Handel schaut aufs Ganze

Foto: AdobeStock/alzay
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Sichere Kundendaten, ökologisch sanierte Filialen, smarte Logistikkonzepte für den Lieferservice: Der Handel steht vor der Herausforderung, bei digitalen und stationären Themen den Anforderungen der Zeit gerecht zu werden. Nur so können die kritischen Verbraucher*innen überzeugt werden. Das führt zu neuen Jobprofilen in den Handelsunternehmen. Wobei die Erfolgsmanager*innen von morgen alle Aspekte zusammenbringen, um ein ganzheitliches Erfolgskonzept zu entwickeln, in dem stationärer und digitaler Handel zusammengedacht werden. Ein Essay von André Boße

„Deutschland europaweit nur Vorletzter“ – solche Meldungen sorgen sofort für große Aufmerksamkeit, schließlich sieht sich die Bundesrepublik gerne als Vorreiter. Die Rede ist von einem Ranking, das die Unternehmensberatung McKinsey im Mai 2021 erstellt hat. Die Forschungsfrage lautete: Wie viele Verbraucher*innen haben in den vergangenen sechs Monaten für ihren Konsum oder für Behördenerledigungen digitale Dienste genutzt? 20.000 Menschen aus 19 Ländern Europas haben an der Studie teilgenommen, der Durchschnittsanteil für Europa liegt bei 80 Prozent der Verbraucher*innen. Vorne liegen die Briten mit 86 Prozent vor den Franzosen mit 82 Prozent. Es folgt eine Reihe von Nationen mit Anteilen zwischen 80 und 72 Prozent. Abgeschlagen auf Rang 18: Deutschland mit 65 Prozent, dahinter nur noch die Schweiz mit 64 Prozent. „Es zeigt sich, dass wir als Gesellschaft noch stärker die Chancen der Digitalisierung betonen müssen, wenn wir nicht dauerhaft als digitale Bummler wahrgenommen werden wollen“, wird Gérard Richter, Leiter von McKinsey Digital in Deutschland, in einer Pressemitteilung zum Ergebnis der Studie zitiert.

Deutschlands kritische Konsument*innen

Woran es liegt? Zum einen zeigt die Studie, dass die deutschen Verbraucher*innen nicht vollends mit den digitalen Diensten zufrieden sind. Störend werde vor allem wahrgenommen, wenn online nicht alle Produkte und Dienstleistungen des jeweiligen Anbieters zur Verfügung stehen oder der Kundenservice zu Wünschen übriglässt. Sowieso seien die deutschen Konsument*innen kritischer als in anderen Ländern. „In keinem europäischen Land ist das Misstrauen gegenüber digitalen Angeboten so ausgeprägt wie in Deutschland“, heißt es in der McKinsey-Studie.

Wer verkauft wie viel?

Das EHI Retail Institute, ein Datendienstleister für die Handelsbrache, hat mit der Studie „Stationärer Einzelhandel in Deutschland 2021“ im September 2021 eine umfangreiche Marktanalyse vorgelegt. Danach ist der Lebensmittelhandel unter den Segmenten der mit weitem Abstand umsatzstärkste: Hier werden 60,5 Prozent der Gesamt-Handels- Umsätze erwirtschaftet. Es folgen die Baumärkte und Einrichtungsgeschäfte mit 15,7 Prozent, wobei die Baumärkte mit einem Anteil von 6,4 Prozent laut Studie von der Pandemie profitieren, weil erstens viele Menschen die Lockdown-Zeit zum Renovieren nutzten und zweitens die Baumärkte unter Auflage geöffnet blieben, als viele Einzelhändler schließen mussten. So auch die Mode- und Accessoires-Händler, die einen 6,4-Prozent-Anteil erwirtschafteten.

Der wichtigste Vertrauensfaktor sei dabei der sorgsame Umgang mit persönlichen Daten. „Allerdings fürchtet jeder fünfte Befragte, dass die Daten nicht entsprechend geschützt werden“, so die Studie. Interessant: Die Sorge vor einem unsicheren Online-Bezahlvorgang spiele dagegen kaum eine Rolle. „Unsere Umfrage zeigt einen deutlichen Mangel an Vertrauen in die Fähigkeit von Organisationen, persönliche Daten zu schützen“, so Gérard Richter. „Organisationen müssen dieses wachsende Problembewusstsein sehr ernst nehmen und Datenschutz als Differenzierungsmerkmal oder sogar Wettbewerbsvorteil nutzen.“ Dafür sei es nötig, wirksame Maßnahmen für die sichere Datenverarbeitung und -infrastruktur zu ergreifen sowie verständlich und transparent zu kommunizieren – nur so könne verloren gegangenes Vertrauen wieder aufgebaut werden.

Jo-Jo-Effekt: Lust auf stationären Handel steigt

Dieses Vertrauen ist essenziell, wenn der Handel den digitalen Schwung, der sich aus der Pandemie heraus ergeben hat, nicht wieder verlieren möchte. Dass es diesen Boost gab, zeigt die McKinsey-Befragung, nach der die deutschen Konsument*innen den Einzelhandel in den sechs Monaten vor der Befragung als die „digital innovativste Branche“ wahrnahmen. Die Folge: Mit 61 Prozent „volldigitaler“ Nutzung besitzt der Einzelhandel den zweigrößten Anteil, übertroffen nur vom digital-affinen Bereich Medien und Unterhaltung – wobei für 49 Prozent der Befragten die Pandemie der entscheidende Grund dafür war, im Einzelhandel digitale Kanäle zu nutzen. Die entscheidende Frage ist nun: Wird das so bleiben, wenn der stationäre Handel wieder geöffnet hat und die Konsumgesellschaft Schritt für Schritt die Normalität der Prä-Corona- Zeit wieder herstellt?

Viele sehnen sich nach physischer Nähe und werden – zumindest teilweise – wieder zu ihren bevorzugten analogen Kanälen zurückkehren.

Entscheidend sei, so die McKinsey-Studie, wie sehr die Unternehmen den Wünschen ihrer Kund*innen gerecht werden und wie viel Innovationskraft sie entwickeln. Wobei es im Handel (anders als zum Beispiel in den Medien) keinen Automatismus zu noch mehr digitalem Konsum gibt. Eher sei das Gegenteil der Fall, man kann von einem Jo-Jo-Effekt sprechen. „Viele sehnen sich nach physischer Nähe und werden – zumindest teilweise – wieder zu ihren bevorzugten analogen Kanälen zurückkehren“, schätzt Gérard Richter laut McKinsey-Pressemitteilung. Nun liege es am Handel, dieses Jo-Jo optimal auszupendeln.

Gefragt ist Know-how im Datenschutz

„Das Ende der Pandemie kommt nicht so plötzlich, wie sie begonnen hat“, so Richter. Es stehe eine längere Phase der Erholung und Normalisierung bevor, die vor allem digital rückständigere Segmente nutzen müssten, um weiter aufzuholen. Digitale und analoge Angebote sollten gleichwertig betrachtet und verbraucherfreundlich gestaltet werden, dabei komme es darauf an, das wachsende Problembewusstsein der Deutschen ernst zu nehmen und Datenschutz als Differenzierungsmerkmal oder sogar Wettbewerbsvorteil zu nutzen. „Dafür ist es nötig, wirksame Maßnahmen für die sichere Datenverarbeitung und -infrastruktur zu ergreifen, und sehr verständlich und transparent zu kommunizieren. Nur so kann verloren gegangenes Vertrauen wieder aufgebaut werden”, zitiert die Pressemitteilung.

Erstes Halbjahr 2021: Online-Handel legt kräftig zu

Im Sommer verunsicherten Nachrichten aus den USA selbst die überzeugtesten E-Commerce-Verfechter: Im zweiten Quartal 2021 entsprach die Umsatzprognose von Amazon nicht den (hohen) Erwartungen. Zwar fiel der Gewinn höher als die Zielgröße aus, dennoch geriet die Amazon-Aktie unter Druck und starteten die Diskussionen, ob das Wachstum im E-Commerce doch Grenzen kennt. Die Zahlen für den deutschen Online-Handel sprechen nach der Marktanalyse des Bundesverbands E-Commerce und Versandhandel Deutschland jedoch eine andere Sprache: Erwirtschaftete der Online- Handel im ersten Halbjahr 2020 36,7 Milliarden Euro, sind es im ersten Halbjahr 2021 45,2 Milliarden Euro. Das entspricht einem Wachstum von 23,2 Prozent – und das, „obwohl die Restriktionen im stationären Handel mittlerweile gelockert wurden und wieder mehr Menschen in die Geschäfte gehen, ist der Wachstumstrend der Branche ungebrochen“, wie es in der Studie heißt.

Hier zeigt sich, welche Qualitäten den Mitarbeiter*innen im Einzelhandel in dieser Situation weiterhelfen: Know-how in Sachen Datenschutz wird zum Erfolgsfaktor für digitales Wachstum. Den Kund*innen zu verdeutlichen, was ein Handelsunternehmen in diesem Bereich leistet, schafft Transparenz und Vertrauen. Einsteiger*innen im Handel, die im Bereich IT oder Marketing tätig werden, finden hier Handlungsmöglichkeiten, mit denen sich wirklich ein Unterschied machen lässt.

Klimafreundlichkeit? Online punktet gegen stationär

Schaut man auf weitere potenzielle Negativeffekte des Online-Handels, reicht ein Blick auf die Straße: Die Zahl der Lieferfahrzeuge, die Bestellungen zu den Kund*innen bringt, hat deutlich zugenommen, dazu drängen Radkurier*innen lokalerer Dienste, insbesondere für Essens-Lieferdienste, sowie Bring-Services für Getränke oder Lebensmittel auf die Straße. Klar, dass es dort eng wird. Und klar, dass sich die Frage aufdrängt: Wie viel CO2 stößt der Online-Handel aus, der Produkte bis zur Haustür bringt? Sind auf den digitalen Kanälen die heimlichen Klimakiller unterwegs?

Eine Studie der Unternehmensberatung Oliver Wyman in Zusammenarbeit mit den Logistics Advisory Experts, einem Spin-off der Universität St. Gallen, kommt zu dem Ergebnis, dass der „Online-Handel im Vergleich zu stationären Non-Food- Händlern in acht europäischen Ländern pro verkaufter Wareneinheit um den Faktor 1,5 bis 2,9 besser abschneidet“, wie es in einer Pressemeldung zur Studie heißt. In der Studie untersuchten die Expert*innen die gesamte Lieferkette und ermittelten, dass beim stationären Kauf eines Produktes im Schnitt 2000 Gramm CO2 freigesetzt werden, bei einer Online-Lieferung 800 Gramm. Was nicht unerwähnt bleiben soll: Den Auftrag erhielten die Forscher*innen und Strategieberater*innen vom Online-Giganten Amazon, jedoch sei diese Studie „unabhängig“ durchgeführt worden.

Während Konsument*innen beim Online-Handel kaum bis gar keinen Einfluss auf die Klimabilanz haben, ist das im stationären Handel anders. „Wer zu Fuß zum Buchladen geht, kommt auf die gleiche Klimabilanz wie der Online-Käufer“, stellt Joris D’Incà, Partner und Global Sector Head Logistics von Oliver Wyman, in der Pressemitteilung fest. Die Emissionen nach oben treiben die vielen Autos, die sich auf dem Weg in die Citys oder Malls machen: „Der gebündelte Lieferverkehr in der Paketauslieferung spart das vier- bis neunfache an Individualverkehr ein und entlastet damit Innenstädte“, formuliert Eva Sprengnetter, Beraterin bei Oliver Wyman.

Alte Filialen als Klimasünder

Beim Online-Handel gibt es in Sachen Klimaschutz Optimierungsmöglichkeiten: gebündelte Lieferungen, Kooperationen verschiedener Anbieter, elektrische Logistikfl otten, Mirco-Mobilität für die letzte Meile.

Doch nicht nur die Mobilität hin zu den Stores sorgt für Belastung. Deutschlands stationäre Non-Food-Händler hinterlassen im europäischen Vergleich den größten ökologischen Fußabdruck. „Ursache sind die hohen CO2-Emissionen der Gebäude“, stellt Joris D’Incà in der Pressemeldung klar. Daraus ergibt sich eine große Aufgabe, vor der die Besitzer*innen und Mieter*innen der Immobilien in Zentren und Malls stehen: Kommen in den Stores mehr Erneuerbare Energien zum Einsatz, sinken die Emissionen. „Moderne Filialen setzen hier bereits neue Standards“, stellt Joris D’Incà fest – und fordert, dass die Öffentliche Hand durch Förderungen Anreize für weitere Sanierungen gibt. Wer heute im Handel einsteigt, findet also im Energiemanagement von Filialen ein weiteres neues und innovatives Tätigkeitsfeld: Im Zusammenspiel mit den Vermietern und Behörden kommt es darauf an, klimafreundliche und nachhaltige Energiekonzepte zu entwickeln.

Auch beim Online-Handel gibt es in Sachen Klimaschutz Optimierungsmöglichkeiten: gebündelte Lieferungen, Kooperationen verschiedener Anbieter, elektrische Logistikflotten, Mirco-Mobilität für die letzte Meile – dem Gedränge der unzähligen Lieferfahrzeuge mit Verbrennungsmotoren lassen sich smarte und klimafreundliche Konzepte entgegensetzen. Diese zu entwickeln und umzusetzen, zählt zu den spannenden Zukunftsaufgaben, die den Einstieg in den Handel so interessant machen. Schon das Kerngeschäft ist herausfordernd: Es geht darum, Synergien aus Online- und stationärem Handel zu finden. Zusätzlich ergibt sich eine weitere attraktive Ebene, bei der es darauf ankommt, den Handel klimafreundlich zu gestalten – digital wie stationär.

Neu auf Netflix: „Superstore“

Die US-Serie „Superstore“ zählt zu den Geheimtipps unter den Comedy-Formaten. Gezeigt wird das Arbeitsleben der Belegschaft eines amerikanischen Groß-Supermarktes der fiktiven Kette „Cloud 9“. Neben allerhand lustigen und diversen Charakteren sowie sehr behutsam erzählten Liebesgeschichten, zeigt das Format sehr schön, auf welche Herausforderungen Megastores und ihre Mitarbeiter*innen in dieser komplexen Welt treffen – sowohl auf der Verkaufsfläche als auch im Management. In der letzten Staffel thematisiert die Sitcom sogar die Pandemie. Nachdem die Serie lange in Deutschland nicht zu sehen war, ist sie seit September 2021 bei Netflix abrufbar.