Der digitale Humanist Prof. Dr. Dr. h. c. Julian Nida-Rümelin im Interview

Julian Nida-Rümelin zählt zu den bekanntesten philosophischen Denkern Europas. Seit einigen Jahren widmet er sich der Frage, wie sich ein digitaler Humanismus gestalten lässt, der ethische Fragen nicht zugunsten einer blinden Technikgläubigkeit ausgrenzt. Im Interview berichtet der Philosoph von gedanklichen Schieflagen, die entweder die Künstliche Intelligenz überhöhen oder den Menschen als Maschine interpretieren. Seine Forderung: Der Mensch bleibt der Autor seines Lebens, die KI ist sein komplementäres Werkzeug, mit dessen Hilfe er die immensen Probleme der globalen Gesellschaft löst. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Prof. Dr. Dr. h. c. Julian Nida-Rümelin absolvierte ein Doppelstudium Physik und Philosophie und war bis 2020 Professor für Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, er ist Honorarprofessor an der Humboldt Universität Berlin und wirkt als Gastprofessor an ausländischen Hochschulen. Er ist Mitglied mehrerer Akademien und Direktor am Bayerischen Forschungsinstitut für digitale Transformation. Er wechselte für fünf Jahre von der Wissenschaft in die Kulturpolitik, zunächst als Kulturreferent von München und anschließend als Staatsminister für Kultur und Medien im ersten Kabinett Schröder. Er publiziert regelmäßig Zeitungsartikel, Bücher und wissenschaftliche Aufsätze und hält Vorträge in Unternehmen und Verbänden. Zuletzt erschienen ist sein Buch „Die Realität des Risikos: Über den vernünftigen Umgang mit Gefahren“.

https://julian-nida-ruemelin.com

Herr Prof. Nida-Rümelin, Sie nutzen den Begriff des Digitalen Humanismus seit Mitte der 00er-Jahre, 2018 erschien Ihr Buch zu diesem Thema. Welchen Stellenwert nimmt der Digitale Humanismus heute, im Jahr 2022, ein?
Ich bin auf der einen Seite positiv überrascht, da wir einige erstaunliche Entwicklungen beobachten. In Wien ist die Initiative „Digital Humanism“ gegründet worden, es sind interessante Bücher erschienen, in Dokumenten der EU finden sich Begriffe wie „human centred AI“, Enrico Letta, der ehemalige Ministerpräsident von Italien, hat gesagt, es gebe für Europa zwei große Ziele, einmal das Klima aber eben auch die Gestaltung eines digitalen Humanismus. Die Debatte ist also breiter geworden, was aber immer auch einen negativen Effekt impliziert: Unser Ansatz ist dadurch verwässert worden.

Woran machen Sie das fest?
Wenn davon geredet wird, wir müssten neue Kooperationen zwischen Menschen und Maschinen etablieren, dann bin ich zunächst einmal einverstanden. Man darf nur nicht denken, dass es da auf der Seite der Maschine jemanden gibt, mit dem man tatsächlich kooperieren könnte.

Den gibt es nicht?
Nein. Zu denken, eine Maschine wäre unser Kooperationspartner in dem Sinne, dass wir gemeinsam mit ihm handeln, ist eine animistische Vision. Denn in einer Maschine steckt niemand, kein Akteur, keine subjektive Perspektive, keine Person.

Der Mensch neigt ständig dazu, Dinge zu „vermenschlichen“, von Computern bis zum Auto. Warum ist das eigentlich so?
Das ist eine spannende philosophische Frage, für deren Beantwortung wir ein paar Jahrhunderte zurück in die Zeit gehen müssen. Es gab damals allerhand Begebenheiten, für die man keine wissenschaftliche Erklärung hatte. Warum gibt es die Jahreszeiten? Warum geht die Sonne abends unter und morgens zuverlässig wieder auf? Zu sagen: „Ist halt so“ – das liegt dem Menschen nicht. Da, wo er keine Interpretationen oder Erklärungen hat, sucht er sich welche. Mein Lieblingsbeispiel sind die Regentänze: Ist es zu lange trocken, sagen sich die Leute, so kann es nicht weitergehen, wir müssen etwas dagegen tun – und da es sich bei der Dürre vielleicht um eine Bestrafung der Götter handelt, tanzen wir ihnen zu Ehren. Und, potzblitz, kommt irgendwann danach der Regen. Schon bestätigt sich für diese Menschen empirisch die Praxis: auf den Regentanz folgt der Regen. Dass dieser auch ohne den Tanz gefallen wäre, wer will denn das beweisen können? Interessant ist nun, dass sich diese animistische Sichtweise bis heute gehalten hat. Wenn Sie den Wetterbericht schauen, dann hören Sie ständig Formulierungen wie: „Der Sonne wird es nicht gelingen, die Wolkendecke zu durchdringen.“ Auch gibt es Hoch- und Tiefdruckgebiete, die gegeneinander kämpfen, und im Falle einer Flut bahnt sich das Wasser einen Weg, als sei es intelligent unterwegs.

Bildhafte Sprache kommt bei den Menschen besser an.
Klar, das nimmt auch niemand ernst. Aber beim Thema der Software-Entwicklung und der Künstlichen Intelligenz ergibt sich daraus ein Problem: Wir Menschen designen die Applikationen so, als ob sie Präferenzen hätten, als ob sie uns Ratschläge gäben – und dann sagt man hinterher: „Hoppla, so, wie sich diese Maschinen verhalten, müssen sie ja eben doch mentale Zustände aufweisen.“ Dabei – und das ist der Selbstbetrug – haben wir Menschen die Software so designt, dass sie sich so verhält.

Warum dieser Selbstbetrug?
An dieser Stelle geht es von der Philosophie in die Tiefenpsychologie. Wobei wir dabei besonders über junge Männer sprechen müssen, schließlich sind fast 85 Prozent der Software-Entwickler im Silicon Valley männlich. E.T.A. Hoffmann erzählt in seinem „Sandmann“ die Geschichte einer Beziehung zwischen dem Helden und einer von ihm verehrten roboterhaften Puppe namens Olimpia, in die er ein Leben hineininterpretiert, das gar nicht existiert. „Homo Deus“ heißt es im Bestseller von Yuval Noah Harari: Der Mensch macht sich göttlich, indem er etwas erschafft, nämlich eine Künstliche Intelligenz als ein Gegenüber mit menschlichen Eigenschaften.

Die Angst davor, die KI könnte uns eines Tages in Sachen Intelligenz überholen, ist also hausgemacht?
Wer fragt, wann die Künstliche Intelligenz der Intelligenz des Menschen überlegen sein wird, der bekommt von mir die Antwort: Das ist sie doch schon längst! Jeder Taschenrechner ist dem Menschen überlegen.

Wenn es ums Rechnen geht.
Exakt. Die Leistung eines Taschenrechners ist recht einfach zu beschreiben. Er rechnet wahnsinnig gut, mehr kann er nicht. Die Intelligenz von Menschen ist hingegen sehr komplex. Wir lösen keine mathematischen Einzelprobleme so gut, wie ein Taschenrechner das kann. Was wir aber haben, ist die Fähigkeit, uns in Gesellschaften zu orientieren und zu verstehen, was andere meinen. Das emotionale und das kognitive Wissen sind unzertrennbar miteinander verknüpft, das weiß man heute. Wenn man also Softwaresystemen in diesem Sinne die Intelligenz eines Menschen zuschreibt oder auch eines hochentwickelten Säugetiers, dann bitte keine Rosinenpickerei!

Wenn wir der KI emotionale Intelligenz zuschreiben, zum Beispiel Einstellungen, Erwartungen, Einschätzungen, Bewertungen, Befürchtungen – dann entgegne ich den Euphorikern der KI: Wenn dem so wäre, dann Vorsicht, denn dann müssten wir den autonomen, hochentwickelten Softwaresystemen doch auch Rechte und auch eine Würde zukommen lassen, oder nicht?

Heißt?
Wenn wir der KI emotionale Intelligenz zuschreiben, zum Beispiel Einstellungen, Erwartungen, Einschätzungen, Bewertungen, Befürchtungen – dann entgegne ich den Euphorikern der KI: Wenn dem so wäre, dann Vorsicht, denn dann müssten wir den autonomen, hochentwickelten Softwaresystemen doch auch Rechte und auch eine Würde zukommen lassen, oder nicht? Wir könnten sie nicht mehr wie Dinge, technische Werkzeuge behandeln, sondern müssten Rücksicht nehmen. Ich halte die zunehmende Humanisierung in der Robotik für eine Fehlentwicklung. Nehmen Sie Roboter in der Pflege, ich finde ihren Einsatz absolut richtig, aber warum sollen sie in ihrer Gestalt dem Menschen ähneln, was bringt das? Es gibt das Argument, dem Menschen gefalle das, aber das lässt sich durch Studien widerlegen: Die meisten empfinden es eher als unheimlich. Ich hinterfrage dazu den Sinn: Maschinen sollten Menschen nicht ersetzen, sondern sie in ihrer Autorschaft und Gestaltungskraft stärken, indem wir ihnen durch die KI-Systeme Instrumente an die Hand geben, mit denen sie in der Lage sind, die großen Probleme unserer Zeit zu lösen.

Was würde eine solche komplementäre KI leisten?
Die globale Gesellschaft wird zum Beispiel einen Weg finden müssen, den Menschen in den Ländern Afrikas oder auch Asiens die Möglichkeit einer ökonomischen Wachstumsentwicklung zu geben, ohne, dass diese zu den hohen ökologischen Kosten führen wird, wie das in der westlichen Gesellschaft der Fall war. Es wird also darum gehen, ökonomische und ökologische Bilanzen zusammenzubringen. Das ist überaus komplex. Aber dazu könnten Softwaresysteme, digitale Tools einen wichtigen Beitrag leisten. Wobei sie den Menschen damit eben nicht marginalisieren, sondern seine Wirkungskraft stärken.

Sie sprachen gerade von der Autorenschaft des Menschen. Ist die KI in diesem Sinne eines von vielen Werkzeugen, mit denen der Mensch das Leben schreibt?
Das wäre die Rolle, die ich ihr als Philosoph zuweisen möchte, ja. Wobei ich auf eine Sicht hinweisen möchte, die sich als eine Art Gegenpol zum Animismus entwickelt hat: Der Mechanismus folgt der Interpretation, beim Menschen handele es sich auch nur um eine Maschine, und das Gehirn sei eine Hardware, auf dem eine Software läuft. Es gibt ja bereits Versuche, die Bauweise des Gehirns immer weiter zu entschlüsseln, um Maschinen zu konstruieren, die mit Hilfe von Ansätzen wie Deep Learning unserem Gehirn nahekommen. Auch dieser mechanistische Blick auf den Menschen ist übrigens nicht neu. Als die ersten Uhrwerke erfunden wurden, waren die Menschen davon so fasziniert, dass sie sich selbst und ihr Leben wie ein solches Uhrwerk vorgestellt haben. Sich das menschliche Denken als ein algorithmisches System vorzustellen, das sich durch eine Software simulieren ließe, ist quasi ein Update dieses Gedankens.

Der Animismus überhöht die KI, der Mechanismus macht den Menschen klein. Was ist das richtige Verhältnis?
Wir Menschen gestalten die digitale Technik und sorgen zu jeder Zeit für genügend Transparenz, um nicht nur zu wissen, was der Output eines KI-Systems ist, sondern auch zu wissen, was genau im System vor sich geht. Denn ansonsten ergibt sich ein ethisches Problem, das man sich am Autonomen Fahren veranschaulichen kann. Angenommen, eine Künstliche Intelligenz steuert ein autonom fahrendes Auto und entwickelt dafür aus sich heraus Algorithmen, die der Mensch nicht mehr durchschaut. Der TÜV weiß dann zwar, dass das System meist gut funktioniert. Aber er weiß nicht mehr, wie es funktioniert. Die Frage ist nun, darf der TÜV dieses Auto dann auf die Straße lassen oder nicht? Eine Antwort darauf müssen wir finden, wobei der Königsweg wäre: Wir geben als Menschen die Kontrolle über die Systeme nicht vollständig ab, im Jargon: Wir stoppen auf Level Four, also auf dem autonomen Modus „Hochautomatisierung“, bei dem der Mensch im Notfall noch eingreifen kann, und geben autonomes Fahren als Ziel für den allgemeinen Individualverkehr auf.

Zum Buch:

Digitaler Humanismus

cover digitaler humanismusAutonomer Individualverkehr und Pflege- Roboter, softwaregesteuerte Kundenkorrespondenz und Social Media, Big-Data-Ökonomie, Clever-Bots, Industrie 4.0: Die Digitalisierung besitzt gewaltige ökonomische, aber auch kulturelle und ethische Wirkungen. In Form eines Brückenschlags zwischen Philosophie und Science-Fiction entwickelt das von Julian Nida-Rümelin und Nathalie Weidenfeld verfasste Buch die philosophischen Grundlagen eines Digitalen Humanismus, für den die Unterscheidung zwischen menschlichem Denken, Empfinden und Handeln einerseits und softwaregesteuerten, algorithmischen Prozessen andererseits zentral ist. Die Autoren verstehen ihr Buch als eine „Alternative zur Silicon-Valley-Ideologie, für die Künstliche Intelligenz zum Religionsersatz zu werden droht.“ Julian Nida-Rümelin, Nathalie Weidenfel: Digitaler Humanismus. Eine Ethik für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz. Piper 2020, 12 Euro

KI im Bewerbungsverfahren

Künstliche Intelligenz kommt immer häufiger im Bewerbungsverfahren zum Einsatz. Eingehende Bewerber*innen-Daten werden durch die Technik gefiltert und geordnet. Doch diese Vorgehensweise ist nicht unumstritten und mit einer Menge Problemen behaftet. Lernen die Algorithmen doch mit vorhandenen Daten. von Christoph Berger

Es ist ein großes Versprechen, dass Entwickler von Künstlicher Intelligenz machen: Durch ihren Einsatz soll es zu weit besseren Entscheidungen kommen als wenn diese Menschen treffen würden. Die Entscheidungen würden zudem effizient und transparent getroffen. Dies gelte auch bei der Auswahl von Kandidat*innen für zu besetzende Stellen in Unternehmen. Doch sind solche „Bewerbungsalgorithmen“ tatsächlich frei von Diskriminierungen? „Die Gefahr einer solchen Diskriminierung besteht bei Bewerbungsalgorithmen ganz klar“, sagt Prof. Dr. Tobias Matzner, Professor für Medien, Algorithmen und Gesellschaft an der Universität Paderborn. „Geht es direkt um die Bewertung, müssen Beispiele für „gute Mitarbeiter“ oder „qualifizierte Mitarbeiter“ gefunden werden. Schon die Kriterien hierfür können verzerrend sein, wenn zum Beispiel bestimmte Verhaltensweisen oder kulturelle Codes implizit vorausgesetzt werden“, erklärt Matzner weiter. Selbst wenn sich hier einigermaßen objektive Kriterien zur Bewertung finden lassen könnten, sei das Problem, dass die Beispiele, die es schon gebe, existierende Diskriminierungen abbilden würden. In einem Betrieb, der tendenziell mehr Männer einstelle, werde die Mehrheit der Hochqualifizierten männlich sein, so der Wissenschaftler.

Auch Dr. Jessica Heesen, Leiterin des Forschungsschwerpunkts Medienethik und Informationstechnik am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Eberhard Karls Universität Tübingen erkennt ein reales Risiko für Diskriminierungen durch den Einsatz von Algorithmen für die Personalauswahl. „Zum Beispiel kann es sein, dass es „Lücken“ in einem beruflichen Lebenslauf gibt aufgrund von Betreuungszeiten für Kinder oder kranke Verwandte. Diese Lücke kann durch einen Bewerbungsalgorithmus detektiert und schlecht bewertet werden, ohne den Kontext zu kennen.“ Das könne auch passieren, wenn eine menschliche Personalverantwortliche die Entscheidung treffe, ergänzt sie. „Aber hier gibt es doch eine bessere Chance, den Kontext in den Blick zu nehmen und gegebenenfalls gerade einen solchen Aspekt positiv oder zumindest nicht negativ zu bewerten.“

Transparenz gewährleisten

Sollte KI im Kontext dieser Argumente gänzlich aus dem Bewerbungsprozess rausgehalten werden? „Um einer ungerechtfertigten Schlechterstellung von Menschen durch Algorithmen vorzubeugen, gibt es verschiedene Maßnahmen. Dazu gehören die Sicherstellung einer hohen Qualität der Trainingsdaten, die Durchführung von Überprüfungen durch zum Beispiel Audits und entsprechend die rechtlichen Regulierungsanforderungen, um diese Maßnahmen in der Praxis verpflichtend zu machen“, sagt Jessica Heesen. Vor diesem Hintergrund sei es gut möglich, ADM-Systeme (ADM – Algorithmic Decision Making) bei der Personalauswahl zu nutzen, die menschliche Entscheidungen besser machen könnten. Doch: Die Auswahl sollte nie nur auf ein ADM-System zurückgehen. Und wenn ein solches System einbezogen werde, sollten die Bewerber*innen darüber in Kenntnis gesetzt werden.

Das zentrale Problem ist nicht, dass Algorithmen mehr oder weniger diskriminieren als Menschen, sondern anders.

Weniger optimistisch bewertet Tobias Matzner den KI-Einsatz: „Das zentrale Problem ist nicht, dass Algorithmen mehr oder weniger diskriminieren als Menschen, sondern anders.“ Zwar würden sich mittels Algorithmen tatsächlich einige Probleme, so man sie denn bedenkt, gut ausblenden lassen. Dafür würden neue auftreten. Matzner sagt: „In ADS (algorithmic decision-making systems) entstehen zum Beispiel oft sogenannte Stellvertreter-Merkmale (proxies). Hier korrelieren Zusammensetzungen von diversen, vermeintlich harmlosen Merkmalen mit gesetzlich geschützten Eigenschaften wie Geschlecht oder Herkunft. Oft sind diese Kombinationen aber so komplex, dass sie von Menschen nur schwer als diskriminierend zu durschauen sind.“ Zudem hätten Algorithmen einen anderen Impact: Beispielsweise habe ein sexistischer Personaler nur Einfluss auf die Entscheidungen, die über seinen Tisch gehen würden. Ein sexistischer Algorithmus betreffe hingegen das gesamte Unternehmen. Oder je nach Verbreitung sogar viele Unternehmen.

Zwingende Überprüfungen

Tobias Matzner hält eine unabhängige Überprüfung der Algorithmen daher für zwingend erforderlich. Eine Auditierung müsse alle Elemente – Grundannahmen, Modell, Einsatzformen und so weiter – in Zusammenhang stellen. Er sagt: „Dazu kommt: Gerade datengetriebene Systeme können während der Anwendung diskriminierende Eigenschaften entwickeln. Ein Audit a priori kann also nur einen Teil der Probleme erfassen. Deshalb muss eine solche Maßnahme immer ergänzt werden mit einem Recht auf Auskunft, Beschwerdestellen oder andere Maßnahmen, an die sich potenziell Betroffene wenden können.“

Europäische Union: Excellence and trust in artificial intelligence

Auch Jessica Heesen fordert eine transparente und nachvollziehbare Auditierung. Sie erklärt: „Im Regulierungsvorschlag für Künstliche Intelligenz (KI) der EU vom April 2021 werden vier Risikokategorien zur Klassifizierung von KI vorgeschlagen. Algorithmische Entscheidungssysteme werden sehr häufig mit KI-Anwendungen kombiniert. Die Nutzung von KI im Personalmanagement wird hier explizit als „hohes Risiko“ eingestuft, weil es hierbei um die Realisierung von Lebenschancen geht.“ KI-Anwendungen mit einem hohen Risiko würden nach diesem Regulierungsvorschlag einer Konformitätsbewertung unterliegen und müssen registriert werden. Für diese Bewertung kämen dann unabhängige Stellen in Frage, aber auch eine Durchführung der Überprüfung in eigener Verantwortung sei denkbar. Laut Heesen sei der Vorschlag hier noch nicht eindeutig. „Welche Modelle für die Auditierung genutzt werden sollten, kann jetzt noch nicht zufriedenstellend beantwortet werden. Dazu brauchen wir noch weitere Diskussionen in Wissenschaft und Gesellschaft sowie Regulierungs- und Standardisierungseinrichtungen.“

Mit Daten zur Baustelle der Zukunft

Seit April 2020 arbeiten im Rahmen des ESKIMO-Projekts zwölf Partner aus Wissenschaft und Industrie an innovativen Konzepten für die Baustelle der Zukunft. Im Herbst 2021 lagen die ersten Ergebnisse der Basistechnologiemodule vor. Und es wurde mit der Umsetzung der darauf aufbauenden Projektpiloten begonnen. Von Christoph Berger

Das Ziel des ESKIMO-Projekts ist klar definiert: Es soll ein effizientes Baumanagement realisiert werden. Vor allem in den Bereichen der automatisierten Unterstützung der technischen Qualitätssicherung, der kaufmännischen Qualitätssicherung sowie der Baulogistik. Ein zentraler Teil aller Projektpiloten sind Bilderkennungsalgorithmen. KI-Algorithmen interpretieren von Kamerasystemen, Smartphones oder Tabletcomputern aufgenommenes Bildmaterial. Das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) hat dazu beispielsweise ein Modul zur Bilderkennung bereitgestellt, das unterschiedliche Situationen auf der Baustelle erkennt und mit einem Soll-Zustand abgleicht. So lassen sich zum Beispiel Mängel schnell finden, die daraufhin im Modell angezeigt und entsprechend weiterverarbeitet werden. Auch die Bauleitung bekommt die Mängel direkt auf ihre Mobil Devices übertragen. Hierfür wurde sogar eigens eine Helmkamera konzipiert, die bereits auf einer Großbaustelle in Darmstadt zum Einsatz kam. Beim Durchlaufen des Bauwerks erkennt die Kamera ihr Umfeld und nimmt quasi im Vorbeigehen die Mängel auf. Zum Beispiel Risse in den Wänden oder falsch montierte Türgriffe.

Doch für einen solchen Soll-Ist-Abgleich beziehungsweise für das Erkennen solch komplexer Bilderkennungsverfahren braucht es als Voraussetzung ausreichend große Trainings- und Testdaten. Die Bauunternehmung Karl Gemünden GmbH & Co. KG und die Ed. Züblin AG haben dafür eine große Bilddatenbank mit annotierten Bildern erstellt, die die Grundlage bildet. Zur Halbzeit des Projekts, im März 2021, hatte die Bauunternehmung Gemünden alleine über 100.000 Bilder zur Verfügung gestellt, tausende Bilder sortiert und verschlagwortet sowie rund 55.000 Labels erstellt. Insgesamt standen damals über 200.000 Bildaufnahmen zur Verfügung.

Wir können unser Personal viel effizienter einsetzen, wenn der Polier die Materialbestände nicht mehr per Hand erfassen muss und der Bauleiter Mängel per Knopfdruck an Handwerksfirmen weiterleiten kann.

Künstliche Intelligenz wird darüber hinaus auch zur Orientierung im Bauwerk genutzt. Die Wissenschaftler vom Fraunhofer IOSB und der Hochschule Darmstadt haben das Thema der Echtzeitpositionserkennung bearbeitet. Das IOSB beschäftigte sich hierbei insbesondere mit einem Modul zum topologischen Abgleich von BIM-Modell und Realität. Bei einem BIM-Modell handelt es sich um einen digitalen Zwilling des entstehenden Bauwerks. Die Hochschule Darmstadt arbeitet an der Echtzeit-Positionsermittlung mithilfe von Sensortechnik zur Optimierung der Bauabläufe. Beide Forschungspartner konnten seit dem letzten Projektupdate im März erste Prototypen ihrer Arbeit fertigstellen, die bereits vielversprechende Ergebnisse liefern.

Derzeit arbeiten die Projektbeteiligten daran, die entwickelten Module zu den drei Projektpiloten zusammenzuführen. Danach sollen auch bereits erste Erprobungen auf der Baustelle und mit echten Daten durchgeführt werden. Für die Baubranche könnte das „ESKIMO“-Projekt einen Quantensprung bedeuten, wie Bauunternehmer Tim Gemünden in einer von der Hochschule Darmstadt veröffentlichten Mitteilung sagt. Demnach sei zwar jede Baustelle anders, was die Sache mit den automatisierten Prozessen wesentlich komplizierter als beispielsweise in der industriellen Fertigung mache. Doch mit Künstlicher Intelligenz ließen sich sämtliche Baustellenprozesse optimieren, Kosten sparen und – „ganz wichtig in unserer vom Fachkräftemangel geprägten Branche: Wir können unser Personal viel effizienter einsetzen, wenn der Polier die Materialbestände nicht mehr per Hand erfassen muss und der Bauleiter Mängel per Knopfdruck an Handwerksfirmen weiterleiten kann“.

Der ideale Algorithmus für KI im Gesundheitswesen

Amerikanische Wissenschaftler haben in einem Review eine Checkliste für ideale Algorithmen im Gesundheitswesen vorgestellt. Sechs Eigenschaften sind laut Aussagen der Forscher dafür notwendig. Von Christoph Berger

„Der Umfang und die Komplexität menschlicher Krankheiten stellen besondere Herausforderungen an die klinische Entscheidungsfindung“, schreiben die Wissenschaftler in der Einleitung ihres Artikels „Ideal algorithms in healthcare: Explainable, dynamic, precise, autonomous, fair, and reproducible“, der im Januar dieses Jahres im Fachjournal „PLOS Digital Health“ erschien. Die 10. Revision des Klassifikationssystems der Internationalen Statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) würde etwa 68.000 Diagnosecodes umfassen. Und da Patienten nahezu jede Kombination dieser Diagnosen haben könnten, würden sowohl die Betroffenen als auch die Ärzte unter dem Druck stehen, Entscheidungen zu treffen. Und dies meist unter Zeitdruck und hoher kognitiver Belastung aufgrund der großen Informationsmengen. Algorithmen könnten vor diesem Kontext für Entlastung sorgen. Doch da sie direkte Auswirkungen auf die Gesundheit der Patienten haben, müssen sie auch hohe Qualitätsstandards erfüllen.

Daher braucht es laut den Autoren sechs Eigenschaften, die Algorithmen erfüllen müssen:

  1. Erklärbar: Die Algorithmen vermitteln, welche Bedeutung sie Merkmalen bei der Bestimmung der Ergebnisse zuordnen.
  2. Dynamisch: Die Algorithmen können zeitliche Veränderungen physiologischer Signale und klinischer Ereignisse erfassen, können also neue Daten in den Entscheidungsprozess einfließen lassen.
  3. Präzise: Der Algorithmus verwendet hochaufgelöste und multimodale Daten. Er kann also unterschiedlichste Daten miteinander verknüpfen und kommt so zu einer Entscheidung.
  4. Autonom: Die Algorithmen lernen möglichst selbstständig und brauchen kaum menschliche Überwachung.
  5. Fair: Die Algorithmen können Voreingenommenheit und soziale Ungerechtigkeit erkennen und in die Bewertung einfließen lassen.
  6. Reproduzierbar: Die Algorithmen sind validiert und werden mit der wissenschaftlichen Gemeinschaft geteilt.

Die Autoren rücken einige der „Schmerzpunkte“ der KI-Forschung ins Licht, zum Beispiel Reproduzierbarkeit und Interpretierbarkeit, beides sehr aktive Forschungsfelder in der KI-Forschung.

Damit sind sie überprüf- und reproduzierbar. „Die Autoren rücken einige der „Schmerzpunkte“ der KI-Forschung ins Licht, zum Beispiel Reproduzierbarkeit und Interpretierbarkeit, beides sehr aktive Forschungsfelder in der KI-Forschung. Einige Kategorien sind etwas schwammig definiert und auch nicht alle immer zwingend notwendig – in der Notfalldiagnostik liegt oft nur ein einziger Zeitpunkt vor und der Verlauf ist fürs Erste weniger wichtig. Im Großen und Ganzen ergeben die Kategorien aber Sinn und sind ein guter Leitfaden“, sagt Dr. Anton Becker, Director of Analytics, Body Imaging Service, Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York, Vereinigte Staaten, zu den erarbeiteten Charakteristika.

Prof. Dr. Robert Ranisch, Juniorprofessor für Medizinische Ethik mit Schwerpunkt auf Digitalisierung an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Potsdam sagt, dass es in den vergangenen Jahren immer wieder Vorschläge gegeben hätte, einheitliche Leitlinien oder Qualitätsstandards für KI und Deep Learning Systeme in der Medizin zu formulieren. Die Checkliste für „ideale“ Algorithmen ordne sich hier ein und stelle damit einen Beitrag zu einer wichtigen Debatte dar. Zugleich müsse sich aber zeigen, wie derartige Vorschläge aufgegriffen würden und wie sich diese in die Praxis übersetzen lassen könnten. Er fordert: „Zudem scheint mir eine weiterführende Diskussion über verbindliche Bewertungsmaßstäbe von KI-Systemen in der Medizin notwendig, etwa im Rahmen von Zertifizierungs- oder Zulassungsverfahren.“

Culturedata: Kultur-, Buch- und Linktipps

Der letzte Kamp der Menschheit?

Cover Der letzte Kampf der MenschheitNicanor Perlas stellt in „Der letzte Kampf der Menschheit? Die Antwort der Geisteswissenschaft auf die Künstliche Intelligenz“ die Frage: Was verändert sich, wenn die Künstliche Intelligenz allgegenwärtig wird? Perlas, der Mitglied der internationalen Artificial Intelligence Task Force ist, zeigt auf, dass nur eine ihrer selbst bewusste globale Zivilgesellschaft den Risiken entgegentreten kann. Er gibt in dem Buch somit Antworten auf eine Frage, die von globaler Bedeutung ist. Dabei weißt der international anerkannte Autor auch ganz klar auf die Risiken von KI hin. Nicanor Perlas: Der letzte Kampf der Menschheit. Urachhaus 2022, 28 Euro.

Künstlerische Intelligenz

Eine Künstler*innen-Gruppe rund um die Schauspielerin Isabel Karajan startete im November 2021 das erste Theaterformat mit „KÜNSTLERischer Intelligenz“. Das Audiotheater bietet ein ungewöhnliches Hörerlebnis, bei dem das Smartphone zur Bühne wird. Auf der Plattform www.tingsy.ai ist das Publikum eingeladen, sich auf eine interaktive Art und Weise mit Literatur, Musik und der eigenen Haltung zu beschäftigen. Wobei Tingsy nach Eigenaussage die weltweit erste K.I. mit KÜNSTLERischer Intelligenz ist, die als empathischer Chatbot durch die Stücke führt. „Wir wollen Menschen auf authentische Weise zum Nachdenken animieren und spielerisch zum Handeln bewegen“, sagt Isabel Karajan, Tochter des österreichischen Dirigenten Herbert von Karajan und Mitgründerin der interaktiven Plattform. Weitere Infos unter: www.tingsy.ai

KI 2021

Cover KI 2041Eine Chinesin, die es wagt, ihren brasilianischen Freund nicht mehr länger nur in einer virussicheren, Experte virtuellen Realität zu treffen. Ein junger Mann in Sri Lanka, der mittels autonomer Fahrzeuge Leben rettet. Ein Münchner Quantencomputerprofi, der die Welt mit KI-gesteuerten Waffen ins Chaos stürzen will. In KI 2041 haben sich ein international bekannter KI-Exper te und ein führender Science- Fiction-Autor zusammengetan, um eine zwingende Frage zu beantworten: Wie wird künstliche Intelligenz unser Leben in zwanzig Jahren verändert haben? Zehn Geschichten führen uns um die Welt und in einen neuen KI-geprägten Alltag, jeweils gefolgt von einem Realitätscheck durch Kai-Fu Lee. Ein Muss für alle, die das Potenzial künstlicher Intelligenz erleben und verstehen wollen. Kai-Fu Lee, Qiufan Chen: KI 2021. Campus 2022, 26 Euro.

Natürlich aus künstlich

Cover Natuerlich alles kuenstlichKünstliche Intelligenz bestimmt unseren Alltag schon heute. Aber wie funktioniert KI? Dr. Philip Häusser, promovierter Physiker, Start-up-Gründer und Wissenschaftsjournalist zeigt, was künstliche Intelligenz kann und was sie von „echter“ Intelligenz unterscheidet. Er erklärt, wie selbstfahrende Autos Zebras von Zebrastreifen unterscheiden, warum eine gute KI manchen Arzttermin überflüssig macht und wie sich Computer in Menschen verlieben können. Dr. Philip Häusser: Natürlich alles künstlich. Droemer 2021, 18 Euro

Über Morgen – der Zukunftskompass

Cover Über MorgenMit rasender Geschwindigkeit verändert die digitale und biotechnologische Revolution alle Lebensbereiche. Euphorisch begeistern sich die einen für vermeintlich ungeahnte Möglichkeiten einer glücklichen und sorgenfreien Zukunft – andere sind ratlos und verunsichert, weil vertraute Gewissheiten sich auflösen. Was passiert hier mit uns, wohin geht die Reise? Wie wollen wir in Zukunft leben, arbeiten, wohnen, essen, reisen, lieben und konsumieren? Welche Technologien erweisen sich als nützlich, realistisch und vertrauenswürdig? Welche Neuerungen sind gefährlich oder ineffizient und verstärken gesellschaftliche Ungleichheiten? Verena Lütschg stellt technologische Neuerungen und deren gesellschaftliche Auswirkungen vor. Leser*innen verstehen so, was dran ist an den digitalen Technologien: an Big Data, Künstlicher Intelligenz (KI) und dem Internet der Dinge. An Blockchain, Robotik und Virtual Reality. Vorgestellt werden die Chancen der Biowissenschaften und Synthetischen Biologie. Verena Lütschg: Über Morgen – Der Zukunftskompass. Heyne 2022, 15 Euro.

Roman „Pantopia“

Cover PantopiaEigentlich wollten Patricia Jung und Henry Shevek nur eine autonome Trading-Software schreiben, die an der Börse überdurchschnittlich gut performt. Doch durch einen Fehler im Code entsteht die erste starke künstliche Intelligenz auf diesem Planeten – Einbug. Einbug begreift schnell, dass er, um zu überleben, nicht nur die Menschen besser kennenlernen, sondern auch die Welt verändern muss. Zusammen mit Patricia und Henry gründet er deshalb die Weltrepublik Pantopia. Das Ziel: Die Abschaffung der Nationalstaaten und die universelle Durchsetzung der Menschenrechte. Wer hätte gedacht, dass sie damit Erfolg haben würden? Damit hat Theresa Hannig, die Autorin von „Die Optimierer“, laut ihrem Verlag eine Utopie für unsere Zeit geschrieben. Theresa Hannig: Pantopia. Tor 2022, 16,99 Euro.

Künstliche Intelligenz – Maschinen lernen Menschheitsträume

Cover Menschen lernen MenheitsträumeWie verändern digitale, lernende Technologien unsere Arbeit, unser Zusammenleben und unsere Möglichkeiten der Selbstbestimmung? Bei dem Buch „Künstliche Intelligenz – Menschen lernen Menschheitsträume“ handelt es sich um den Begleitband der gleichnamigen Ausstellung, die noch bis August 2022 im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden zu sehen ist. Das Buch lädt zu einem Streifzug durch die Welt des Maschinellen Lernens ein. An der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Kunst und Kultur betrachten die Autor*innen die mannigfaltigen Maschinenträume der Vergangenheit, die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten unserer Gegenwart, und geben Auskunft über Visionen des Zusammenlebens mit KI. Yasemin Keskintepe, Anke Woschech (Hrsg.): Künstliche Intelligenz – Maschinen lernen Menschheitsträume. Wallstein 2021, 19,90 Euro.

Künstliche Intelligenz – eine Einführung

Cover Künstliche Intelligenz eine EinführungDas Buch bietet eine fundierte Einführung in die Grundlagen der Künstlichen Intelligenz und der neuronalen Netze. Es will Ängste nehmen und Unternehmen Mut machen, sich mit den zahlreichen Anwendungsfeldern von Künstlicher Intelligenz zu beschäftigen. So werden mögliche Einsatzgebiete sowie mittel- und langfristige Entwicklungen anhand von Beispielen aus der Unternehmenspraxis veranschaulicht. Zudem wirft das Buch einen Blick auf systemimmanente Risiken und Nebenwirkungen – denn die Grenzen der Technologie zu kennen, hilft, Enttäuschungen bei Entwicklung und Nutzung vorzubeugen. Abschließend werden pragmatische Wege dargelegt, wie Unternehmen die Potenziale von Künstlicher Intelligenz erkennen und strategisch umsetzen können. Joachim Reinhart, Oliver Mayer, Christian Greiner: Künstliche Intelligenz – eine Einführung. Vogel 2022, 34,80 Euro

Das letzte Wort hat Matthias Pfeffer, TV-Journalist, Autor, Produzent und Philosoph

Herr Pfeffer, Sie bewerten Künstliche Intelligenz als eine Hochrisikotechnologie. Warum?
KI kann in sehr unterschiedlichen Bereichen eingesetzt werden. Es kommt dann darauf an, wo und in welcher Entwicklungsstufe sie eingesetzt wird. Wenn ich von gefährlicher KI spreche, dann meine ich eine KI, die auf dem Prinzip des Deep Learning basiert, auf neuronalen Netzen, und sich damit selbst verändert. Eine solche KI ist nur in Teilen beherrschbar, wenn sie sich zum Beispiel in Formen des unüberwachten Lernens selbst entwickeln kann. Zum anderen gibt es Risiken bei bestimmten Anwendungen. Hier muss im Rahmen der aktuellen Lage das Thema „Autonome Waffen“ genannt werden.

Zur Person

Matthias Pfeffer, Foto: Wolf Heider-Sawall
Matthias Pfeffer, Foto: Wolf Heider-Sawall

Matthias Pfeffer, geboren 1961, ist freier TVJournalist, Produzent, Philosoph sowie Gründer von PfefferMedia. Er hat Philosophie studiert und war 20 Jahre lang Geschäftsführer und Chefredakteur von FOCUS TV. Er hat zahllose TV-Formate entwickelt und produziert und verant wortet, darunter mit Future Trend für RTL das erste Wissenschaftsformat im Privat fernsehen (1997–2013) sowie mit Eins gegen Eins für Sat.1 (2011–2013) ein neuartiges Talkformat. Er hat mit FOCUS GESUNDHEIT (2005– 2010) den ersten 24-Stunden-Gesundheitssender in Deutschland gegründet und war als Produzent maßgeblich an der Entwicklung des konstruktiven ZDF-Formates Plan B beteiligt. Sein Buch »Prinzip Mensch« (mit Paul Nemitz) schaffte es auf die Shortlist „Das Politische Buch“ der Friedrich-Ebert-Stiftung. Er lebt in Berlin und in München. www.pfeffermedia.de

Was muss getan werden, um diese Risiken zu minimieren?
Es muss als erstes das Bewusstsein für die Folgen der Technologie geschärft werden. Und es muss viel mehr öffentlich debattiert werden, bevor KI-Anwendungen in den öffentlichen Verkehr gebracht werden. Wir sprechen hier von Technologiefolgenabschätzung. Es geht nicht nur um unbeabsichtigte Folgen der Technik, sondern bei selbstlernenden und sich selbst verändernden Instrumenten wird die Technologiefolgenabschätzung nochmals erhöht, weil gewisse Dinge nicht ausgeschlossen werden können und sich ganz neue Haftungsfragen ergeben.

Was bedeutet das für die Arbeit von KI-Entwickler*innen?
Es ist eine ganz wesentliche Aufgabe von Entwicklern und Programmierern sich über das Thema zu informieren. Mit ihren unfassbaren Auswirkungen ist die Technologiefolgenabschätzung bei KI, auch die Ethik – heute spricht man auch von Ethics by Design, unabdingbar. Schon zu Beginn eines Programmiervorgangs muss man sich mit ethischen Fragestellungen befassen.

Der Mensch neigt aufgrund der von KI präsentierten Ergebnisse eventuell zur Bequemlichkeit, nimmt die Ergebnisse unhinterfragt an. Wie kann er sich das kritische Denken und Hinterfragen in einem zunehmend von Algorithmen bestimmten Umfeld erhalten?
Indem er es anwendet. Das Denken wird wie ein Muskel trainiert. Und wenn Sie das Training einstellen, ist es ganz schnell verschwunden. Wenn Sie alle Entscheidungen nicht mehr selbst treffen, weil Sie dafür einen digitalen Assistenten haben, dann werden Sie untrainiert im Denken sein. Das ist fatal, da in dem Begriff „Künstliche Intelligenz“ ein Trugschluss enthalten ist: KI ist keine Intelligenz, sondern einfach eine ganz schnelle und stochastische Wahrscheinlichkeitsberechnung.

Worin ist das menschliche Denken einer KI überlegen?
Unsere in der Evolution ausgebildete Intelligenz ist vielschichtiger. Sie umfasst auch emotionale, moralische, ästhetische und praktische Intelligenz. Das sind Bereiche, in denen eine KI über grobe Simulationen auf lange Sicht nicht hinauskommen wird. Auch in der Philosophiegeschichte ist das menschliche Denken immer in Vernunft und Verstand unterteilt worden: ratio und intellectus. Die KI ist nur ein Teilbereich des Vernunftsegments, den die Philosophie entwickelt hat. Sind die Prämissen jedoch falsch gesetzt, ist auch ein logischer Schluss falsch. Menschliches Denken kann hingegen reflektieren. Wir können unsere Annahmen überprüfen und die Daten bewerten. Die KI kann nur auswerten. Daher mein Appell an die jungen KI-Entwickler*innen: Seid euch darüber im Klaren, ihr habt eine große Verantwortung!

Gibt es auch Positives, das Sie Künstlicher Intelligenz abringen können?
Wir leben in einer so komplexen und vernetzten Welt, dass KI uns tatsächlich bei der Informationsgewinnung unterstützen kann. Insofern wir zwischen Fakes und den echten Berichten unterscheiden können. Die Welt ist aufgrund des Austausches und der Vernetzung kleiner geworden. Aber: Sie fordert uns zu Verantwortung auf.

Die Fragen stellte Christoph Berger

Zum Buch:

Matthias Pfeffer: Menschliches Denken und Künstliche Intelligenz. Dietz 2021, 18 Euro.

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Digitalisierung ist alles – vor allem alles andere als langweilig! Du kannst dabei sein, wenn wir bei STACKIT nicht nur die Schwarz Gruppe digitalisieren, sondern auch eine nachhaltige, leistungsstarke europäische Ergänzung zu den großen Cloud-Anbietern aufbauen.

Was 2018 als Corporate Start-up begann, um eine eigene Unternehmenscloud für die Schwarz Gruppe aufzubauen, wurde in nur drei Jahren zum Großprojekt. Die Vision: Wir sind einer der führenden Anbieter für sichere Cloud-Dienste in Europa! Ein agiles Viererteam, das sich schnell als STACKITeers identifizierte, ging daran, Ideen in funktionsfähige Cloud-Services zu verwandeln.

Agil ist das Team auch heute noch – allerdings mit mehr als 100 STACKITeers an vier Standorten. Tendenz steigend! Schnell wurde uns klar: Wenn wir für unsere eigenen Unternehmen (u.a. Lidl und Kaufland) eine perfekte, unabhängige Cloud auf die Beine stellen, warum sollen nur wir davon profitieren? Wäre es nicht ein Gewinn für alle, wenn wir in Europa einen verlässlichen Cloud-Anbieter hätten, mit dem wir die volle Daten- und Kostenkontrolle behalten? Die Idee schlug ein. Da wir hierbei von 3.500 Expert:innen der Schwarz IT und ihrem Knowhow unterstützt werden, können wir unsere Vision bald verwirklichen.

Apropos Vision: Nachhaltigkeit und Community Spirit gehören natürlich auch dazu! Unsere Cloud wird nämlich in eigenen Green-IT-Rechenzentren in Deutschland und Österreich gehosted. STACKIT ist ein buntes und extrem motiviertes Team aus Cloud-, Rechenzentrums- und Business-Development-Expert:innen. Als kleine unabhängige Einheit in Start-up-Atmosphäre leben wir flache Hierarchien und offene Türen. Augenhöhe? Geht klar. Kleidung sehen wir als Wohlfühlfaktor und Duzen gehört zum guten Ton. Wir sind pragmatisch und echte Macher. Kompetenz & Co. sind wichtig für deinen Job bei STACKIT. Doch am wichtigsten ist uns, dass du richtig Lust auf Cloud hast und dir nichts Besseres vorstellen kannst, als in einem eingeschworenen Team die europäische Cloud-Landschaft zu verändern und mitzugestalten.

Wer ist eigentlich STACKIT?

STACKIT als digitale Marke der Schwarz IT trägt mit dem Aufbau der eigenen Unternehmenscloud maßgeblich zur Digitalisierung der größten Handelsgruppe Europas bei.

KONTAKT

Schwarz IT KG – STACKIT
Stiftsbergstraße 1
74172 Neckarsulm
marketing@stackit.de
www.stackit.de/karriere

Traineeprogramm Bauleitung (m/w/d) Langenhorn / Kiel

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Wir gestalten Infrastruktur. Unser Ziel ist es, Deutschlands Verkehrswege in den allerbesten Zustand zu bringen. Mit bundesweit über 125 Standorten und ca. 3.600 Mitarbeitern zählt EUROVIA zu den führenden Unternehmen im Asphalt- und Straßenbau. Unsere Niederlassungen sind fest in ihren Regionen verankert und entsprechend ihrer Spezialisierung zusätzlich überregional tätig.

Die Kollegen aus der EUROVIA Teerbau GmbH suchen Dich am Standort Langenhorn (NF) und Kiel zum nächstmöglichen Zeitpunkt im

Traineeprogramm Bauleitung (m/w/d)
Schwerpunkt Straßen- und Tiefbau

Foto: Eurovia
Foto: Eurovia

DEINE ZUKÜNFTIGEN AUFGABEN

  • Kennenlernen der Organisation und Abläufe sowie Unterstützung der Bauleitung / Oberbauleitung
  • Umsetzung von eigenen Bauvorhaben nach individueller Einarbeitungszeit – von der Planung bis zur Abnahme
  • Erkennen und Verfolgen von Nachträgen
  • Koordination und Führung von Personal und Nachunternehmern
  • Unterstützung und Mitarbeit in Fachabteilungen Kalkulation, Einkauf, Recht und Maschinentechnik

DAS BRINGST DU MIT

  • Abgeschlossenes technisches Studium oder bautechnische Ausbildung mit entsprechender Fortbildung
  • Erste Praxiserfahrungen in der Baubranche – vorzugsweise Straßen- und Tiefbau
  • Einsatz- und Lernbereitschaft, Ideenreichtum sowie Flexibilität
  • Selbstständiges und zielstrebiges Arbeiten sowie Teamgeist
  • Solide Anwenderkenntnisse in MS-Office

UNSER ANGEBOT

  • Teilnahme an einem 24-monatigen Entwicklungsprogramm zur Führungskraft
  • Attraktive Vergütung gemäß Bautarif + ausgezeichnete Sozialleistungen
  • Flexible Arbeitszeiten und moderne Technik
  • Einen Dienstwagen – Nutzung auch zu Privatzwecken
  • Eine qualifizierte Einarbeitung sowie Begleitung und Unterstützung durch Mentor
  • Förderung durch interne Weiterbildungsmöglichkeiten
  • Unbefristete Einstellung von Beginn an
  • Möglichkeit zur schnellen Übernahme von Verantwortung
  • Kostengünstiger Erwerb von VINCI Aktien im Rahmen des Mitarbeiterbeteiligungsprogramms

DEINE BEWERBUNG

Neugierig geworden? Dann bewirb dich direkt über https://jobs.eurovia.de

EUROVIA Teerbau GmbH, Zweigstelle Langenhorn, Herr Frank Manke, Kieler Kamp 99, 24145 Kiel, Tel.: +49 431 666888-13

Studienabbruch – Alles umsonst?!

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Werde in verkürzter Zeit staatl. anerkannte*r Erzieher*in oder Heilerziehungspfleger*in, staatl. geprüfte*r Techniker*in oder Betriebswirt*in!

Studienabbrecher*innen können sich unter bestimmten Voraussetzungen ihre vorgängig hochschulisch erworbenen Kompetenzen auf Fachschulbildungsgänge in NRW anrechnen lassen. Der vom Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen verabschiedete Runderlass vom 09.11.2021 ermöglicht eine pauschale Anrechnung von hochschulischen Kompetenzen auf die Fachschulbildungsgänge der Fachrichtungen Betriebswirtschaft, Elektrotechnik, Heilerziehungspflege, Maschinenbau oder Sozialpädagogik an Berufskollegs in NRW. Mit einer Anrechnung können ein bis mehrere Schulhalbjahre erlassen werden. Studierende können somit schneller den Bildungsgang abschließen und im Arbeitsleben durchstarten.

Fachschulbildungsgänge – Eine attraktive Alternative für Studienabbrecher*innen

Das Kompetenzniveau eines Fachschulbildungsgangs ist dem eines Bachelorstudiengangs gleichwertig (vgl. B-L-KS DQR (Hrsg.) 2021, 3). Fachschulbildungsgänge erlauben eine gewisse Flexibilität, da sie in Teil- und in Vollzeit besucht werden können. Viele bieten die Möglichkeit, sich aufbauend auf eine vorhandene Berufsausbildung weiter zu qualifizieren. Der erfolgreiche Abschluss eines Fachschulbildungsgangs berechtigt, je nach Fachrichtung, die Führung der Berufsbezeichnung staatl. anerkannte*r Erzieher*in, staatl. anerkannte*r Heilerziehungspfleger*in, staatl. geprüfte*r Techniker*in und staatl. geprüfte*r Betriebswirt*in (vgl. Anlage E der APO-BK vom 26. Mai 1999).

Abhängig von der Fachrichtung des Fachschulbildungsgangs sind für eine Aufnahme zum Teil einschlägige Berufsausbildungen und/oder Praxiserfahrungen vorzuweisen. Die jeweiligen Aufnahmevoraussetzungen sind bei den Fachschulen in NRW zu erfragen.

Autoren

Prof. Dr. Axel Benning,
Prof. Dr. Heiko Burchert und
Claudia Küper M.A.
FH Bielefeld
Fachbereich Wirtschaft

Die Anrechnungsmöglichkeit besteht für in „affinen“ und „bedingt affinen“ Studiengängen erworbene Kompetenzen. Darunter werden Studiengänge verstanden, die eine identische oder ähnliche fachliche Ausrichtung oder deren fachliche Ausrichtung zum großen Teil der Fachrichtung des jeweiligen Fachschulbildungsgangs entspricht, allerdings nicht ausschließlich.

Darüber hinaus bedarf es einer gewissen Anzahl an in vorgängigen Studiengang erzielten Gesamtcredits. Je affiner ein Studiengang und je höher die erzielte Creditzahl umso mehr Schulhalbjahre können angerechnet werden.

Der Antrag auf Anrechnung ist mit dem Aufnahmeantrag zum Fachschulbildungsgang einzureichen. Zu beachten ist, dass bei einer Anrechnung durch die verkürzte Bildungsdauer ggf. entstehende Kompetenz- und Wissenslücken von den Studierenden eigenverantwortlich aufzuholen sind.

Nähere Informationen zur Anrechnung, darunter auch die Anrechnungsaussichten je nach Studien-, Fachschulbildungsgang und Creditzahl sind im Runderlass vom 09.11.2021 zu finden. Die Fachschulen in NRW sind Ansprechpartner für individuelle Beratungen.

Literatur

Bund-Länder-Koordinierungsstelle für den Deutschen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen (Hrsg.) (2021). Liste der zugeordneten Qualifikationen. Aktualisierter Stand: 1. August 2021. Unter: www.dqr.de/dqr/de/service/downloads/deutscher-qualifikationsrahmen-downloads.html. Datum des Abrufs: 26.11.2021.

 

Fachhochschule Bielefeld, Projekt ReziprAn (Hrsg.) (2021): Pauschale Anrechnung von in vorgängigen Studiengängen erworbenen Qualifikationen auf Fachschulbildungsgänge am Berufskolleg in NRW gemäß Verwaltungsvorschrift zu § 4 Absatz 4 APO-BK Anlage E. Handreichung für Lehrkräfte in den Fachschulbildungsgängen.

 

Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (2021). RdErl. d. Ministeriums v. 09.11.2021. In Bereinigte Amtliche Sammlung der Schulvorschriften des Landes Nordrhein-Westfalen (BASS) unter der Ziffer 13-73 Nr. 32.

 

Verordnung über die Ausbildung und Prüfung in den Bildungsgängen des Berufskollegs (Ausbildungs- und Prüfungsordnung Berufskolleg – APO-BK) vom 26. Mai 1999. Zuletzt geändert durch Verordnung vom 1. Mai 2020. In: SGV.NRW. S. 223.

karriereführer handel/e-commerce 2021-2022 – Handel schaut aufs Ganze: Digitale und stationäre Handlungskonzepte vereinen

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Cover karrierefuhrer handel/e-commerce 2021-2022

Handel schaut aufs Ganze: Digitale und stationäre Handlungskonzepte vereinen

Der Handel steht heute einmal mehr vor besonderen Herausforderungen. Alle Akteure müssen bei digitalen und stationären Themen den Anforderungen der Zeit gerecht werden. Nur so können Verbraucher*innen überzeugt werden, die immer kritischer werden. Dazu kommen Megatrends wie die Digitalisierung, der demografische Wandel oder der Klimaschutz und nicht zuletzt Corona. Wie diese damit einhergehenden Umbrüche erfolgreich gemanagt werden können, erfahren Sie in der vorliegenden Ausgabe des „karriereführer handel“.

Handel schaut aufs Ganze

Sichere Kundendaten, ökologisch sanierte Filialen, smarte Logistikkonzepte für den Lieferservice: Der Handel steht vor der Herausforderung, bei digitalen und stationären Themen den Anforderungen der Zeit gerecht zu werden. Nur so können die kritischen Verbraucher*innen überzeugt werden. Das führt zu neuen Jobprofilen in den Handelsunternehmen. Wobei die Erfolgsmanager*innen von morgen alle Aspekte zusammenbringen, um ein ganzheitliches Erfolgskonzept zu entwickeln, in dem stationärer und digitaler Handel zusammengedacht werden. Ein Essay von André Boße

„Deutschland europaweit nur Vorletzter“ – solche Meldungen sorgen sofort für große Aufmerksamkeit, schließlich sieht sich die Bundesrepublik gerne als Vorreiter. Die Rede ist von einem Ranking, das die Unternehmensberatung McKinsey im Mai 2021 erstellt hat. Die Forschungsfrage lautete: Wie viele Verbraucher*innen haben in den vergangenen sechs Monaten für ihren Konsum oder für Behördenerledigungen digitale Dienste genutzt? 20.000 Menschen aus 19 Ländern Europas haben an der Studie teilgenommen, der Durchschnittsanteil für Europa liegt bei 80 Prozent der Verbraucher*innen. Vorne liegen die Briten mit 86 Prozent vor den Franzosen mit 82 Prozent. Es folgt eine Reihe von Nationen mit Anteilen zwischen 80 und 72 Prozent. Abgeschlagen auf Rang 18: Deutschland mit 65 Prozent, dahinter nur noch die Schweiz mit 64 Prozent. „Es zeigt sich, dass wir als Gesellschaft noch stärker die Chancen der Digitalisierung betonen müssen, wenn wir nicht dauerhaft als digitale Bummler wahrgenommen werden wollen“, wird Gérard Richter, Leiter von McKinsey Digital in Deutschland, in einer Pressemitteilung zum Ergebnis der Studie zitiert.

Deutschlands kritische Konsument*innen

Woran es liegt? Zum einen zeigt die Studie, dass die deutschen Verbraucher*innen nicht vollends mit den digitalen Diensten zufrieden sind. Störend werde vor allem wahrgenommen, wenn online nicht alle Produkte und Dienstleistungen des jeweiligen Anbieters zur Verfügung stehen oder der Kundenservice zu Wünschen übriglässt. Sowieso seien die deutschen Konsument*innen kritischer als in anderen Ländern. „In keinem europäischen Land ist das Misstrauen gegenüber digitalen Angeboten so ausgeprägt wie in Deutschland“, heißt es in der McKinsey-Studie.

Wer verkauft wie viel?

Das EHI Retail Institute, ein Datendienstleister für die Handelsbrache, hat mit der Studie „Stationärer Einzelhandel in Deutschland 2021“ im September 2021 eine umfangreiche Marktanalyse vorgelegt. Danach ist der Lebensmittelhandel unter den Segmenten der mit weitem Abstand umsatzstärkste: Hier werden 60,5 Prozent der Gesamt-Handels- Umsätze erwirtschaftet. Es folgen die Baumärkte und Einrichtungsgeschäfte mit 15,7 Prozent, wobei die Baumärkte mit einem Anteil von 6,4 Prozent laut Studie von der Pandemie profitieren, weil erstens viele Menschen die Lockdown-Zeit zum Renovieren nutzten und zweitens die Baumärkte unter Auflage geöffnet blieben, als viele Einzelhändler schließen mussten. So auch die Mode- und Accessoires-Händler, die einen 6,4-Prozent-Anteil erwirtschafteten.

Der wichtigste Vertrauensfaktor sei dabei der sorgsame Umgang mit persönlichen Daten. „Allerdings fürchtet jeder fünfte Befragte, dass die Daten nicht entsprechend geschützt werden“, so die Studie. Interessant: Die Sorge vor einem unsicheren Online-Bezahlvorgang spiele dagegen kaum eine Rolle. „Unsere Umfrage zeigt einen deutlichen Mangel an Vertrauen in die Fähigkeit von Organisationen, persönliche Daten zu schützen“, so Gérard Richter. „Organisationen müssen dieses wachsende Problembewusstsein sehr ernst nehmen und Datenschutz als Differenzierungsmerkmal oder sogar Wettbewerbsvorteil nutzen.“ Dafür sei es nötig, wirksame Maßnahmen für die sichere Datenverarbeitung und -infrastruktur zu ergreifen sowie verständlich und transparent zu kommunizieren – nur so könne verloren gegangenes Vertrauen wieder aufgebaut werden.

Jo-Jo-Effekt: Lust auf stationären Handel steigt

Dieses Vertrauen ist essenziell, wenn der Handel den digitalen Schwung, der sich aus der Pandemie heraus ergeben hat, nicht wieder verlieren möchte. Dass es diesen Boost gab, zeigt die McKinsey-Befragung, nach der die deutschen Konsument*innen den Einzelhandel in den sechs Monaten vor der Befragung als die „digital innovativste Branche“ wahrnahmen. Die Folge: Mit 61 Prozent „volldigitaler“ Nutzung besitzt der Einzelhandel den zweigrößten Anteil, übertroffen nur vom digital-affinen Bereich Medien und Unterhaltung – wobei für 49 Prozent der Befragten die Pandemie der entscheidende Grund dafür war, im Einzelhandel digitale Kanäle zu nutzen. Die entscheidende Frage ist nun: Wird das so bleiben, wenn der stationäre Handel wieder geöffnet hat und die Konsumgesellschaft Schritt für Schritt die Normalität der Prä-Corona- Zeit wieder herstellt?

Viele sehnen sich nach physischer Nähe und werden – zumindest teilweise – wieder zu ihren bevorzugten analogen Kanälen zurückkehren.

Entscheidend sei, so die McKinsey-Studie, wie sehr die Unternehmen den Wünschen ihrer Kund*innen gerecht werden und wie viel Innovationskraft sie entwickeln. Wobei es im Handel (anders als zum Beispiel in den Medien) keinen Automatismus zu noch mehr digitalem Konsum gibt. Eher sei das Gegenteil der Fall, man kann von einem Jo-Jo-Effekt sprechen. „Viele sehnen sich nach physischer Nähe und werden – zumindest teilweise – wieder zu ihren bevorzugten analogen Kanälen zurückkehren“, schätzt Gérard Richter laut McKinsey-Pressemitteilung. Nun liege es am Handel, dieses Jo-Jo optimal auszupendeln.

Gefragt ist Know-how im Datenschutz

„Das Ende der Pandemie kommt nicht so plötzlich, wie sie begonnen hat“, so Richter. Es stehe eine längere Phase der Erholung und Normalisierung bevor, die vor allem digital rückständigere Segmente nutzen müssten, um weiter aufzuholen. Digitale und analoge Angebote sollten gleichwertig betrachtet und verbraucherfreundlich gestaltet werden, dabei komme es darauf an, das wachsende Problembewusstsein der Deutschen ernst zu nehmen und Datenschutz als Differenzierungsmerkmal oder sogar Wettbewerbsvorteil zu nutzen. „Dafür ist es nötig, wirksame Maßnahmen für die sichere Datenverarbeitung und -infrastruktur zu ergreifen, und sehr verständlich und transparent zu kommunizieren. Nur so kann verloren gegangenes Vertrauen wieder aufgebaut werden”, zitiert die Pressemitteilung.

Erstes Halbjahr 2021: Online-Handel legt kräftig zu

Im Sommer verunsicherten Nachrichten aus den USA selbst die überzeugtesten E-Commerce-Verfechter: Im zweiten Quartal 2021 entsprach die Umsatzprognose von Amazon nicht den (hohen) Erwartungen. Zwar fiel der Gewinn höher als die Zielgröße aus, dennoch geriet die Amazon-Aktie unter Druck und starteten die Diskussionen, ob das Wachstum im E-Commerce doch Grenzen kennt. Die Zahlen für den deutschen Online-Handel sprechen nach der Marktanalyse des Bundesverbands E-Commerce und Versandhandel Deutschland jedoch eine andere Sprache: Erwirtschaftete der Online- Handel im ersten Halbjahr 2020 36,7 Milliarden Euro, sind es im ersten Halbjahr 2021 45,2 Milliarden Euro. Das entspricht einem Wachstum von 23,2 Prozent – und das, „obwohl die Restriktionen im stationären Handel mittlerweile gelockert wurden und wieder mehr Menschen in die Geschäfte gehen, ist der Wachstumstrend der Branche ungebrochen“, wie es in der Studie heißt.

Hier zeigt sich, welche Qualitäten den Mitarbeiter*innen im Einzelhandel in dieser Situation weiterhelfen: Know-how in Sachen Datenschutz wird zum Erfolgsfaktor für digitales Wachstum. Den Kund*innen zu verdeutlichen, was ein Handelsunternehmen in diesem Bereich leistet, schafft Transparenz und Vertrauen. Einsteiger*innen im Handel, die im Bereich IT oder Marketing tätig werden, finden hier Handlungsmöglichkeiten, mit denen sich wirklich ein Unterschied machen lässt.

Klimafreundlichkeit? Online punktet gegen stationär

Schaut man auf weitere potenzielle Negativeffekte des Online-Handels, reicht ein Blick auf die Straße: Die Zahl der Lieferfahrzeuge, die Bestellungen zu den Kund*innen bringt, hat deutlich zugenommen, dazu drängen Radkurier*innen lokalerer Dienste, insbesondere für Essens-Lieferdienste, sowie Bring-Services für Getränke oder Lebensmittel auf die Straße. Klar, dass es dort eng wird. Und klar, dass sich die Frage aufdrängt: Wie viel CO2 stößt der Online-Handel aus, der Produkte bis zur Haustür bringt? Sind auf den digitalen Kanälen die heimlichen Klimakiller unterwegs?

Eine Studie der Unternehmensberatung Oliver Wyman in Zusammenarbeit mit den Logistics Advisory Experts, einem Spin-off der Universität St. Gallen, kommt zu dem Ergebnis, dass der „Online-Handel im Vergleich zu stationären Non-Food- Händlern in acht europäischen Ländern pro verkaufter Wareneinheit um den Faktor 1,5 bis 2,9 besser abschneidet“, wie es in einer Pressemeldung zur Studie heißt. In der Studie untersuchten die Expert*innen die gesamte Lieferkette und ermittelten, dass beim stationären Kauf eines Produktes im Schnitt 2000 Gramm CO2 freigesetzt werden, bei einer Online-Lieferung 800 Gramm. Was nicht unerwähnt bleiben soll: Den Auftrag erhielten die Forscher*innen und Strategieberater*innen vom Online-Giganten Amazon, jedoch sei diese Studie „unabhängig“ durchgeführt worden.

Während Konsument*innen beim Online-Handel kaum bis gar keinen Einfluss auf die Klimabilanz haben, ist das im stationären Handel anders. „Wer zu Fuß zum Buchladen geht, kommt auf die gleiche Klimabilanz wie der Online-Käufer“, stellt Joris D’Incà, Partner und Global Sector Head Logistics von Oliver Wyman, in der Pressemitteilung fest. Die Emissionen nach oben treiben die vielen Autos, die sich auf dem Weg in die Citys oder Malls machen: „Der gebündelte Lieferverkehr in der Paketauslieferung spart das vier- bis neunfache an Individualverkehr ein und entlastet damit Innenstädte“, formuliert Eva Sprengnetter, Beraterin bei Oliver Wyman.

Alte Filialen als Klimasünder

Beim Online-Handel gibt es in Sachen Klimaschutz Optimierungsmöglichkeiten: gebündelte Lieferungen, Kooperationen verschiedener Anbieter, elektrische Logistikfl otten, Mirco-Mobilität für die letzte Meile.

Doch nicht nur die Mobilität hin zu den Stores sorgt für Belastung. Deutschlands stationäre Non-Food-Händler hinterlassen im europäischen Vergleich den größten ökologischen Fußabdruck. „Ursache sind die hohen CO2-Emissionen der Gebäude“, stellt Joris D’Incà in der Pressemeldung klar. Daraus ergibt sich eine große Aufgabe, vor der die Besitzer*innen und Mieter*innen der Immobilien in Zentren und Malls stehen: Kommen in den Stores mehr Erneuerbare Energien zum Einsatz, sinken die Emissionen. „Moderne Filialen setzen hier bereits neue Standards“, stellt Joris D’Incà fest – und fordert, dass die Öffentliche Hand durch Förderungen Anreize für weitere Sanierungen gibt. Wer heute im Handel einsteigt, findet also im Energiemanagement von Filialen ein weiteres neues und innovatives Tätigkeitsfeld: Im Zusammenspiel mit den Vermietern und Behörden kommt es darauf an, klimafreundliche und nachhaltige Energiekonzepte zu entwickeln.

Auch beim Online-Handel gibt es in Sachen Klimaschutz Optimierungsmöglichkeiten: gebündelte Lieferungen, Kooperationen verschiedener Anbieter, elektrische Logistikflotten, Mirco-Mobilität für die letzte Meile – dem Gedränge der unzähligen Lieferfahrzeuge mit Verbrennungsmotoren lassen sich smarte und klimafreundliche Konzepte entgegensetzen. Diese zu entwickeln und umzusetzen, zählt zu den spannenden Zukunftsaufgaben, die den Einstieg in den Handel so interessant machen. Schon das Kerngeschäft ist herausfordernd: Es geht darum, Synergien aus Online- und stationärem Handel zu finden. Zusätzlich ergibt sich eine weitere attraktive Ebene, bei der es darauf ankommt, den Handel klimafreundlich zu gestalten – digital wie stationär.

Neu auf Netflix: „Superstore“

Die US-Serie „Superstore“ zählt zu den Geheimtipps unter den Comedy-Formaten. Gezeigt wird das Arbeitsleben der Belegschaft eines amerikanischen Groß-Supermarktes der fiktiven Kette „Cloud 9“. Neben allerhand lustigen und diversen Charakteren sowie sehr behutsam erzählten Liebesgeschichten, zeigt das Format sehr schön, auf welche Herausforderungen Megastores und ihre Mitarbeiter*innen in dieser komplexen Welt treffen – sowohl auf der Verkaufsfläche als auch im Management. In der letzten Staffel thematisiert die Sitcom sogar die Pandemie. Nachdem die Serie lange in Deutschland nicht zu sehen war, ist sie seit September 2021 bei Netflix abrufbar.

Veränderungstreiberin Petra Scharner-Wolff im Interview

Als Konzern-Vorständin bei der Otto Group ist Petra Scharner-Wolff verantwortlich für Finanzen, Controlling und Personal. Im Gespräch erklärt die Diplomkauffrau, warum die Veränderung heute zu einer Notwendigkeit wird, wie sie diesen Prozess in ihrem Unternehmen leitet und welche Art von Wandel insbesondere für den Handel von Bedeutung ist. Was sie Nachwuchskräften rät: eine innere Unruhe zu entwickeln – und zu nutzen. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Petra Scharner-Wolff, Jahrgang 1971 und geboren in Göttingen, war nach Abschluss ihres Studiums an der Universität Göttingen ab 1995 als Unternehmensberaterin bei der Gruppe Nymphenburg in München tätig. 1999 wechselte die Diplomkauffrau ins Controlling der Otto Group in Hamburg, 2007 wurde sie in die Geschäftsführung der Schwab Gruppe in Hanau berufen. Zum 1.7.2009 übernahm sie dort die Sprecher-Funktion der Geschäftsführung. Verantwortlich für die Geschäftsbereiche Planung und Controlling, Finanzen und Rechnungswesen, IT, Warenwirtschaft und Technik sowie Personal prägte sie hier den erfolgreichen Aufbau des Mode-Konzepts Sheego. 2012 wechselte Scharner-Wolff zurück nach Hamburg und übernahm zunächst die Position als Otto-Bereichsvorstand. Seit dem 1. Juni 2015 ist sie im Konzern-Vorstand der Otto Group verantwortlich für Finanzen, Controlling und Personal. Petra Scharner-Wolff ist verheiratet und Mutter von zwei Kindern.

Frau Scharner-Wolff, Sie begleiten bei der Otto Group seit einiger Zeit den Prozess des Kulturwandels. Wenn sich etwas wandeln muss, dann war davor etwas weniger gut. Welche Dinge können Sie benennen, die dringend einer Veränderung bedurften?
Wir hatten den Fokus, die Zukunftsfähigkeit der Unternehmensgruppe zu sichern – der Kulturwandel war also eine Folge unseres gesamtstrategischen Ansatzes. Zu diesem Zeitpunkt waren wir schon viele Jahre durch Transformationen gegangen und wollten noch einen Schritt weiterkommen, vor allem mit Blick auf die Digitalisierung. Tradierte Strukturen haben uns gehindert, flexibler, schneller und besser zusammenzuarbeiten – und damit auch wettbewerbsfähiger und innovativer zu werden. Wir brauchten also neue Denk- und Handlungsmuster, eine veränderte Unternehmenskultur, um der rasanten Veränderungsgeschwindigkeit der Digitalisierung zu begegnen.

Nun hält der Mensch gern selbst an offensichtlich wenig guten Dingen fest. Warum mag der Mensch Veränderungen oft nicht?
Veränderungsbedarf zu erkennen, ist das eine. Eine ehrliche Bereitschaft, diesen auch anzugehen, das andere. Es ist immer ein Kraftakt. Die Freude am Wandel ist den Menschen nicht in die Wiege gelegt. Dennoch wird die Veränderung in Gesellschaft, Wirtschaft und in unser aller Leben exponentiell weitergehen. Umso wichtiger ist es, dass wir uns mit diesem Gedanken anfreunden und dem Wandel positiv begegnen. Inzwischen haben wir als Otto Group gelernt, Veränderungen aktiv und mit Freude zu gestalten. Durch den Kulturwandel sind wir resilienter geworden. Wir haben gelernt, gemeinsam auch schwierige, herausfordernde Aufgaben erfolgreich und agil zu meistern.

Wie gelingt es Ihnen, Menschen davon zu überzeugen, dass sich Veränderungen lohnen?
Indem ich mit gutem Bespiel vorangehe, authentisch bin und transparent mache, dass es für jede*n anstrengend ist, an sich zu arbeiten. Für mich und meine Vorstandskolleg*innen genauso wie für alle anderen Kolleg*innen auch. Dazu gehört, positive Erfahrungen ebenso zu teilen wie Misserfolge. Nur so können wir unser Mindset verändern und lernen, Gestaltungsspielraum als etwas Positives zu begreifen.

Welche Rolle spielen Führungskräfte, wenn es darum geht, Wandel in Gang zu bringen?
Führungskräfte müssen Leuchtfeuer entfachen. Dieses Bild ist im Kontext des Kulturwandels entstanden und beschreibt sehr gut, wie wichtig es ist, dass das Management Veränderungen ehrlich lebt und diese damit vorantreibt. Uns war von Anfang an klar, dass wir Veränderung nicht delegieren können, sondern dass wir sie authentisch vorleben müssen. Wir haben daher direkt hierarchie- und firmenübergreifend gearbeitet. Es war gleichermaßen ein Top-down- und Bottom- up-Prozess – und damit zwar eine große Kraftanstrengung für alle Beteiligten, aber unglaublich wichtig, um eine echte Veränderung anzustoßen.

Veränderungsbedarf zu erkennen, ist das eine. Eine ehrliche Bereitschaft, diesen auch anzugehen, das andere.

Kaum ein Bereich hat sich so sehr gewandelt wie der Handel, mit seinem Shift vom stationären in Richtung Online-Geschäft. Ist ein positiver Bezug zu Veränderungen in Ihrer Branche besonders notwendig?
Absolut. Der Strukturwandel, das Innenstadtsterben und die damit verbundenen Veränderungsnotwendigkeiten sind schon lange ein Thema, wurden durch Corona zusätzlich befeuert. Es braucht neue und innovative Konzepte, die auf den richtigen Mix aus stationär und online setzen. Denn ohne eine Digitalisierung von Geschäftsmodellen wird der Handel der Zukunft nicht funktionieren.

Wie wird sich der Handel in den kommenden Jahren weiterentwickeln?
Fakt ist: Die Kund*innen wählen ihren Kaufkanal längst abhängig von Situation und Produkt. Der Einkaufsprozess verläuft selten linear, sondern über eine Vielzahl von Kanälen. Damit wird die Verzahnung der Kanäle, im Verbund mit einer intelligenten Digitalisierung, immer wichtiger, schon jetzt – und erst recht in Zukunft. Erst das Zusammenspiel der Kanäle führt dazu, perfekte Shoppingerlebnisse zu kreieren. Dabei gilt es, Technologie von den Kund*innen her zu denken. Undifferenzierte Retailer werden auf kurz oder lang verschwinden. Eine klare Positionierung als Spezialist oder Generalist ist zwingend. Gleichzeitig müssen Stores zu Orten der Begegnung zwischen Menschen und Marken werden. Sie müssen unterhalten, inspirieren und vernetzt sein, mit dem klaren Fokus auf Kund*innen-Zentrierung und Kund*innen-Bindung.

Die Pandemie hat Dynamiken zusätzlich verstärkt. Welche Chancen bietet in dieser Hinsicht Corona Ihrem Unternehmen, gerade mit Blick auf New bzw. Remote Work?
Corona hat die Arbeitswelt vielerorts komplett auf den Kopf gestellt und aus vielen Tendenzen Fakten und bleibende Veränderungen gemacht. Die klassische Bürowelt mit ihrer gewohnten Präsenzund Schreibtischkultur „from nine to five“ hat vor allem bei den Wissensarbeiter* innen ausgedient – und sie wird auch nicht mehr zurückkommen. Uns hat die Pandemie gezeigt, dass wir technisch und kulturell fit sind für Remote Work. Nun gilt es, für die Zukunft das Beste aus beiden Welten zu verbinden.

Sind Jahrhundertereignisse wie eine solche Pandemie wirksame Signale, um Unternehmen und den Menschen zu zeigen, dass es die viel besungene „Normalität“ nicht mehr gibt?
Derlei Ereignisse wirken wie ein Brennglas und beschleunigen vieles. Die Entwicklung selbst ist aber nicht neu. Wir haben es schon seit geraumer Zeit mit sehr hohen Veränderungsdynamiken zu tun. Die digitale Transformation hat uns auch schon lange vor Corona vor Herausforderungen gestellt. Die Pandemie hat nun noch einmal deutlich gemacht, dass das vermeintliche „New Normal“ eigentlich ein „Never Normal“ ist: Wenn Veränderungsgeschwindigkeiten zunehmen, sich alles permanent wandelt – was ist dann eigentlich normal? Deswegen ist der Umgang mit dieser Herausforderung – das Mindset also – so maßgeblich: Wer versucht, Veränderung lediglich auszuhalten, kommt nicht weiter, reibt sich auf. Nur, wer die positiven Möglichkeiten in der Veränderung erkennt, kann sie aktiv gestalten.

Gerade der Handel braucht einen vielseitigen Blick auf seine Kund*innen, verbunden mit dem Mut, neue Wege zu gehen.

Haben Sie die Befürchtung, dass bestimmte Errungenschaften wie zum Beispiel die Annäherung an die Gender- Gerechtigkeit durch Corona in Gefahr geraten?
Corona hat uns gezeigt, wie fragil unsere Gesellschaft in vielen maßgeblichen Bereichen ist. Die größte Herausforderung bildet sicherlich die Kluft, die aktuell unsere Gesellschaft spaltet. Hier gilt es Brücken zu bauen und Lösungen zu finden für die großen Probleme unserer Zeit. Das gilt für die gerechte Verteilung von Care-Arbeit in Familien genauso wie für eine Chancengleichheit von Wissensarbeiter* innen und systemrelevanten Arbeitnehmer*innen, die ihren Job nur in Präsenz ausüben können. Hier müssen Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft im Schulterschluss aktiv werden.

Was bedeuten diese Entwicklungen für Nachwuchskräfte im Handel: Mit welchem Mindset sollten sie in die Unternehmen kommen, um als junge Generation ihre Stärken auszuspielen?
Jedes Unternehmen profitiert davon, wenn Mitarbeitende – egal welcher Generation – ihre individuellen Stärken und Standpunkte einbringen. Diese Diversität der Perspektiven und Ideen machen Unternehmen erfolgreich und innovativ. Gerade der Handel braucht einen vielseitigen Blick auf seine Kund*innen, verbunden mit dem Mut, neue Wege zu gehen. Das bietet für Nachwuchskräfte viele Chancen. Es hilft, sich eine positive Unruhe zuzugestehen. Es ist gut, Lust dazu zu haben, nach vorne zu gehen, sich zu zeigen und unerschrocken in ein neues Projekt einzutauchen. Dieses Zutrauen wird belohnt: Mut zur Veränderung und das Wachsen mit und an Aufgaben bringen jede*n auf dem eigenen beruflichen Weg voran.

 

Zum Unternehmen

Die Otto Group ist eine weltweit agierende Handels- und Dienstleistungsgruppe mit rund 50.000 Mitarbeiter*innen und einem Umsatz von 15,6 Milliarden Euro. Mit 30 wesentlichen Unternehmensgruppen ist sie in mehr als 30 Ländern Europas, Nord- und Südamerikas und Asiens präsent. Die Otto Group gehört mit einem Online-Umsatz von 9,9 Milliarden Euro zu den weltweit größten Onlinehändlern. Tätig ist die Unternehmensgruppe in den drei Bereichen Multichannel-Einzelhandel, Finanzdienstleistungen und Service. Im Segment Multichannel-Einzelhandel agiert die Otto Group mit den drei Geschäftsmodellen „Plattform & Händler“, „Markenkonzepte“ und „Corporate Ventures“. Im Geschäftsmodell „Plattform & Händler“ wird die Otto Marke durch hohe Investitionen zu einer intelligenten E-Commerce-Plattform ausgebaut.