Der 3D-Druck hat die Baustelle erreicht – nicht als futuristisches Spielzeug, sondern als ernstzunehmendes Produktionsverfahren für tragende Bauteile. In Metzingen-Neugreuth drucken ZÜBLIN und INSTATIQ erstmals das oberste Geschoss eines vierstöckigen Wohngebäudes direkt vor Ort. Das innovative Verfahren verspricht nicht nur schnellere Bauzeiten und geringere Emissionen, sondern auch eine neue Ära der Bauautomatisierung. Von Sonja Theile-Ochel
Im Zentrum des Systems steht der Großraumroboter „Instatiq P1“. Ein automatisch gesteuerter Mastausleger mit einer Reichweite von 26 Metern trägt Beton Schicht für Schicht auf. So entstehen monolithische, tragende Wände – nicht nur Schalungen. Gedruckt wird aus einem konventionellen Betonmischer; Spezialbaustoffe sind nicht erforderlich. Die Leistung: bis zu 10 cm pro Sekunde, maximal 2,5 m³ pro Stunde; Wandhöhen bis 3 Meter, Wandstärken zwischen 16,5 und 19 cm.
Für die Baupraxis zählen Taktzeiten.
Laut ZÜBLIN steht das Tragwerks-Geschoss in nur vier Tagen; ein Kubikmeter gedruckte Massivwand benötigt nur die Hälfte der Zeit im Vergleich zu Kalkstein- Mauerwerk. Gleichzeitig sinken Staub- und Lärmbelastung für das Team – ein Plus für Arbeitsschutz und die Attraktivität der Baustelle. Der Effizienzgewinn ist digital getrieben: Gesteuert wird direkt aus dem Modell, was Medienbrüche reduziert und die Qualitätssicherung vereinfacht. Fehler durch manuelle Planübertragung werden vermieden. Für Berufseinsteiger: Wer BIM-Workflows versteht, Baulogistik denkt und Sensorik/Prozessdaten auswerten kann, wird zum Schlüsselspieler zwischen Planung, Maschine und Ausführung.
Auch die Klimabilanz rückt in den Vordergrund. Die in Metzingen eingesetzte Betonrezeptur verursacht rund 20 % weniger CO₂-Emissionen als konventionelles Kalkstein-Mauerwerk. Zusammen mit optimierten Wandstärken lassen sich Material und Transport einsparen – ein Hebel, der in verdichteten Zeit- und Kostenrahmen zählt. Das Projektumfeld zeigt, dass es um mehr geht als ein Einzelstück: Auf dem Areal entstehen 44 Wohnungen, darunter 18 öffentlich geförderte und sechs barrierefreie Einheiten; die Fertigstellung ist für Mai 2026 vorgesehen. Weitere 3D-Druck-Projekte sind in Planung. Perspektivisch soll ein Joint Venture von ZÜBLIN und INSTATIQ unter dem Namen NELCON die Dienste breiter anbieten – vorbehaltlich kartellrechtlicher Genehmigungen.
Was bedeutet das für deine Karriere als junge:r Bauingenieur:in?
Prozessorientierung statt Gewerkgrenzen: Du planst nicht nur Bauteile, du orchestrierst Daten, Takte und Materialflüsse für additive Fertigung.
Design for Additive Construction: Wandaufbauten, Öffnungen, Installationszonen – all das lässt sich druckgerecht und ressourcenschonend denken.
Produktivität & Fachkräftemangel: Automatisierung fängt repetitive Arbeit ab. Deine Rolle verschiebt sich Richtung Steuerung, Qualität, Logistik und Nachhaltigkeit.
Fazit:3D-Betondruck ist kein Zukunftsversprechen mehr, sondern ein skalierbares Verfahren mit messbaren Vorteilen bei Zeit, Qualität und Emissionen. Wer jetzt Kompetenzen in digitaler Planung, Baustellen- Automatisierung und nachhaltigen Baustoffen aufbaut, gestaltet den nächsten Produktivitätssprung des Bauens aktiv mit.
Manuel Felix arbeitet seit Juni 2023 als Bauleiter bei der Firma Berster Koch im Oberbergischen Kreis. Er hat Bauingenieurwesen an der FH Aachen studiert und seine Masterarbeit im Unternehmen geschrieben. Im Interview erzählt er, warum er sich gegen ein Sportstudium entschieden hat, wie er Baustellen managt und weshalb er glaubt, dass Bauingenieur*innen auch in Zukunft dringend gebraucht werden. Ein Gespräch über frühes Aufstehen, Verantwortung mit 27 und die Realität auf dem Bau. Die Fragen stellte Sonja Theile-Ochel.
Sie haben 2016 Ihr Abitur gemacht – wie ging es danach weiter?
Nach dem Abi war ich für zehn Monate in Australien zum Work & Travel. Das war eine tolle Erfahrung. 2017 habe ich dann in Aachen angefangen, Bauingenieurwesen zu studieren – erst den Bachelor, dann direkt den Master. Ich habe beide Abschlüsse mit der Vertiefung „Baubetrieb“ gemacht.
Warum Bauingenieurwesen? Gab es da familiäre Vorbilder?
Nein, überhaupt nicht. Es war eher ein fließender Prozess. Ich habe früher gern im Garten- und Landschaftsbau gejobbt und fand Baustellen schon immer spannend. Eigentlich wollte ich erst Sport studieren – der Test an der SpoHo in Köln lief auch gut. Aber dann kam das Angebot aus Aachen, und ich habe gemerkt: Bau interessiert mich wirklich.
Heute arbeiten Sie als Bauleiter. Wie sah der Weg dorthin aus?
Ich habe während des Studiums als Werkstudent in einem Ingenieurbüro gearbeitet. Die Stelle, die ich jetzt habe, ist meine erste Vollzeitstelle nach dem Studium. Ich bin seit Juni 2023 bei der Firma Berster Koch in Oberberg tätig. Wir realisieren Bauprojekte im Hoch- und Tiefbau, oft für die öffentliche Hand.
Und Ihre Masterarbeit haben Sie parallel zum Job geschrieben?
Ja. Ich habe tagsüber Vollzeit gearbeitet und abends sowie am Wochenende an meiner Masterarbeit geschrieben. Das Thema war ein unternehmensinterner Optimierungsprozess im Baubetrieb. Ich würde das so nicht unbedingt jedem empfehlen – es war anstrengend -, aber für mich war es der richtige Weg. Ich wollte raus aus dem Studium, rein ins Berufsleben.
Was macht ein Bauleiter eigentlich genau?
Wir begleiten ein Bauprojekt von der Planung bis zur Fertigstellung. Das heißt: Wir organisieren den Ablauf, kümmern uns um Materialbeschaffung, erstellen Bauzeitenpläne, koordinieren Personal und sind Ansprechpartner für Architekten, Statiker, Bauherren und natürlich für das Team auf der Baustelle. Man muss schnell auf Probleme reagieren und viele Entscheidungen treffen.
Man ist viel im Austausch – mit sehr unterschiedlichen Menschen. Das muss man mögen. Es geht nicht nur ums Technische, sondern oft auch darum, Lösungen zu finden und Kompromisse auszuhandeln.
Klingt nach einem sehr kommunikativen Beruf.
Absolut. Man ist viel im Austausch – mit sehr unterschiedlichen Menschen. Das muss man mögen. Es geht nicht nur ums Technische, sondern oft auch darum, Lösungen zu finden und Kompromisse auszuhandeln.
Bereitet das Studium gut darauf vor?
Teils, teils. Die Grundlagen sind da: Man lernt, wie Bauprozesse ablaufen, macht erste Zeit- und Einrichtungspläne. Aber vieles lernt man erst in der Praxis. Ich glaube, selbst mit 20 Jahren Berufserfahrung lernt man bei jedem neuen Projekt wieder etwas dazu.
Wie sieht ein typischer Arbeitstag bei Ihnen aus?
Eine Mischung aus Büro und Baustelle. Ich schreibe E-Mails, telefoniere viel, arbeite mit Kalkulationssoftware. Und ich bin regelmäßig vor Ort – gerade bei größeren Bauabschnitten. Meine Arbeitszeit beginnt meist um sieben Uhr morgens, im Sommer sogar früher. Insgesamt bin ich etwa 43 Stunden pro Woche im Einsatz.
Foto: Berster Koch Bauunternehmen GmbH & Co. KGViele junge Menschen wünschen sich flexible Arbeitsmodelle. Ist das im Bauwesen realistisch?
Jein. Natürlich spricht man auch in unserer Branche über Work-Life-Balance. Aber die Realität ist: Eine Baustelle funktioniert nicht im Homeoffice. Die Koordination vor Ort ist essentiell – und das geht nicht, wenn freitags plötzlich alle frei machen. Der Wunsch nach Vier-Tage-Woche ist verständlich, aber in der Bauleitung aktuell schwer umsetzbar.
Wie beurteilen Sie die Berufsaussichten für Bauingenieur*innen?
Sehr gut. Es gibt viele Aufgaben – Brücken, Straßen, öffentliche Gebäude – bei denen enormer Sanierungsbedarf besteht. Der Bausektor wird auch in den nächsten Jahrzehnten gefragt sein. Natürlich gibt es Schwankungen, aber insgesamt sehe ich den Bedarf als stabil.
Was war Ihr bislang spannendstes Projekt?
Mein erstes: ein Teil des Wiehlparks gegenüber vom DB-Gymnasium. Es war ein guter Einstieg mit kommunalem Auftraggeber, vielen Beteiligten und spannender Bauweise. Solche Projekte zeigen einem, wie komplex Bau wirklich ist.
Gibt es ein Wunschprojekt?
Brücken faszinieren mich. Das ist technisch sehr anspruchsvoll – und sie sind für unsere Infrastruktur entscheidend. Natürlich werden Großprojekte nur von wenigen Firmen in Deutschland umgesetzt. Aber selbst mittelgroße Brücken wären für mich als Bauleiter ein echtes Highlight.
Stichwort Digitalisierung: Spielt Künstliche Intelligenz in Ihrem Job eine Rolle?
Aktuell noch nicht. Ich habe auch meine Masterarbeit ohne KI geschrieben. Aber ich sehe, dass bei Studierenden inzwischen viel damit gearbeitet wird – zum Beispiel bei Literaturrecherche oder für Formulierungshilfen. Ich bin gespannt, was da noch kommt.
Wenn heute ein Abiturient zu Ihnen käme und sagt: Ich überlege, Bauingenieurwesen zu studieren – was würden Sie raten?
Sich wirklich dafür interessieren – das ist die Grundvoraussetzung. Und: Früh anfangen zu lernen! Das Studium ist anspruchsvoll. Man braucht Disziplin und Durchhaltevermögen. Was mir sehr geholfen hat, war eine gute Lerngruppe. Und: Man sollte sich nicht entmutigen lassen, wenn mal eine Klausur schiefgeht. Das gehört dazu.
Und was sind Ihre nächsten beruflichen Ziele?
Im Moment geht es für mich vor allem darum, Berufserfahrung zu sammeln. Ich will verstehen, wie unterschiedliche Projekte funktionieren – und mich weiterentwickeln. Ob später mal Projektleitung oder etwas anderes – das wird sich zeigen.
Die Zahl der Absolvent*innen eines Bauingenieurstudiums lag 2023 bei 10.192, im Jahr 2024 ist sie leicht gestiegen auf 10.458. Damit liegt sie immer noch mehr als doppelt so hoch als zum Tiefpunkt 2008 mit 4.680.
Klimaschutz, Nachhaltigkeit und das ganze Gedöns sind mit den Regierungswechseln in Amerika und bei uns irgendwie durch – so oder so ähnlich ist zunehmend zu hören. Ist dem wirklich so? Ich bin vom Gegenteil überzeugt: nachhaltig und langfristig wirtschaftlich bauen für alle geht wunderbar zusammen. Und wenn Klimawandel, Ressourcenknappheit oder abnehmende Biodiversität wirklich real sind, was die große Mehrheit der ernstzunehmenden Wissenschaft nahelegt, dann sollten sich Studierende weniger an kurzfristigen politischen Stimmungen, sondern besser an den langfristig wichtigen Themen orientieren. Ein Gastbeitrag von Dr. Bernhard Hauke
Wer erinnert sich noch an die leidenschaftlich geführte Debatte um das Drei-Liter-Auto? Damals dachten wir – etwas verkürzt –, der Benzinverbrauch sei das Maß für die Umweltfreundlichkeit von Autos. Gleichzeitig spielte es keine Rolle, dass die Drei-Liter-Autos aus energieintensivem Aluminium oder gar Carbon hergestellt wurden. Hauptsache der Benzinverbrauch war niedrig. Der Verkehr ist immer noch wichtig für globale Nachhaltigkeitsfragen, wird aber inzwischen auch ganzheitlicher betrachtet.
Gleichzeitig ist heute besser bekannt, dass weniger das Elektroauto Klima und Umwelt und damit unsere Lebensgrundlagen rettet, sondern maßgeblich der Bau- und Immobiliensektor. Damit sind Bauingenieurwesen, Architektur & Co. zu Schlüsseldisziplinen für Lösung und Umsetzung vieler Themen zu Klimaschutz, Klimaanpassung und Nachhaltigkeit aufgestiegen.
Dabei ist es eigentlich egal oder, besser gesagt, den persönlichen Neigungen überlassen, ob man sich mehr für Real Estate und Projektentwicklung interessiert, moderne Baustoffe und Bauprodukte entwickeln und produzieren möchte, lieber die konstruktiven Themen der Tragwerksplanung angeht oder planerisch Verkehr, blau-grüne Infrastruktur oder Wasserversorgung und Abfallnutzung gestaltet, mit Gummistiefeln und Laptop über die Baustelle stapfen möchte, gerne Gebäude oder Brücke effizient betreibt oder in einer entscheidungsfreudigen und digitalen Bauverwaltung arbeitet – überall spielen weiterhin und zunehmend Nachhaltigkeitsthemen eine essentielle Rolle. Und die Bauingenieure sind immer mittendrin, wenn auch vielleicht etwas leiser als andere.
Das nachhaltigste Gebäude, die klimafreundlichste Brücke sind die, welche schon da sind und möglichst lange (um)genutzt werden können.
Gerade in den Jahren der viel gescholtenen Ampel-Koalition hat sich, oft noch im Kleinen und Verborgenen, doch einiges entwickelt und auch zum Positiven verändert. Es wird nun mehr gelehrt und geforscht zu Themen des nachhaltigen Bauens, es gibt diverse Startups und auch bei Normen und Regeln tut sich langsam etwas. Das ist sicher immer noch zu wenig, aber es wird nicht einfach wieder verschwinden, nur weil die Großwetterlage gerade eher wieder anders herum ist.
Und noch etwas zeichnet sich ab: Das nachhaltigste Gebäude, die klimafreundlichste Brücke sind die, welche schon da sind und möglichst lange (um)genutzt werden können. Da geht es nicht nur um reine Ökothemen, sondern zuvorderst um sich verändernde Nutzungskonzepte, aber auch um Berechnungen, Produkte und Services, die den Lebenszyklus verlängern und vor allem den Wert des Bauwerks erhalten oder sogar steigen. Von der Bestandsanalyse, über Planung, Bau und Betrieb oder Umnutzung bis zu Rückbau, Recycling oder besser Wiederverwendung muss alles ganzheitlich bedacht werden. Die technische Seite der aufkommenden Umbaukultur bietet zahlreiche Aufgaben für uns Bauingenieure.
Abwarten und Zögern wird uns nicht weiterbringen, so hat es kürzlich Schüco- Chef Andreas Engelhardt formuliert und gefordert, gemeinsam Deutschlands Wirtschaft wieder zum Vorreiter für Nachhaltigkeit zu machen und damit natürlich insbesondere den so maßgeblichen Bausektor im Kopf gehabt.
Dr. Bernhard Hauke
Der Ingenieur, Journalist und Nachhaltigkeitsexperte Dr. Bernhard Hauke ist gelernter Baufacharbeiter, hat an der TU Darmstadt Bauingenieurwesen studiert und mit einem Monbusho-Stipendium an der Univ. Tokyo promoviert. Anschließend war er je eine Dekade Leiter Tragwerksplanung bei Hochtief Engineering in Frankfurt und danach Geschäftsführer von bauforumstahl in Düsseldorf. Seit 2018 ist er Editorial Director des Bauingenieur- Fachverlages Ernst & Sohn und hat 2022 die Zeitschrift nbau. Nachhaltig Bauen gegründet.
www.nbau.org
Mängelquartett: Das Bauschaden-Battle für Baustarter
Baumängel als Kartenspiel? Das Berliner Büro karhard architektur + design liefert mit dem „Mängelquartett“ Lernstoff im Hosentaschenformat. Wie beim Autoquartett stichst du nicht mit P S, sondern mit Schadenssummen. 40 Quartettserien zeigen echte Fälle – von Wasserschaden bis Planungsfehler. Praktisch: Ein 28-seitiger Leitfaden von Architektin Alexandra Erhard hilft, Mängel im echten Leben zu beur teilen. Seit 2003 ein Mix aus Training und Spaß. Preis: 15,80 Euro. Tipp zum Berufseinstieg: erst zocken, dann auf der Baustelle besser hinschauen.
„Gute Arbeit!“ – Inspiration für die Arbeitswelt von Morgen
Das Buch „Gute Arbeit! Eine Anstiftung zur Selbstwirksamkeit“ liefert einen praxisnahen Leitfaden für die moderne Arbeitswelt. Es erklärt Trends, Methoden und den Einfluss der Digitalisierung. Mit Übungen und konkreten Tipps unterstützt es Leser dabei, innovative Arbeitsmodelle aktiv in den Alltag zu integrieren. Ein inspirierender Impuls für zukunftsfähiges Arbeiten! King: Gute Arbeit! Eine Anstiftung zur Selbstwirksamkeit. Vahlen 2024. 296 Seiten, 29,80 €.
Tatort Erde – Die größten Umweltverbrechen unserer Zeit
Die renommierte Kriminalpsychologin Julia Shaw beleuchtet, warum Menschen Umweltverbrechen begehen, wie internationale Ermittler*innen und Aktivist*innen dagegen kämpfen – und was uns alle zu Mitstreiter*innen für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen macht. Shaw verbindet True Crime mit Klimaschutz und zeigt: Umweltzerstörung ist kein Schicksal, sondern ein Verbrechen, dem wir begegnen können. Julia Shaw. Green Crime. Was Umweltverbrecher antreibt und wie man sie aufhält, 320 Seiten, Ullstein, 24,99 €
Stadt, Stahl, Strategie
Wie Deutschlands Bauingenieur:innen die Zukunft gestalten Mit beeindruckender Projektvielfalt und aktuellen Debatten zwischen Nachhaltigkeit und Hightech zeigt dieses Jahrbuch, was moderne Ingenieurbaukunst leisten kann – praxisnah, ästhetisch, zukunftsweisend. Bundesingenieurkammer (Hrsg.): Ingenieurbaukunst 2026 – Made in Germany. Ernst & Sohn. 192 Seiten, 2025, 49,90 €.
Klimakrise sichtbar gemacht: 80 Karten, die weiterdenken
In seinem reich bebilderten Aufbau macht „Der Klima‑Atlas“ die Klimakrise über Infografiken und Karten greifbar – sei es mit Bezug auf das Münchner Weihnachtsfest oder japanische Kirschblüte. Zum Greifen nah: Zahlen, Fakten, zivilgesellschaftliche Initiativen und Utopien, die ursprünglich abgelehnt, später aber Wirklichkeit wurden. Ein kluges, visuell starkes Sachbuch, das Dringlichkeit und Hoffnung zugleich vermittelt. Luisa Neubauer, Ole Häntzschel, Christian Endt: Der Klima‑Atlas. 80 Karten für die Welt von morgen. Rowohlt Verlag, 192 Seiten. 2024. 28 €.
Bauimpulse
„Bauimpulse“ ist der Podcast von Achim Maisenbacher für Bau & Handwerk – perfekt für den Berufseinstieg als Bauingenieur:in. Kurz, praxisnah, mit Gästen aus Planung, Baustelle und Tech. Themen: Digitalisierung, Prozessautomatisierung, Führung, Recruiting. Ziel: weniger Zettelchaos, smartere Abläufe – zwischen Büro und Baustelle. Neue Folgen kommen wöchentlich; hör rein für Tools, Trends und Karriere-Insights direkt aus der Praxis.
Wo der Hammer wirklich hängt
Warum Frauen im Handwerk mehr als nur mit Werkzeug kämpfen müssen Sandra Hunke erzählt in „Ich zeig’ euch, wo der Hammer hängt“ von ihrem steinigen Weg als Frau im männerdominierten Handwerk – ehrlich, wütend und voller Leidenschaft. Ihr Buch ist ein mutiger Aufruf zu mehr Gleichberechtigung auf der Baustelle und ein Plädoyer für eine diverse Zukunft im Blaumann. Sandra Hunke: Ich zeig’ euch, wo der Hammer hängt . Verlag Michael Fischer, 2025, 208 Seiten, 18 €.
Projektmanagement: Von der Küchenrenovierung bis zur Marsmission
Ob Elbphilharmonie oder Stuttgart 21 – Großprojekte gehen in der Regel schief. Aber auch bescheidenere Unternehmungen scheitern häufig, sei es die Gründung eines kleinen Unternehmens oder einfach nur das Zusammenbauen eines Kleiderschranks. Oxford-Professor Bent Flyvbjerg ist der weltweit renommierteste Megaprojekt- Forscher. Er identifiziert die Fehler, die dazu führen, dass Projekte scheitern, und zeigt die Prinzipien auf, die den Erfolg eines Projektes sicherstellen. In seinem Buch erklärt er, wie man jedes ambitionierte Projekt erledigt – pünktlich und im Budget. Bent Flyvbjerg, Dan Gardner: How Big Things Get Done. Wie Projekte gelingen: von der Küchenrenovierung bis zur Marsmission. Droemer Knaur, 2024, 336 Seiten, 20 €.
Die Baubranche steht nie still. Neue Bauweisen, nachhaltige Materialien, digitale Planungsmethoden und strengere Umweltauflagen fordern von Dir als angehendem oder frisch gebackenem Bauingenieur ständige Anpassung. Wer in diesem Feld erfolgreich sein will, muss sich kontinuierlich weiterbilden – und das nicht nur, weil es für viele Zulassungen vorgeschrieben ist. Weiterbildung ist Deine Eintrittskarte in eine sichere, spannende und zukunftsorientierte Karriere.
Durch regelmäßige Fortbildungen kannst Du Deine Bauprojekte noch effizienter und sicherer umsetzen. Optimierte Tragwerksplanungen, präzisere Kostenkalkulationen und die Einhaltung aktuellster Normen und Richtlinien sind das Ergebnis. Weiterbildung eröffnet Dir außerdem Türen zu spannenden Spezialisierungen, beispielsweise im Brückenbau, in der Geotechnik oder im Building Information Modeling (BIM), und ermöglicht den Aufstieg in leitende Positionen. Ein spezialisierter Bauingenieur ist auf dem Arbeitsmarkt stark gefragt und kann sich seine Stelle oft selbst aussuchen. Weiterbildungsveranstaltungen sind hierbei der ideale Ort, um Kontakte zu knüpfen und Dein berufliches Netzwerk – etwa zu erfahrenen Projektmanagern und Architekten – auszubauen.
Wie Du Dich weiterbilden kannst
Die Möglichkeiten sind zahlreich: Nach dem Abschluss sammelst Du zunächst praktische Erfahrung im Berufsalltag, oft ergänzt durch interne Schulungen. Für eine formelle Spezialisierung eignen sich ein Masterstudium oder eine Zusatzqualifikation zum Fachingenieur, etwa in den Bereichen Brandschutz oder Bauphysik. Seminare, Kongresse und Workshops vermitteln weiteres Fachwissen zu aktuellen Themen wie der EU-Bauproduktenverordnung oder neuen digitalen Tools. Wer sich flexibel und unabhängig vom Arbeitsplatz weiterbilden möchte, kann aus einer wachsenden Zahl an Online-Kursen wählen, die speziell auf die Anforderungen der Baubranche zugeschnitten sind.
Anerkennung und Zertifizierung in der Baubranche
Damit Deine Weiterbildungen beruflich auch wirklich etwas bringen, sind Zertifizierungen und anerkannte Nachweise entscheidend. Diese garantieren, dass die Inhalte aktuell und hochwertig sind. Zertifikate öffnen Dir Türen zu neuen Karrierechancen, denn oft sind spezifische Weiterbildungen eine Voraussetzung für die Übernahme von Leitungsfunktionen oder die Erlangung einer Bauvorlageberechtigung.
Zertifizierte Weiterbildungen unterliegen strengen Qualitätsstandards, deren Inhalte wissenschaftlich fundiert sind und den neuesten technischen Normen wie den Eurocodes oder den VOB/ARegelwerken entsprechen. Durch die Zertifizierung wird deutlich, welche Weiterbildungen anerkannt sind und welchen Qualitätsansprüchen sie genügen. Kunden und Arbeitgeber können sich demzufolge auf die Kompetenz von Bauingenieuren verlassen, die eine zertifizierte Weiterbildung absolviert haben. Darüber hinaus sind diese Nachweise ein wichtiger Beleg für Deine Qualifikation und erleichtern den beruflichen Aufstieg. Zuständig für die Anerkennung und Zertifizierung sind in der Regel die Länder-Ingenieurkammern, Fachgesellschaften wie der VDI oder der Bauindustrieverband sowie unabhängige Zertifizierungsstellen.
Finanzierung Deiner Weiterbildung
Die Weiterbildung ist ein wichtiger Schritt in Deiner Ingenieurkarriere, aber sie kostet auch Geld. Es gibt jedoch viele Möglichkeiten, Deine Weiterbildung zu finanzieren. So unterstützen viele Bauunternehmen, Ingenieurbüros und öffentliche Arbeitgeber ihre Mitarbeiter bei der Weiterbildung. Das kann bedeuten, dass sie einen Teil der Kosten übernehmen, bezahlten Urlaub für die Teilnahme gewähren oder sogar Weiterbildungsangebote speziell für ihre Mitarbeitenden anbieten.
Bildungskredite sind eine Möglichkeit, die Kosten für Deine Weiterbildung vorzufinanzieren. Sie gewähren in der Regel längere Rückzahlungsfristen, wobei Du die Konditionen der Anbieter intensiv prüfen solltest, um den günstigsten Kredit zu finden. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Förderprogramme und Stipendien, die speziell für technische Fachkräfte oder den Bauingenieurbereich aufgelegt sind. Informiere Dich bei Deiner zuständigen Ingenieurkammer, Fachgesellschaften und der Bundesagentur für Arbeit. Hier erhältst Du auch Informationen über Stiftungen, die sich für die Förderung der ingenieurtechnischen Weiterbildung engagieren.
Weiterbildung und Beruf
Wie Du das schaffst Beruf und Weiterbildung unter einen Hut zu bekommen, ist eine Herausforderung, insbesondere bei langen Bauprojekten. Flexible Lernformate, eine gute Zeitplanung und die Unterstützung aus Deinem beruflichen und privaten Umfeld helfen Dir dabei. Weiterbildung ist ein lebenslanger Prozess, der für Dich als Bauingenieur von zentraler Bedeutung ist. Sie ermöglicht es, Deine Kompetenz zu erweitern, die Projektqualität zu verbessern und Deine beruflichen Ziele zu erreichen. Dies wird in Zukunft immer individueller und digitaler vonstattengehen: Künstliche Intelligenz und Datenanalyse werden den Lernprozess und die Planungsmethoden revolutionieren.
Deine Weiterbildung – so triffst Du die richtige Entscheidung
Neben der Finanzierung spielen noch weitere Aspekte eine wichtige Rolle bei der Wahl Deiner Weiterbildung. Sprich mit erfahrenen Kollegen, Mentoren oder ehemaligen Kommilitonen. Sie können Dir aus eigener Erfahrung wertvolle Tipps und Empfehlungen geben. Besuche Kongresse und Fachtagungen der Baubranche, wie die Münchner Bautage.
Hier erfährst Du nicht nur von aktuellen Entwicklungen, sondern kannst auch direkt mit Weiterbildungsanbietern ins Gespräch kommen. Wähle eine Weiterbildung, die zu Deinen persönlichen Interessen und Karriereplänen, etwa im Bereich des nachhaltigen Bauens oder der Infrastruktur, passt.
Achte darauf, dass Deine Ingenieurkammer die Weiterbildung anerkennt. Nur so stellst Du sicher, dass sie für Deinen beruflichen Werdegang und spätere Eintragungen zählt. Prüfe genau, ob die Inhalte zu Deinen Lernzielen passen, etwa ob sie den Umgang mit neuer Statiksoftware vermitteln. Informiere Dich über Dauer und Aufwand und plane so, dass Du sie gut in Deinen Alltag einfügen kannst. Kläre die Kosten im Voraus und prüfe alle Finanzierungsoptionen. Indem Du diese Aspekte berücksichtigst, triffst Du eine fundierte Entscheidung für Deine Weiterbildung und legst damit den Grundstein für eine erfolgreiche Zukunft im Bauingenieurwesen.
Wichtige Anlaufstellen für Bauingenieure
Offizielle Stellen und Fachverbände:
Bundesingenieurkammer und Länder-Ingenieurkammern: Hier findest Du umfassende Informationen zur Weiterbildung, zu den Eintragungen in Listen (z. B. Nachweisberechtigte) und zu den regionalen Weiterbildungsmöglichkeiten und spezifischen Anforderungen.
Hochschulen und Forschungsinstitute: Viele Universitäten und Fachhochschulen bieten postgraduale Masterstudiengänge und Zertifikatskurse an.
Online-Plattformen und Datenbanken:
Ingenieur-Netzwerke: Plattformen wie LinkedIn bieten Gruppen und Foren, in denen sich Bauingenieure über Weiterbildungsmöglichkeiten austauschen können.
Weiterbildungsdatenbanken: Es gibt spezialisierte Datenbanken, die Weiterbildungsangebote für den Bauingenieurbereich zusammenfassen.
Online-Lernplattformen: E-Learning- Angebote der Bauverbände oder Weiterbildungsinstitute bieten eine Vielzahl von Kursen zu bauspezifischen Themen wie BIM oder Projektmanagement. Weiterführende Links findest Du auf den Webseiten Deiner zuständigen Kammer oder Fachverbände.
Ronald Meyer ist Bauingenieur, Moderator, Autor und Erfinder des Sanierungssprints. Er stammt aus Südhessen, lebt in der Nähe von Leipzig und engagiert sich seit über 30 Jahren für klimafreundliches Bauen. Im Gespräch mit dem karriereführer spricht er über seinen unkonventionellen Berufsweg, den Sanierungssprint als Modell für die Energiewende – und darüber, warum ein warmes Mittagessen auf der Baustelle manchmal wichtiger ist als ein Förderprogramm. Die Fragen stellte Sonja Theile-Ochel.
Herr Meyer, stimmt es, dass Sie schon während des Studiums Ihr erstes Haus gebaut haben?
Ja, das war tatsächlich so. Als 1986 bei einer Demo 5.000 Studenten drei Stunden lang für mehr Wohnraum auf die Straße gingen, fragte ich mich, was man mit diesen 15.000 Stunden konkret schaffen kann – und wollte es ausprobieren. Zwei Freunde wollten mitmachen, sind aber abgesprungen. Also habe ich es allein durchgezogen. Das war nicht nur eine Baustelle, sondern ein Experiment: Wie lange dauert was, was kosten bestimmte Schritte wirklich? Mein Hausbau dauerte dann übrigens insgesamt 1.700 Stunden. Ich war 23.
Wie sind Sie auf das Thema energiesparendes Bauen gekommen?
Ich bin in Darmstadt aufgewachsen – dort wurden 1991 die ersten Passivhäuser gebaut. Die stehen keine 500 Meter von meinem Elternhaus entfernt. Das Prinzip war einleuchtend: Heizen mit der Sonne, gute Dämmung, logische Effizienz. Ich war überzeugt, dass im Jahr 2000 alle Häuser so gebaut würden. Leider kam es anders.
Was hat Sie davon überzeugt, auf diesem Weg weiterzugehen?
Mich hat immer angetrieben, wie viel Sinn das alles ergibt. Wir haben jahrzehntelang über die Energiewende diskutiert, dabei liegen die Konzepte längst auf dem Tisch. Im Bausektor könnten wir morgen anfangen – alles ist da. Nur: Die Umsetzung fehlt. Es ist, als würden wir einen Impfstoff für eine bekannte Krankheit liegen lassen.
Und Sie wollten das ändern – auch mit öffentlichen Mitteln?
Richtig. Ich bin ein Kommunikationstyp. Ich habe fürs Fernsehen gearbeitet, Bücher geschrieben, sogar Rockmusik gemacht. Aber mein Thema blieb immer: Sanieren, modernisieren, effizient bauen. Heute nenne ich das den Sanierungssprint. Statt jahrelanger Bauphasen in Einzelfällen braucht es standardisierte Abläufe, feste Teams, Routine.
Wie funktioniert dieser Sanierungssprint?
Stellen Sie sich vor: ein minutiöser Zeitplan, eingespielte Handwerker, immer wieder gleiche Haustypen. So wie ein Orchester, das jeden Ton kennt. Wir haben gezeigt, dass eine Komplettsanierung in 22 Tagen machbar ist. Es braucht keine Wunder – nur Struktur.
Was sagen Sie Menschen, die meinen: „So einfach kann es doch nicht sein“?
Doch. Die Technik ist da, die Dämmstandards sind klar, es braucht nicht einmal teure Innovationen. Was fehlt, ist Vertrauen – und oft auch der Wille zur Veränderung. Manche sehen im Umbau einen Kontrollverlust. Deshalb brauchen wir bessere Kommunikation. Und manchmal hilft auch ein warmes Mittagessen für die Handwerker – das bringt Teams zusammen.
Gab es Momente, in denen Sie aufgeben wollten?
Natürlich. Viele hielten mich für verrückt. Auch meine Familie musste viel mitmachen. Aber wenn mich alle für verrückt halten, ist das meist ein gutes Zeichen. Heute zeigt sich: Vieles, was wir angefangen haben, trägt nun Früchte.
Sie sind Geschäftsführer einer Firma, arbeiten mit jungen IT-Spezialisten. Wie erleben Sie diesen Generationenmix?
Das ist spannend – und wichtig. Bau und IT sprechen unterschiedliche Sprachen. Die einen denken in Beton, die anderen in Codes. Wenn man beide Welten zusammenbringt, entstehen echte Lösungen. Deshalb lasse ich den jungen Leuten viel Freiraum. Ich bringe mein Bauwissen ein – sie das digitale Denken.
Was würden Sie jungen Bauingenieurinnen und Bauingenieuren mitgeben?
Bleibt neugierig, geht eigene Wege. Sucht euch gute Teams, lebt eure Ideen. Nachhaltigkeit ist keine Mode – es ist die Voraussetzung für künftiges Bauen. Und bitte: Macht es nicht komplizierter als es ist. Keep it simple.
In Praxen und Kliniken halten Systeme mit Künstlicher Intelligenz Einzug. Sie unterstützen Ärzt:innen auf vielfältige Weise. Ihre Stärken zeigen sie beim Finden von dem, was ist. Ethische Fragen ergeben sich, wenn die KI bei Prognosen mitentscheidet. Ein Essay von André Boße
Künstliche Intelligenz in der Arztpraxis, in der Klinik oder im Krankenhaus? Ist längst noch nicht Standard. Aber auch kein exotischer Sonderfall mehr. So lässt sich das Ergebnis einer aktuellen Befragung zusammenfassen, vorgenommen von der Bitkom. Der Verband der deutschen Digitalbrache wollte im Rahmen der Untersuchung wissen, wie die Ärzt:innen in Deutschland beim Thema KI aufgestellt sind. Ende Mai 2025 hat die Bitkom die Ergebnisse der Studie veröffentlicht. Die zwei zentralen Erkenntnisse: In fast jeder siebten bundesdeutschen Praxis kommen Systeme mit Künstlicher Intelligenz zum Einsatz, die Quote liegt bei 15 Prozent. Genutzt wird die KI dort einerseits in der Verwaltung und Organisation der Praxis, häufiger jedoch, um die Ärzt:innen bei der Diagnose zu unterstützen.
In den Kliniken liegt der Anteil laut Studie noch höher: „Bei 18 Prozent der Ärztinnen und Ärzte in Kliniken ist KI im Einsatz, beispielsweise zur Auswertung bildgebender Verfahren“, heißt es in der Studienzusammenfassung. Dass es beim Thema KI voran geht, zeigt der Vergleich mit der Untersuchung aus dem Jahr 2022: „Vor drei Jahren waren es noch neun Prozent.“ Durchgeführt wurde die Studie als Umfrage unter 600 Mediziner:innen in Deutschland vom Digitalverband Bitkom gemeinsam mit dem Ärzteverband Hartmannbund.
KI ist „riesige Chance für Medizin“
Einer der obersten Vertreter der deutschen Ärzteschaft ist ein großer Verfechter für die Integration von KI in der ärztlichen Arbeit. Klaus Reinhardt, Bundesvorsitzender des Hartmannbunds, wird in der Zusammenfassung der Studie so zitiert: „Künstliche Intelligenz bietet enorme Chancen, die Versorgungsqualität zu verbessern und den Arbeitsalltag in Praxis und Klinik zu entlasten.“ Was Reinhardt besonders freue, ist der generelle Zuspruch der Ärzteschaft zu KI-Systemen: Laut der Umfrage bewerten 78 Prozent aller befragten Ärzt:innen die KI als „riesige Chance für die Medizin“. Mehr als zwei Drittel fordern, der Einsatz von KI-Systemen in der Medizin sollte in Deutschland „besonders gefördert“ werden. Besonders interessant: 60 Prozent sind laut Studie der Ansicht, ein KI-System werde „in bestimmten Fällen bessere Diagnosen stellen“ als ein Mensch. „Die Ärzteschaft ist bereit für diese Transformation – sofern sie ethisch reflektiert, ärztlich verantwortet und technisch zuverlässig gestaltet ist“, wird Klaus Reinhardt zitiert.
ePA: Skepsis und Vorfreude
Foto: AdobeStock/Mariia
Im Rahmen der Bitkom-Befragung nahmen die befragten Ärzt:innen auch Stellung zur elektronischen Patientenakte, bei der ab 2025 das Opt-out-Modell gilt, was heißt: Jede gesetzlich versicherte Person erhält nun automatisch eine ePA – es sei denn, sie widerspricht. Seit Ende April 2025 läuft die bundesweite Einführung. Mit Blick auf die technische Umsetzung sind viele Ärzt:innen weiter unsicher, ein Beleg für deutsche Skepsis bei digitalen Neuerungen: „86 Prozent glauben nicht, dass die Arbeit mit der ePA technisch reibungslos funktioniert“, heißt es in der Studie. „66 Prozent fürchten Datenmissbrauch und 62 Prozent einen hohen technischen Aufwand. 61 Prozent würden eine Überforderung der Ärzteschaft und des Praxispersonals fürchten. „Es geben aber auch 41 Prozent an, sich auf die Arbeit mit der ePA zu freuen“, heißt es in der Studie.
Die Studie zeigt, dass vor allem in den Kliniken modernste digitale Technologien und Lösungen auch abseits von KI-Systemen einen hohen Stellenwert besitzen. In mehr als einem Viertel der Häuser unterstützen Roboter die Ärzteschaft bei Operationen und Eingriffen. Systeme mit Virtual Reality sind bei elf Prozent der Kliniken Teil des Arbeitsalltags; eingesetzt werden diese für Operationen oder auch zu Trainingszwecken. Viele der Kliniken, die VR-Methoden noch nicht nutzen, können sich das für die Zukunft vorstellen: 54 Prozent haben noch keine Erfahrungen damit gemacht, zeigen sich aber bereit dafür. Für Bitkom-Präsident Dr. Ralf Wintergerst ist dieser positive Blick auf Innovationen notwendig, damit die Medizin mit den vielen Veränderungen mithalten kann, die auf Ärzt:innen zukommen: „Digitale Technologien sind der wohl stärkste Hebel, um dem demografischen Wandel und dem zunehmenden Fachkräftemangel im Gesundheitswesen wirksam zu begegnen“, wird er in der Zusammenfassung der Studie zitiert. Gleichzeitig ermögliche die KI eine gezieltere und frühzeitigere Prävention. Wintergerst: „Digitalisierung kann helfen, Krankheiten zu vermeiden, bevor sie entstehen – und das Gesundheitssystem nachhaltig entlasten.“
KI mit Kristallkugel
An dieser Stelle wird es interessant, weil die Künstliche Intelligenz eben nicht nur eingesetzt wird, um bereits diagnostizierbare Krankheiten zu entdecken. Sondern auch, um zu verhindern, dass Krankheiten überhaupt entstehen. Salopp gesagt: Dr. KI hat eine Kristallkugel dabei. Es ist daher höchste Zeit, sich brennenden Fragen zu stellen, die bei der Anwendung dieser KI-Systeme auf die Ärzt:innen zukommen werden. Wobei diesen Fragen in erster Linie nicht von technischen Aspekten geprägt werden. Sondern von Überlegungen zur Ethik, zur Haftung und zum Selbstverständnis einer Ärztin und eines Arztes.
Konkret geht es um so genannte Clinical Decision Support Systems, kurz: CDSS. Gemeint sind hier IT-gestützte Systeme, die Ärzt:innen dabei helfen, Entscheidungen zu treffen. Grundsätzlich ist dieser Ansatz in der Medizin nichts Neues. „Schon in der Vergangenheit konnten Ärztinnen und Ärzte auf unterschiedliche interdisziplinäre und interprofessionelle Befunde und Beobachtungen (Laborbefunde, Einschätzungen von Kolleginnen und Kollegen, Beobachtungen von Mitarbeitenden etc.) zurückgreifen, sodass die Integration neuer technischer Komponenten in den Behandlungsprozess zumindest strukturell keine prinzipielle Veränderung des ärztlichen Auftrags bedeutet“, heißt es in der Publikation mit dem Titel „Von ärztlicher Kunst mit Künstlicher Intelligenz“, veröffentlicht von der Bundesärztekammer im Mai 2025.
KI-Standards bei individuellen Patienten
CDSS bringen diese Unterstützung nun auf eine neue Ebene: Ging es zuvor um Daten, Fakten und Einschätzungen anderer Menschen, kommen nun KI-Systeme ins Spiel, die dafür konzipiert sind, auf Grundlage ihres Datenwissens vollautomatisierte Handlungs- und Entscheidungsempfehlungen abzugeben. Die Idee: CDSS können Ärzti:nnen unterstützen, „indem sie eine große Menge klinisch-diagnostischer Informationen, die individuumsbezogen und fallorientiert durch integrierte Software-Systeme ausgewählt werden, für den gemeinsamen Entscheidungsprozess zur Verfügung stellen“, wie es in der Publikation der Bundesärztekammer heißt. Diese Hilfe sei wichtig. Jedoch: „Gleichwohl sind die Rahmenbedingungen des Einsatzes dieser neuen Technologien dynamisch und ist der Einsatz mit ethischen, rechtlichen und sozialen Herausforderungen verknüpft.“
Hybride Diagnose-Kollektive
Foto: AdobeStock/Good Wife
Menschen machen Fehler. KI-Systeme auch. Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung hat nun in einer Studie herausgefunden, dass die Fehleranfälligkeit einer medizinischen Diagnose dann steigt, wenn sich Mensch und Maschine einem Problem als Kollektiv widmen. „Mensch und KI machen systematisch unterschiedliche Fehler“, heißt es in der Zusammenfassung der Studie. „Wenn die KI in manchen Fällen versagte, konnte eine menschliche Fachkraft den Fehler ausgleichen – und umgekehrt. Diese sogenannte Fehlerkomplementarität macht hybride Kollektive so leistungsstark.“ Es sei also gar nicht sinnvoll, den Menschen durch Maschinen zu ersetzen. „Vielmehr sollten wir Künstliche Intelligenz als ergänzendes Werkzeug begreifen, das in der kollektiven Entscheidungsfindung sein volles Potenzial entfaltet“, wird Stefan Herzog, Senior Research Scientist am Forschungsbereich Adaptive Rationalität des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in der Pressemeldung zur Studie zitiert.
Eingesetzt werden CDSS in einem ersten Schritt in der Diagnostik. Die Technik ist in der Lage, zum Beispiel bei radiologischen Bildern auffällige Bereiche zu identifizieren und zu markieren. Dies hilft, Brust- oder Hautkrebs oder Anomalien in der Augenheilkunde zu erkennen. In diesem Feld ist die KI im klassischen Sinn eine Unterstützerin, die im besten Fall auf etwas aufmerksam wird, das einem Menschen (noch) nicht aufgefallen wäre. Ihre Leistung bezieht sich darauf, etwas zu erkennen, was bereits existiert. Ethisch ergeben sich auf dieser Ebene nur wenig Fragen.
Intensiv ins Spiel kommt die Ethik, wenn CDSS dafür genutzt werden, Entscheidungen über Entwicklungen zu treffen, die eintreten könnten. Die also in der Zukunft liegen. Und die mit einer gewissen Ungewissheit einhergehen. Laut der Publikation der Bundesärztekammer sei es in ethischer Hinsicht umstritten, solche Systeme zu nutzen, um „Aussagen zur klinischen Prognose von Patientinnen und Patienten zu treffen.“ So sei es möglich, mit Hilfe der KI unter Einbeziehung individueller und bevölkerungsbasierter Daten Risiken für unerwünschte Zwischenfälle oder auch die Überlebensdauer schwer bis unheilbar kranker Patientinnen und Patienten zu prognostizieren. Dass diese mit KI erstellten Prognosen theoretisch helfen können, über die Aufnahme oder Reduktion einer Therapie mitzuentscheiden, liegt auf der Hand. Umstritten sei, so die Bundesärztekammer, aber erstens, welche Daten für die Prognosen genutzt werden – und welche nicht. Und zweitens, ob es „angesichts der zum Teil erheblichen Streuung individueller klinischer Verläufe“ überhaupt zulässig ist, individuelle Prognosen auf Basis allgemeiner Daten zu erstellen. Das gilt umso mehr, wenn „gesundheitsökonomische Parameter“ eine Rolle spielen können. Um es auf den Punkt zu bringen: Gibt die KI einem Patienten oder einer Patientin eine schlechte Prognose und wird diese gekoppelt mit wirtschaftlichen Aspekten wie Bettenbelegung oder Klinik- Budgetierung, könnte eine Dynamik entstehen, die dem Arbeitsethos der Ärzteschaft widerspricht. Nämlich immer das Wohl des einzelnen Patienten im Blick zu haben.
Alarm, eine Krankheit könnte kommen
Ethisch nicht weniger komplex ist ein Blick, der noch weiter in die Zukunft führt: KI-Systeme können auch Krankheiten prognostizieren, die noch gar nicht erkennbar sind. Sie erledigen diese Prädiktion von Krankheiten also bei (noch) gesunden Menschen. Nicht auf Basis von Symptomen, sondern von Risikomerkmalen. „Dabei steht die Beurteilung individueller Risikofaktoren wie Blutdruck, Body-Mass-Index, Lebensstil, Biomarker aus dem Genomics- oder Metabolomics-Bereich oder die Vorhersage individueller Reaktionsweisen auf Medikamente (Pharmakogenetik) im Mittelpunkt“, definiert die Publikation der Bundesärztekammer diesen umstrittenen Bereich. Das Problem sei, dass diese Prädiktion auf der Basis „oft schwer interpretierbarer statistischer Wahrscheinlichkeiten“ geschehe. Wobei diese wiederum nicht darauf beruhen, Kausalitäten zu ermitteln, sondern statistisch anzunehmen.
Dass das zu Fehlschlüssen führen kann, ist offensichtlich. Die Folgen können eklatant sein – zum Beispiel, wenn die CDSS mit einer falschen Prognose grundlos in das Leben und die Lebensweise eines gesunden Individuums eingreifen. Wenn sie damit Ängste schüren, die zu mentalen Problemen führen können. Wobei diese Prognosen aber auch zu einer Sorglosigkeit führen kann, wenn kein Risiko angenommen wird. An dieser Stelle rückt dann auch die Frage der Haftung in den Fokus: Wer trägt eigentlich die Verantwortung, wenn die KI zum Beispiel eine Herz-Kreislauf-Erkrankung als sehr unwahrscheinlich einstuft – diese aber eintritt? Oder umgekehrt, eine Herz-Kreislauf-Erkrankung prognostiziert wird, die einen bis dahin gesunden Menschen so sehr negativ beeinflusst, dass es zu psychologischen Problemen kommt? Hinzu kommen noch Themen wie Datenschutz oder Datensouveränität, die den Einsatz von KI im Bereich der Prognosen noch komplexer gestalten.
Wichtig ist, dass diese Fragen nicht dazu verleiten, den Einsatz von KI-Systemen in der Medizin überm..ig zu hinterfragen. Vielmehr gilt es, eine offene Debatte über die zahlreichen Chancen und Wege zu einer besseren Medizin anzustoßen. Aber eben auch über die ethischen Fragen, die sich immer dann ergeben, wenn eine technische Innovation großen Einfluss nimmt.
Ki und Algorithmen: Medizin trifft Mathe
Das Fachbuch „Künstliche Intelligenz in der Medizin: Anwendungen, Algorithmen und Programmierung“, erschienen im März 2025, gibt einen Überblick über die für die Medizin einflussreichen KI-Systeme und die Algorithmen, mit denen sie arbeiten. Nach einer Einführung in die Themen Deep- und Machine Learning zeigen Laura Velezmoro und Tim Wiegand, zu welchen Analysen welche KI-Algorithmen passen und welche mathematischen Formeln dahinterstecken. Ein Buch für Mediziner:innen mit einem Herz für Zukunftstechniken und Mathematik.
Doc Caro ist Ärztin aus Überzeugung und verfolgt eine Mission, nämlich den Menschen über die Sozialen Netzwerke und Medien ihren Beruf und ihr medizinisches Wissen zu vermitteln. Spannend und nahbar. So macht sie es auch im Interview, in dem es auch darum geht, ob Empathie erlernbar ist und welche Rolle Mentor*innen auf dem Berufsweg spielen. Die Fragen stellte André Boße
Zur Person
Dr. med. Carola Holzner wurde 1982 Mülheim an der Ruhr geboren, wo sie bis heute lebt. Nach dem Abitur 2001 folgte zunächst ein Chemiestudium. Noch vor dem Vordiplom schrieb sie sich spontan für Medizin ein und folgte damit ihrem Kindheitstraum, Ärztin zu werden. An der Uni Köln erlangte sie 2009 die Approbation und promovierte dort. Caro Holzner ist Fachärztin für Anästhesiologie mit der Zusatzweiterbildung in Intensivmedizin, Notfallmedizin und Innerklinischer Akut- und Notfallmedizin. Vor allem aber ist sie passionierte Notärztin. Seit 2019 ist sie in verschiedene Formaten im Fernsehen und den Sozialen Medien zu sehen, seit 2021 schreibt sie Sachbücher. Ihr Undercut und die Tattoos sind zu ihrem Markenzeichen geworden.
Doc Caro, Ihr aktuelles Buch trägt den Titel „Ab unter die Gürtellinie: Medizin untenrum endlich verständlich“. Warum ist die Sprache im medizinischen Bereich ansonsten häufig so unverständlich?
Das liegt wohl auch daran, dass man in seinem eigenen Bereich von sich auf andere schließt. Man glaubt, dass die Menschen draußen die gleiche Sprache sprechen, wie man es in Fachkreisen tut. Was dann zu einer Sprache führt, bei der ein Patient nicht versteht, worum es geht. Das ist aber fatal, denn informierte Patienten sind der Grundstein einer erfolgreichen Behandlung. Das gilt besonders für Themen, bei denen das Allgemeinwissen eher diffus ist.
Zum Beispiel bei Themen, die von der Medizin „Untenrum“ handeln.
Genau.
Was haben Sie bei der Recherche Ihres Buches über die Geschlechtsorgane gelernt?
Ich hatte mich zuvor im Medizinstudium sowie bei meiner Arbeit als Notärztin mit einigen Aspekten dieses Themas beschäftigt, aber nicht mit im Sinne einer aufklärerischen Medizin. Dass das Gehirn allerdings eine so große Rolle dabei spielt, war auch für mich ein Aha-Erlebnis.
Man spricht von Kopfkino.
Ja. Der alte Spruch, dass Menschen mit ihren Geschlechtsteilen denken, ist gar nicht so falsch. Es gibt natürlich eine sehr intensive Verbindung zwischen dem Gehirn und diesen Organen. Ich kann übrigens auch Paaren empfehlen, das Buch gemeinsam zu lesen, um gemeinsam zu lernen. Mein Mann und ich zum Beispiel hatten dabei viel Spaß. Man kann, aber muss sich beim Lesen auch nicht unbedingt in die Augen schauen. (lacht)
Bei Ihren Auftritten in Talkshows und bei Ihren Fernsehformaten sprechen Sie ebenfalls eine sehr direkte Sprache. Ist Ihnen diese angeboren?
Ich komme aus dem Ruhrgebiet, da tragen die Leute ihr Herz tatsächlich auf der Zunge. Davon bin ich geprägt worden, ich habe schon immer so gesprochen. Dazu gehört auch die Art, bestimmte Dinge schnörkellos auf den Punkt zu bringen. Das kann ich sehr gut, und das auch von Hause aus. Ich war schon als Kind ein extrovertierter Mensch, man könnte auch sagen: eine Rampensau. Ich habe dabei auch gerne den Finger in die Wunde gelegt, kritisch nachgefragt oder Dinge hinterfragt. Das war schon ab der Grundschule so. Was meine Lehrer teilweise damals nicht immer so gut fanden, denn Dinge zu hinterfragen, war damals nicht immer sonderlich erwünscht.
Man erhält manchmal auch als Patientin oder Patient den Eindruck, dass es in einer Arztpraxis nicht gut ankommt, wenn man zu viel oder hinterfragt.
Da möchte ich uns Ärzte in Schutz nehmen. Nehmen wir den Alltag in einer Notaufnahme, also dem Bereich, in dem ich mich am besten auskenne: Was wir da tagtäglich an einer Vielzahl von Patienten durchschleusen – da haben wir leider oft wenig Kapazitäten für intensiven Austausch. Wir würden das gerne öfter tun, aber es fehlt die Zeit, sich mit jedem Patienten lange auseinanderzusetzen. Gut wäre es, dass die Patienten alles bis ins Detail verstünden. Allerdings muss ich an der Stelle auch die Patienten ein bisschen rügen: Es ist nicht immer so, dass gerne gehört wird, was die Ärztin oder der Arzt sagt, wenn es nicht ins eigene Konzept passt.
Doc Caro, Foto: Boris BreuerWann zum Beispiel nicht?
Wenn ich dem Patienten sage, für ihren Herzinfarkt ist primär ihr Lebensstil verantwortlich, weil sie rauchen, Stress und Übergewicht haben und familiär vorbelastet sind. Dann bekomme ich schon mal die Antwort: „Nee, das liegt nicht am Rauchen, sondern am Nachbarn, der mich immer so aufregt.“ In diesem Moment fehlt der Wille zur Einsicht. Und auch da hilft ein klares Wort. Oder anders gesagt: Es wäre gut, wenn sich auf beiden Seiten ein größerer Enthusiasmus für die Aufklärung entwickeln würde. Mich zum Beispiel freut es, wenn ich einen Patienten vor mir habe, der mir gezielte Fragen stellt. Gerne auch kritische, was die Behandlung betrifft. Und der Patient muss sich auch nicht einfach abfertigen lassen. Er darf darauf bestehen, dass ihm die Dinge erklärt werden. Aber dann bitte auch verbunden mit der Erkenntnis, dass er selbst etwas für die eigene Gesundheit tun kann. Und eben keine Ausreden sucht. Schon gar nicht den Nachbarn.
Was Sie in Ihren Fernsehformaten zeigen: Wenn es darauf ankommt, verstehen Sie sich sehr gut aufs Zuhören.
Das entscheidende, was man als Ärztin oder Arzt mitbringen muss, ist Empathie. Und ich besitze die Fähigkeit, mich binnen Sekunden auf Patienten einzustellen. Ich weiß sehr schnell, auf welcher Wellenlänge ein Mensch ist. Und das ist wichtig, weil ich mich dadurch auf Augenhöhe mit dem Patienten befinde. Er fühlt sich verstanden und gesehen, und ich bekomme dann in kurzer Zeit die wichtigen Informationen heraus, die für die Behandlung notwendig sind. Diese erste Minute im Kontakt mit den Patienten, die ist ungemein wichtig. Hier wird die Basis für alles gelegt, was danach folgt.
Nun ist Empathie eine Fähigkeit, die nicht jeder in die Wiege gelegt bekommen hat. Kann man sie auch lernen?
Es ist sicher nicht ganz einfach, weil es dafür keine Lehrbücher und schon gar keine Formel gibt. Und es gibt sicher auch Menschen, die einfach wenig bis gar keine Empathie mitbringen. Was ich aber glaube: Wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht, und wenn man im Studium oder als Assistenzarzt oder Assistenzärztin viele empathische Menschen um sich herumhat, dann kann man sich bei denen einiges abgucken. Es ist wichtig, Ausbilder und Mentoren zu haben, von denen man sich was mitnimmt. Ich hatte damals im Studium und in den ersten Jahren als Assistenzärztin viele Frauen, bei denen ich dachte: „Boah, so will ich mal werden.“ Das waren echte Vorbilder. Und klar, bei denen schaut man sich ein paar gute Dinge ab. Nach dem Motto: „Wenn ich mal groß bin…“ (lacht).
Wir waren alle mal klein, standen alle zum ersten Mal vor einem Patienten und fühlten uns recht hilflos.
An dieser Stelle dann auch der Appell an die erfahrenen Kollegen: Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, was für einen Impact man mit Blick auf die jungen Ärztinnen und Ärzte hat. Man besitzt da also durchaus eine Verantwortung, und es ist immer hilfreich, wenn man sich die Zeit nimmt, dem Nachwuchs etwas zu erklären, wenn man merkt: Oh, da ist jemand neugierig. Wir Ärzte mit Erfahrung müssen bedenken: Wir waren alle mal klein, standen alle zum ersten Mal vor einem Patienten und fühlten uns recht hilflos.
Haben Sie sich damals bewusst Frauen als weibliche Vorbilder gesucht?
Nein, das war ein Zufall. Ich habe zahlentechnisch mehr Männer als Mentoren gehabt, aber es gab ein oder zwei Frauen, die mir besonders im Gedächtnis geblieben sind. Das waren sehr selbstbewusste Frauen, die sich in dieser – damals noch – Männerdomäne durchgesetzt haben. Die sich Respekt verschafft haben. Ich glaube, wohl auch mit Hilfe ihrer Ellenbogen und auf Kosten ihrer Gesundheit. Das ist, Gott sei Dank, heute anders. Die Medizin wird immer weiblicher, auch in den Kliniken. Wir Frauen müssen uns nicht mehr so sehr durchkämpfen. Wobei es sicherlich immer noch Situationen gibt, in denen wir als Frauen ein Stück weit benachteiligt sind. Gerade dann, wenn die Familienplanung ins Spiel kommt.
„Ab unter die Gürtellinie“
Mit ihren Bestsellern „Eine für Alle“ und „Keine halben Sachen“ machte Doc Caro, was sich viele Mediziner:innen vornehmen: Endlich einmal ein Buch über das schreiben, was sie als Ärztin im Alltag erlebt. Ihr aktuelles Buch widmet sich einem besonderen Bereich: allem, was „untenrum passiert“. Doc Caro hat gemerkt, dass viele Menschen aus Scham nicht ihren Arzt fragen, sondern Hilfe im Internet suchen. Am Ende stehen Halbwissen und falsche Aufklärung. Ohne Hemmungen, Scham und Scheuklappen schreibt Doc Caro über vermeintliche Tabuzonen – und bringt mit ihrer nahbaren und direkten Art Licht ins Dunkel.
Wie sollte man als junge Ärztin darauf reagieren?
Mit Leistung überzeugen. Und in den Momenten, wenn man Ungleichheit erfährt, nicht überm..ig trotzig reagieren. Sondern einfach weiter die Leistung zeigen.
Was, wenn ich als Nachwuchs merke: Da, wo ich gerade lernen soll, treffe ich auf wenig Empathie, fehlen mir Vorbilder?
Da heißt es für eine gewisse Zeit: durchhalten. Man durchläuft ja unterschiedliche Abteilungen, trifft verschiedene Oberärzte, mit denen man dann zu tun hat. Erkennt man, dass da gerade niemand ist, mit dem man die Wellenlänge teilt, kann ich nur raten: weitermachen. Denn der nächste kommt bestimmt, und jeder wird irgendwann das Glück haben, jemanden zu treffen, der einen abholt und motiviert. Dass das auch mal dauern kann, liegt in der Natur der Sache. Wie sagt man so schön: Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Das gilt auch für die Zeit in der Assistenz: Man darf nicht davon ausgehen, dass man die ganze Zeit den Kaffee auf dem Silbertablett serviert bekommt. Es kommt auch darauf an, zu lernen, sich durchzubeißen.
Erkennen Sie, dass die jüngeren Generationen beim Durchhalten weniger Geduld mitbringen?
Ich komme noch aus der Generation, die sagt: „Okay, doof gerade, aber das wird schon besser werden.“ Nicht wenigen aus den jüngeren Generationen muss man unabhängig von Konzepten wie der Work-Life-Balance schon deutlich machen: „Wenn du in die Klinik gehst, dann musst du wissen, dass du dort erst einmal sehr viel Zeit verbringen wirst – und dass diese Zeit nicht immer angenehm, sondern auch sehr anstrengend sein wird.“ Das ist einfach so. Zu unserem Beruf gehört es nun mal, lange Dienste zu schieben, sich Nächte um die Ohren zu schlagen, Sachen zu sehen, die nicht sehr schön sind, mit Härtefällen konfrontiert zu werden. Aber genau so lernt man und das gehört meiner Meinung nach zur Ausbildung dazu.
Wie gelingt es Ihnen, schwere Erlebnisse bei Ihrer Arbeit als Ärztin zu verarbeiten?
Erster Punkt, ganz wichtig: Wenn man wirklich schwere traumatische Bilder im Kopf hat, dann muss man darüber sprechen. Und dann sollte man auch nicht zögern, sich psychologische Hilfe zu suchen. Das ist kein Zeichen von Schwäche, das ist mir auch schon passiert. Es ist wichtig, für sich selbst zu erkennen, dass man als Arzt nicht dem falschen Medienbild von Ärzten entsprechen muss, als Menschen in weißen Kitteln, die immer souverän und mit einem Lächeln den Klinikstress bewältigen. Man wird als Ärztin oder Arzt schlimme Schicksale sehen und erleben. Menschen werden sterben, erhalten die Diagnose einer unheilbaren Krankheit. Es gibt Notfallsituationen, in denen die Hilfe zu spät kommt, egal, wie sehr man gekämpft hat. Das sind emotional belastende Situationen, keine Frage. Was dann hilft, neben der eben erwähnten Betreuung: demütig zu sein. Zu erkennen: Trotz allen handwerklichen Könnens stoßen wir an Grenzen. Und zu wissen: Auch die schrecklichen Dinge, die ich gesehen und erlebt habe, haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin.
„Diese Lektionen in Demut, die gibt’s bei unserem Beruf gratis dazu.“
Was heißt das konkret?
Ich weiß viele Dinge anders zu schätzen. Gesundheit zum Beispiel. Und vielleicht sage ich meinen Kindern und meinem Mann einmal mehr: Ich liebe euch. Das Schöne ist: Diese Lektionen in Demut, die gibt’s bei unserem Beruf gratis dazu.
Demut ist Teil des Lohns.
Genau, ja. Und diese Demut macht das Leben lebenswerter. (überlegt) Ich glaube, man muss in ein gewisses Alter kommen, um das wirklich zu wertschätzen. Ich habe vor zehn Jahren noch anders darüber gedacht, da hätte ich Ihrem Satz, dass die Demut ein Teil des Lohns ist, nicht zugstimmt. Jetzt finde ich, dass das eine sehr schöne Formulierung ist.
Sind Sie eigentlich selbst gut darin, sich ärztliche Hilfe zu suchen?
Boah, ne! (lacht) Wir Ärzte sind in dieser Hinsicht bestimmt die Allerschlimmsten. Ich habe schon mal eine Lungenentzündung verschleppt, bin viel zu spät ins Krankenhaus. Weil wir immer denken, wir könnten uns ja einfach selbst behandeln. In einem Bereich hat aber ein Umdenken eingesetzt, nämlich was psychologische Hilfe betrifft. Gott sei Dank. Das betrifft übrigens alle Bereiche, nicht nur die Ärzteschaft. Die jüngeren Generationen suchen sich bei mentalen Problemen ganz selbstverständlich und ohne Scheu Hilfe, und das ist eine sehr positive Entwicklung. Meiner Generation fehlte das stellenweise leider noch. Es war auch kein Thema in der ärztlichen Ausbildung, und auch das hat sich geändert.
Eine letzte Frage: Ein stressiger Arbeitstag ist rum. Wohin führt Sie Ihr Weg?
Nicht nach Haus, sondern zu meinen Pferden. Dort kann ich: einfach sein. Im doppelten Wortsinn. Wenn ich auf dem Pferd sitze, dann geht kein Telefon, es gibt keine familiären Probleme, keiner will was vor mir. Herrlich. Wenn die Zeit auf dem Pferd dann vorbei ist, dann habe ich genug aufgetankt, um mich wieder allen Fragen zu widmen.
Tourdaten
Doc Caro live – das ist Lachen auf Rezept unter dem Motto „Lebe jetzt!“, mit Erlebnissen aus ihrem Medizinerinnen-Alltag – von Storys aus der Notaufnahme bis zu Erkenntnissen von der Medizin „unten herum“. Termine unter: doccaro.de/doc-caro-auf-tour/
Wie eine junge Ärztin auf Instagram über Ernährung, Reizdarm und das Medizinstudium aufklärt – und dabei Zehntausende inspiriert. Die Fragen stellte Sonja Theile-Ochel
Dr. Luisa Werner ist Assistenzärztin in der Inneren Medizin – und eine der erfolgreichsten deutschsprachigen Ärztinnen auf Instagram. Über 270.000 Menschen folgen ihr, weil sie dort fundierte Informationen zu Ernährung und Verdauung teilt, aber auch einen offenen Einblick in den Klinikalltag und ihre persönlichen Erfahrungen gibt. Im Interview spricht die 28-Jährige darüber, wie sie zur Medizin kam, warum sie Instagram nicht als Nebenjob, sondern als Herzensprojekt betreibt – und wie man sich inmitten von Klinikstress, Social Media und Buchprojekten nicht selbst verliert.
Frau Dr. Werner, was hat Sie dazu gebracht, Medizin zu studieren?
Dr. Luisa Werner: Ursprünglich wollte ich Chemie studieren – ich komme aus einer „Chemiker-Familie“. Aber dann habe ich in einem Schülerpraktikum bei einer Magen-Darm-Spiegelung zugesehen, was mich total fasziniert hat. Das war mein Einstieg in die Medizin. Ich hatte damals wirklich keine guten Noten, aber ab da habe ich angefangen, mich richtig reinzuhängen. Nach dem Abi habe ich erst eine Ausbildung zur Arzthelferin begonnen und bin dann über den Medizinertest ins Studium gekommen.
Wie ging es dann weiter?
Ich habe mein Studium in Ulm gemacht, war ein Semester über Erasmus in Prag und habe mein PJ in der Schweiz und Italien absolviert. Dann ging es in eine Hausarztpraxis, was eigentlich ungewöhnlich ist, weil viele direkt in die Klinik gehen. Für mich war es ein guter Einstieg: weniger Stress, mehr Zeit für die Patienten.
Sie haben zusätzlich noch Ernährungsmedizin studiert?
Genau. Das war eine Zusatzweiterbildung mit rund 220 Stunden und einer Prüfung. Ich hatte selbst viele Jahre Probleme mit Reizdarm – die Ausbildung hat mir geholfen, mein Wissen zu systematisieren. Gleichzeitig war es der Startschuss für meinen Instagram-Kanal. Sie sprechen es an: Über 189.000 Menschen folgen Ihnen mittlerweile.
Wie kam es dazu?
Ich wollte meine Erfahrungen teilen – sowohl als Patientin als auch als Ärztin. Anfangs war mein Account anonym, ich nannte mich „Lotte“, mein Familienspitzenname. Ich hätte mir früher einen Account gewünscht, der medizinisch korrekt über Reizdarm und Ernährung aufklärt. Genau das möchte ich jetzt bieten.
Sie haben ein Journal veröffentlicht – „Notes & Nourish“. Was steckt dahinter?
Das Journal ist mein persönlicher Anker. Ich habe gemerkt, wie wichtig Achtsamkeit im stressigen Alltag ist. Auch während der Nachtschicht – oder danach um 15 Uhr – war meine kleine Morgenroutine für mich immer eine Konstante. Das Journal hilft, kurz innezuhalten, in sich hineinzuhören und den Tag bewusster zu gestalten.
Was raten Sie Medizinstudierenden, die gerade am Ende ihres Studiums stehen?
Unbedingt viel ausprobieren! Ich selbst hätte nie gedacht, dass Hausarztmedizin oder Dermatologie mal meine Lieblingsfächer werden – ich konnte beide früher nicht leiden. Durch das praktische Jahr, durch Hospitationen und Gespräche erkennt man oft erst, was wirklich zu einem passt. Also: offenbleiben, sich trauen, auch mal ungewöhnliche Wege zu gehen.
Das Aktionsbündnis Arbeitsmedizin lädt Medizinstudierende am 19. März 2026 zum kostenlosen Nachwuchssymposium nach München ein – im Rahmen der DGAUM-Jahrestagung. Die Veranstaltung bietet Einblicke ins Fach, Austausch mit Expert*innen und Best-Practice-Beispiele. Ein Muss für alle mit Interesse an Arbeitsmedizin.
BEAUTY-BOOM MIT NEBENWIRKUNGEN: WIMPERN-EXTENSIONS UND LIDSTRICH-TATTOOS
Wimpernverlängerungen und Permanent-Make-up erleben einen Boom, doch die Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft (DOG) warnt vor unterschätzten Risiken. Allergische Kontaktekzeme, Hornhauterosionen und Wimpernverlust gehören zu den häufigsten Komplikationen. Besonders heikel: Bei Augenoperationen können Extensions Feuer fangen und müssen vorab entfernt werden.
HIV-VERSORGUNG IN DEUTSCHLAND: ZU WENIGE PRAXEN FÜR IMMER MEHR PATIENTEN
Ein neues Gutachten der Deutschen AIDS-Stiftung warnt vor dramatischen Versorgungsengpässen. Bis 2035 könnten 26 Prozent der benötigten HIV-Spezialist:innen fehlen, während die Patientenzahl von derzeit 68.500 auf 96.500 ansteigt. Besonders ländliche Regionen sind betroffen, da sich Praxen in Ballungszentren konzentrieren. Die alternde HIV-Population verstärkt das Problem zusätzlich.
von Sonja Theile-Ochel