beobachten und schauen, in welchen Situationen ein Mensch besonders nervös wird, und zu denen kann man nachfragen.

Und in der gesamtgesellschaftlichen Betrachtung, warum ist die Wahrheit für die Allgemeinheit so wichtig?
Weil man sie als gemeinsames Fundament für die Einigung der Gesellschaft nehmen und damit der Spaltung entgegenwirken könnte. Der eigene Vorteil und das Verdrehen der Tatsachen sind ja nicht das Ziel des Lebens. Oder anders gesagt: Es gibt Dinge, die über dem eigenen Vorteil stehen. Man muss sich das mal vorstellen. Wegen Lügen wurden schon Kriege begonnen. Lügen führen immer zu Konflikten, und von denen haben wir genug in der Welt. Mit der Wahrheit könnte man die Welt zumindest ein wenig friedlicher und harmonischer gestalten und damit ein besseres Leben für alle ermöglichen. Es geht dabei nicht um neue Umverteilungsmaßnahmen oder finanzielle Aspekte. Nehmen Sie das Beispiel Mobbing: Diese Art der psychischen Gewalt basiert auch meist auf Lügen.

Ihr Buch ist demnach ein Plädoyer für mehr Ehrlichkeit?
Der Arbeitstitel des Buches war „Der Wert der Wahrheit“. Diesen „Wert“ würde ich gerne wieder in Erinnerung bringen. Die Wahrheit hält die Gesellschaft zusammen, die Unwahrheit spaltet sie. Wobei verschwiegene Wahrheit auch unwahr ist.

cover lüg mich nicht anMarkus Schollmeyer:
Lüg mich nicht an! Kösel Verlag 2021, 16 Euro

Zwei strikt voneinander getrennte Welten

Karabo Morake hat zwei Leidenschaften: das Tanzen und Jura. Und in beiden ist er erfolgreich. Doch verbinden lassen sich diese Leidenschaften nicht, wie er sagt. Vielmehr versucht er, sie strikt voneinander zu trennen. Aufgezeichnet von Christoph Berger

Dass Karabo Morake in unterschiedlichsten Welten lebt und arbeitet, verdeutlicht schon die Vielzahl seiner Social Media-Accounts: „Ein Account ist für meine Model- und Influencer-Tätigkeit, einer für mein Leben als Tänzer. Mein LinkedIn-Account dagegen ist professionell auf meine anwaltliche Tätigkeit ausgerichtet“, erzählt er. Die Welten, wie er sagt, seien strikt voneinander getrennt. Das liege an den manchmal ihm gegenüber aufkommenden Vorbehalten: Kann ein hervorragender Tänzer auch ein hervorragender Anwalt sein?

Wenn Karabo dann von seinen Kindheitstagen und seinem Start in Tanzleben erzählt, wird schnell deutlich, dass sein Leben schon lange in voneinander getrennte Bereiche unterteilt ist. Als Elfjähriger begann er in Südafrika zu tanzen. Von morgens bis nachmittags besuchte er die High-School. Dort war er Musterschüler mit besten Noten. Danach ging er täglich ins Tanzstudio, um die unterschiedlichsten Tanzstile zu erlernen: Latein- und Standardtänze oder auch Hiphop. Diese Nachmittage zogen sich meist bis 22 Uhr. Karabo war dabei einer von wenigen Schwarzen, die Tanzschule besuchten vor allem Weiße. Außerdem erzählt er: „Meine Mitschüler sagten, dass nur Mädchen tanzen.“ Nicht nur der Tag war damit zweigeteilt, sondern auch sein soziales Leben.

Meisterhafter Tänzer

Doch von der Voreingenommenheit seines schulischen Umfelds ließ sich Karabo nicht beirren. Vielmehr entwickelte er eine Leidenschaft und Beharrlichkeit, die ihn sowohl zu einer professionellen Tanzausbildung als auch zu zahlreichen Wettbewerbserfolgen führen sollte: Karabo studierte Tanz am Mmabana Arts Council Institute / Arts School sowie in der südafrikanischen Metropole Kapstadt, er war südafrikanischer Junioren- und Jugendmeister und trat in verschiedensten Fernsehformaten auf. In der Sendung „So you think you can dance“ schaffte er es 2013 in die Top 24, bei den Dance Awards 2016 in Johannesburg wurde er zum besten lateinamerikanischen Tänzer Südafrikas gekürt. Zudem wurde er nach seinem Umzug nach Deutschland auch Meister in Rheinland-Pfalz und Deutschland in Lateinamerikanischem Standardtanz. Und er betreibt seit 2020 eine eigene Tanzschule im rheinland-pfälzischen Konz.

Doch neben dem Tanzen hat Karabo noch eine zweite große Leidenschaft: Die Juristerei. Als seine Eltern sich nach seinem Schulabschluss wünschten, dass er eine „solide“ Ausbildung mit Studienabschluss absolvieren solle – Tanzen sei ja schließlich nur ein Hobby, war für ihn schnell klar, dass dies nur ein Jurastudium sein kann. Aufgrund seiner guten Schulnoten erhielt er ein Stipendium und absolvierte von 2009 bis 2012 in Südafrika ein Bachelor-Studium Law. 2013 erwarb er einen Associate- Abschluss in Law, 2015 Associate-Abschlüsse in Business Rescue Practice und Mediation. Er arbeitete fast fünf Jahre als Junior Legal Account Manager Executive bei einem südafrikanischen Unternehmen für Rechtsschutzversicherungen und noch drei Monate als juristischer Entwicklungsstratege, wie es auf seinem LinkedIn-Profil heißt. Karabo hatte In Südafrika ein Haus, einen gut dotierten Anwaltsjob und Erfolg beim Tanzen. In beiden Welten hatte er es geschafft. Doch dann kam es 2018 zu einer folgenschweren Begegnung, die ihn zwar nicht sein gesamtes Leben umkrempeln ließ, die aber immerhin den Umzug von Südafrika nach Deutschland nach sich zog: Er lernte seinen heutigen Mann kennen, einen Deutschen, der damals Urlaub in Südafrika machte. Karabo kündigte seinen Job und begann Deutsch zu lernen. Am Wettbewerb zur nationalen Ausscheidung Mr. Gay World Südafrika nahm er noch teil – mit Erfolg, er wurde zum Sieger gekürt. Doch dann hieß es: Fuß in Deutschland fassen.

Erfolg auch in Deutschland

Deutschland gefällt Karabo inzwischen sehr gut. Er mag vor allem das „Durchorganisierte“. Doch eine Hürde brachte der Umzug auch mit sich: Seine südafrikanischen Studienabschlüsse wurden in Deutschland nicht anerkannt. Er brauchte eine Zusatzqualifikation, um zumindest in Deutschland lebende Südafrikaner in Südafrika anwaltlich vertreten zu dürfen. Also belegte er den Kurs „Contract Law“ an der Harvard Law School, den er 2020 erfolgreich abschloss. Bei der Rechtsanwaltskammer Koblenz ist er inzwischen eingetragener Jurist.

Weitere Infos

Tanzschule von Karabo Morake
Anwaltsprofil von Karabo Morake
Model Karabo Morake bei Instagram
Tanzprofil bei Instragram

„Mein Tag braucht mehr als 24 Stunden, ich weiß nicht, wie ich das alles schaffe“, sagt Karabo lachend. Denn als wären die Berufe als professioneller Tänzer mit eigener Tanzschule und als Anwalt nicht schon genug, ist er auch als Model und Influencer erfolgreich. Über 10.000 Follower weist sein offizielles Instagram-Profil auf, wo er für große Wäschemarken als Model vor der Kamera steht. Und einen Mode-Blog gibt es auch. Dass der Tänzer oder das Model Karabo Morake dabei vom Juristen Karabo Morake profitiert oder umgekehrt, dass eine Tätigkeit die andere auf irgendeine Art beeinflusst, schließ Karabo aus: „Die Welten sind klar voneinander getrennt.“ Allerdings scheint es eine Gemeinsamkeit doch zu geben. Nämlich das Streben nach Erfolg. So sagte er in einem Filmbeitrag des SWR über sich: „Ich habe zwei Träume. Ich will eine Kanzlei in Deutschland haben und ich will Weltmeister im Lateinamerikanischen Tanz werden.“

 

 

 

Gibt es ein Recht auf mobiles Arbeiten?

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In der Pandemie wurde er für viele Menschen zur Normalität: der Arbeitsplatz Zuhause. Oder das mobile Arbeiten von welchem Ort auch immer. Doch wie geht es mit dem Recht auf beides nach Corona weiter? Von Christoph Berger

Mit dem Auslaufen der Corona-Notbremse endete am 30. Juni 2021 auch die Pflicht für Arbeitgeber, ihren Beschäftigten die Arbeit im Homeoffice zu ermöglichen. Allerdings diskutiert nun die Politik darüber, ob es einen rechtlichen Anspruch auf das mobile Arbeiten geben sollte. Eine Frage, deren Antwort für einen Großteil der deutschen Bevölkerung klar zu sein scheint. So sehen laut der aktuellen Randstad-Studie „Employer Brand Research 2021“ 43 Prozent der Befragten das Homeoffice-Angebot als eines der wichtigsten Kriterien bei der Arbeitgeberwahl. „Die Diskussion, ob es ein Gesetz braucht oder nicht, ist schon längst überholt“, sagt Richard Jager, CEO von Randstad Deutschland. „Der deutsche Arbeitsmarkt ist heute vielmehr ein Arbeitnehmermarkt. Wer für neue und bestehende Mitarbeiter*innen attraktiv bleiben will, lässt sich am besten schnell etwas einfallen.“

So wünsche sich bereits beispielsweise fast jede zweite Frau (47%) die Option auf mobiles Arbeiten. Unter den Männern sind es 40 Prozent. Jager gibt allerdings zu bedenken, dass die Arbeit von Zuhause nicht zu einer steigenden Doppelbelastung für Frauen werden dürfe. Überhaupt sei die Annahme der Homeoffice- Möglichkeit eine Typ-Frage: Mit pauschalen Lösungen würden Arbeitgeber ihren Mitarbeiter*innen und damit dem eigenen Unternehmen insgesamt keinen Gefallen tun, führt Jager aus. Das Randstad Arbeitsbarometer aus dem 2. Halbjahr 2020 habe gezeigt, dass 32 Prozent der Deutschen eine Hybrid-Lösung bevorzugen, also das Angebot, sowohl im Büro als auch von Zuhause arbeiten zu können.

Auch Forscherinnen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) und des Hugo-Sinzheimer-Instituts (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung halten ein Recht auf mobiles Arbeiten in Zukunft für notwendig. Nur ein Rechtsanspruch, „der mobile Arbeit legitimiert und normalisiert, holt mobile Arbeit aus der ‚Grauzone‘ der betrieblichen Arbeitsgestaltung“, analysieren Dr. Yvonne Lott, Dr. Elke Ahlers, Dr. Johanna Wenckebach und Dr. Aline Zucco in der Studie „Recht auf mobile Arbeit – warum wir es brauchen, was es regeln muss“. Dr. Johanna Wenckebach, Wissenschaftliche Direktorin des HSI sagt dazu: „Ein Rechtsanspruch auf mobile Arbeit muss nicht nur so ausgestaltet sein, dass es in der Hand der Beschäftigten liegt, diese auch in Anspruch zu nehmen, sondern auch einen eindeutigen gesetzlichen Rahmen schaffen, anhand dessen im Streitfall eindeutig über Rechte oder Ansprüche entschieden werden kann.“.

Folgende Aspekte müssten dabei unbedingt geklärt sein, analysieren die Forscherinnen: Mobile Arbeit müsse für die Beschäftigten immer freiwillig sein, sie sollte flexibel, also ohne lange Vorlauffristen, genommen und beendet werden können. Ein neues zwingendes Mitbestimmungsrecht zur betrieblichen Einführung und Ausgestaltung mobiler Arbeit müsse das individuelle Recht auf mobile Arbeit flankieren. Hierzu bedürfe es einer Ergänzung des Betriebsverfassungsgesetzes. Der Arbeitsschutz, insbesondere die Zeiterfassung, gelte zwar selbstverständlich schon nach heutiger Rechtslage auch bei mobiler Arbeit, dies sollte jedoch gesetzlich klargestellt werden. Des Weiteren müssten Regelungen zum Datenschutz, für den Versicherungsschutz und zur Ausstattung der Arbeitsplätze sowie zur steuerlichen Absetzbarkeit mit einem Rechtsanspruch auf mobile Arbeit einhergehen.