karriereführer recht 2.2020 – Juristen in der Virtualität

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Cover karriereführer recht 2.2020

karriereführer recht 2.2020 – Juristen in der Virtualität. Wie Homeoffice und Remote Working funktionieren

als wir im März mit der ersten Ausgabe 2020 des karriereführer recht Redaktionsschluss hatten, war Corona zwar schon Thema, ein Shutdown aber noch nicht beschlossen. Doch kurz danach änderte sich Vieles für die Menschen. Und auch für Unternehmen – ebenso für Kanzleien. Durch Kontaktverbote und Verordnungen der Länder zur Eindämmung des Virus‘ wurden sozusagen über Nacht alternative Arbeitskonzepte nötig.

Wurden Homeoffice und Remote Working in der Vor-Corona-Zeit noch kontrovers diskutiert, ging plötzlich kein Weg mehr an den Konzepten vorbei. Und siehe: Die Arbeitsformen funktionieren. Und sie werden auch nach Corona beibehalten werden. Wenn auch in etwas geminderter Ausprägung, denn den Jurist*innen geht es wahrscheinlich wie fast allen: Der persönliche Kontakt fehlt.

Ein Schritt in die Zukunft

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Die Corona-Pandemie zwang Kanzleien zum Umdenken, heute zeigt sich: Homeoffice und Remote Working funktionierten besser als gedacht. Viele der Impulse will man weiternutzen, gesucht wird eine Balance aus Büro- und Heim-Tätigkeit. Klar ist aber auch: Die neue Dynamik der Digitalisierung soll genutzt werden, um weitere Bereiche effizienter zu gestalten.

Remote Working und Homeoffice – für Wirtschaftskanzleien waren das noch vor wenigen Monaten Begriffe, die im Arbeitsalltag keine große Rolle spielten. Der Job fand in den bestens ausgestatteten Büros der Kanzleien statt, es wurde viel gereist: Vielfliegerei statt Arbeit von zu Hause aus. Dann kam Corona – und änderte alles. Wie sehr, zeigt der Facebook-Auftritt der Wirtschaftskanzlei Linklaters. Ein Posting von Ende März verlinkt auf einen Clip auf der Online-Präsenz der Kanzlei. Gezeigt werden darin Senior Partner Andreas Steck und Associate Dr. Julian Emmerich, beide in heimischer Umgebung, ohne Krawatte. Steck sitzt am Klavier, Emmerich steht vor dem Mikro, gemeinsam geben sie „Your Song“ von Elton John.

Das Homeoffice führt einem sehr schnell vor Augen, welche Dinge tatsächlich im Alltag gut tun und wichtig sind – für diese sucht man sich nun Wege, um im neuen Alltag nicht darauf verzichten zu müssen.

„Jams from Home“ ist der Name dieser Clip-Reihe, es folgt Dylans „Knockin On Heavens Door“, gespielt von Partner Klaus Hoenig an der Gitarre und Bilingual Secretary Maite Völtz am Gesang; Associate Viktor Graeme und Marketing Communication Assistant Lisa Danne geben „Hey There Delilah“, eine Ballade der US-Gruppe Plain White T’s. „Remote Working hat ihre Herausforderungen, aber auch seine ungeahnt positiven Seiten“, heißt es in einer Mitteilung der Kanzlei zu den „Jams from Home“. „Wir lernen uns alle noch besser kennen, und der Kreativität sind erstaunlicherweise selbst in dieser Form der Zusammenarbeit kaum Grenzen gesetzt.“

Adriana von Hardenberg, Managing Associate im Bereich Gesellschaftsrecht, erläutert: „Das Homeoffice führt einem sehr schnell vor Augen, welche Dinge tatsächlich im Alltag gut tun und wichtig sind – für diese sucht man sich nun Wege, um im neuen Alltag nicht darauf verzichten zu müssen: Statt Mittagessen und Kaffeepausen mit Kollegen, Telefonate und Chats mit Cappuccino in der Sonne; statt Abendessen mit Freunden, Videokonferenzen und Videoanrufe der Familie.“ Carla Müller, bei Linklaters wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Dispute Resolution, fasste ihre Zeit im Homeoffice mit drei Worten zusammen: „Flexibilität. Effizienz. Ausschlafen.“ Vier Monate lang unterstützte sie ihr Team im Remote-Working-Modus und war positiv überrascht, welche Vorteile diese Arbeitsphase mit sich gebracht hat: „Der größte Vorteil ist aus meiner Sicht die gewonnene Zeit und Flexibilität.“

Homeoffice mit Jams und Flexibilität: Was wird bleiben?

Keine Frage, die Belegschaft von Linklaters hat den (teilweise bis heute anhaltenden) ungewohnten Arbeitsbedingungen etwas Positives abgewinnen können. Vielen Kanzleien geht es ähnlich. Nun stellt sich die Frage: Was bleibt von diesen positiven Erfahrungen übrig, nachdem sich der Job-Alltag in kleinen Schritten wieder normalisiert und diese Normalität eines Tages mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder hergestellt sein wird? Wird Corona ein Wandlungs-Motor sein, der die juristische Arbeit dauerhaft geändert hat? Oder wird die Pandemie nur eine Episode sein, die gezeigt hat, wie es anders gehen könnte – bevor die meisten Kanzleien dann doch wieder auf die üblichen Pfade eingebogen sind?

Virtuelle Gerichtsverhandlungen

Die internationale Kanzlei DLA Piper hat in einer Studie gefragt, wie hoch bei Anwälten die Akzeptanz für virtuelle Gerichtsverhandlungen ist. Alle Umfrageteilnehmer sahen die Autorität des jeweiligen Gerichts auch virtuell gewährleistet. 86 Prozent der Befragten befanden die Software-Lösungen wie Zoom, Bluejeans oder die Netzwerk-Plattform Microsoft Teams für zufriedenstellend. 71 Prozent der Umfrageteilnehmer gaben an, dass die Verfahrensgerechtigkeit gewahrt würde. Kritisch betrachtet wird die Beschränkung der Teilnehmerzahl aufgrund von niedrigen Internet-Bandbreiten in manchen Jurisdiktionen. „Wir haben jüngst – abgesehen von einigen technischen Problemen – gute Erfahrungen mit einer der ersten Online-Verhandlungen beim Landgericht München gemacht”, sagt Prof. Dr. Stefan Engels Partner im Hamburger Büro von DLA Piper. „Wir gehen davon aus, dass virtuelle Verhandlungen auch nach der Covid-19-Pandemie häufiger anberaumt werden. Allerdings: Es bedarf einer speziellen Vorbereitung auf die besondere Situation.“

Joachim Gores ist Partner in der Wirtschaftskanzlei Kümmerlein Rechtsanwälte & Notare in Essen, betreut dort im Schwerpunkt Unternehmenstransaktionen und berät im Gesellschaftsrecht. Auf die Frage, was nach Corona von den Prozessen bleiben wird, die während der Pandemie erprobt worden sind, sagt er: „Telefon- und Videokonferenzen werden auch für Verhandlungen viel häufiger eingesetzt werden. Gerade bei vorbereitenden Terminen, internen Abstimmungen und in Arbeitsgruppen wird man auf moderne Kommunikationsformen stärker zurückgreifen.“ Auch die Möglichkeit, Vertragsdokumente zu teilen und online zu bearbeiten, werde langfristig an Bedeutung gewinnen – mit dem Ziel, eine Balance aus digitalen Innovationen und erprobten Arbeitsweisen herzustellen. „Nach meiner Einschätzung wird am Ende ein sinnvoller Mix aus moderner Technologie und konventioneller Verhandlung das Ergebnis sein“, glaubt Joachim Gores. „Denn eines steht für mich trotz aller positiven Erfahrungen mit einem vollständig online durchgeführten Großprojekt fest: Die direkte Kommunikation von Menschen Auge in Auge sowie die Empathie, die dabei eine große Rolle spielt, sind nicht zu ersetzen.“

München, Düsseldorf, Madrid – aber nur virtuell

Bei dem Großprojekt, das Joachim Gores anspricht, handelte es sich um eine Transaktion mit Unternehmen aus München, Düsseldorf und Madrid. „Ohne Covid-19 wären wesentliche Vorbesprechungen, interne Abstimmungsrunden, aber insbesondere auch die Verhandlungen zu einem großen Teil ‚konventionell‘ durchgeführt worden“, sagt der Partner bei Kümmerlein. „Es hätte größere Arbeitsgruppen gegeben, die einzelne Teile des Projekts zusammen am jeweiligen Standort voranbringen.“ Wegen Covid-19 sei das grundlegend anders gewesen. „Alle Termine, bis auf die Beurkundung des fertigen Vertragswerkes, haben online stattgefunden. Die meisten Projektbeteiligten befanden sich im Homeoffice. Nur vereinzelt wurde die Arbeit auch vom Arbeitsplatz im Büro erledigt.“

Der ganz große Nachteil, insbesondere in Verhandlungen, ist, dass die persönliche Nähe fehlt.

Trotz der tiefgreifenden Veränderungen, die diese Pandemie mit sich gebracht hat, habe man das Projekt in sehr kurzer Zeit zum Erfolg führen können: „Obwohl die Welt und die Wirtschaft von außen betrachtet im Stillstand verharrten, haben wir im Projekt mit Volldampf gearbeitet. Und da die meisten Beteiligten vom Homeoffice aus tätig waren, war eine extreme zeitliche Flexibilität festzustellen.“ Der positive Effekt: Viele Arbeitsstränge konnten parallelisiert werden, limitierende Faktoren wie Arbeitswege oder Büroöffnungszeiten fielen weg. „Im Prinzip lief die Transaktion rund um die Uhr“, sagt Gores.

Unternehmen wollen auch nach der Krise an Homeoffice festhalten

Die Corona-bedingten Anpassungen der Arbeitsorganisation haben vielen Unternehmen gezeigt, dass sich mehr Tätigkeiten für die Arbeit im Homeoffice eignen als bislang angenommen. „Aufgrund der neuen Erfahrungen und Erkenntnisse planen viele Unternehmen, Homeoffice auch nach der Krise intensiver zu nutzen als vor dem Beginn der Corona-Pandemie“, sagt Dr. Daniel Erdsiek, Wissenschaftler im ZEW-Forschungsbereich Digitale Ökonomie.

Lief bei dieser Remote-Transaktion vielleicht sogar alles besser als sonst? Joachim Gores relativiert: „Der ganz große Nachteil, insbesondere in Verhandlungen, ist, dass die persönliche Nähe fehlt.“ Die Möglichkeit, in Telefon- oder Videokonferenzen im Verlaufe langer Verhandlungen eine persönliche Vertrauensbeziehung aufzubauen, fehle fast völlig. „Das Gegenüber, das man überzeugen will und von dem man Entgegenkommen braucht, um zum Erfolg zu kommen, bleibt trotz moderner Kommunikationstechnologie anonym und unnahbar. Auch die Abstimmung auf kurzem Wege mit dem Mandanten oder mit Kollegen bleibt auf der Strecke.“

Remote-Work verlangt mehr Kommunikationsskills

Was Juristen in solchen Situationen bräuchten: „Noch mehr Kommunikationsgeschick als ohnehin schon“. In Verhandlungen und Konferenzen per Video benötige man die kommunikative Disziplin, um in langen Verhandlungen stringent durch die Themen zu führen. Auch die Organisation sei wichtig, sagt Joachim Gores: „Telefon- und Videokonferenzen verleiten dazu, den Teilnehmerkreis sehr großzügig zuzuschneiden. Input ‚von der Seite‘ ist jederzeit möglich. Gerade in dieser Konstellation muss man sehr darauf achten, dass die Kommunikation nicht zerfasert und Entscheidungswege nicht verlassen werden.“

Die Kanzlei SKW Schwarz Rechtsanwälte hat zu Beginn der Pandemie nur wenige Tage benötigt, um die auf fünf Standorte verteilte Belegschaft im Homeoffice zu installieren. „Die Herausforderung war dann, Haushalt und Ablenkung durch die Familie mit der notwendigen Verfügbarkeit und dem hohen Arbeitsanfall für die Kanzlei in Einklang zu bringen“, sagt Matthias Nordmann, als Partner Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht. Was zudem gefehlt habe, waren die sozialen Dimensionen der Arbeit im Office: „Viele Kolleginnen und Kollegen, gerade, wenn sie alleine wohnen, genießen unter normalen Umständen den Gang ins Büro und die soziale Interaktion dort.“

Vorbehalte gegen Homeoffice verschwunden

Wo also wird der Schwerpunkt der anwaltlichen Tätigkeit in Zukunft liegen, vornehmlich zu Hause oder wieder in der Kanzlei? „Eine Kombination aus beidem wird die ideale Lösung sein“, meint Matthias Nordmann. „Während es vor Corona teils noch deutliche Vorbehalte gegenüber dem Homeoffice gegeben hat, wollen wir die Homeoffice-Tätigkeit nun auf jeden Fall beibehalten. Die entsprechenden Spielregeln arbeiten wir gerade aus.“ Wobei es bei der Gestaltung wichtig sei, nicht die Bedürfnisse der Nachwuchskräfte zu vergessen, die neu im Kanzleiteam sind. „Für die Integration junger Kollegen ist es wichtig, dass neben der begrüßenswerten Flexibilisierung der Arbeit weiterhin Aspekte der Kanzleikultur und des gegenseitigen Umgangs nicht zu kurz kommen“ – „kurze, aber intensive“ Meetings im privaten Umfeld sollen dafür sorgen, dass die persönlichen Kontakte bei den Einsteigern nicht zu kurz kommen.

Wie geht Homeoffice?

Der Deutsche Anwaltverein (DAV) bietet auf seiner Homepage ein FAQ, um bislang im Homeoffice ungeübten Kanzleiteams bei der Umstellung auf Remote Work zu helfen. Darunter finden sich auch konkrete Organisationstipps für den Arbeitstag zu Hause und das Zusammenspiel mit den Kollegen: Dazu zählen ein gemeinsamer Morgen-Check-in per Videochat, Bestimmung eines Gatekeepers, der Mail-Eingänge nach Relevanz sortiert und verteilt, sowie eine exakte und transparente Pflege des Fristenkalenders. Generell sei Vertrauen wichtig, bei zeitkritischen oder haftungsträchtigen Informationen kann es aber sinnvoll sein, „auch kanzleiintern mit Empfangsbestätigungen zu arbeiten, damit man sichergeht, dass das Teammitglied im Homeoffice eine wichtige Information zur Kenntnis genommen hat“, heißt es bei den FAQs des DAV.

 

Mit Blick auf das Geschäft hat die Homeoffice-Situation bei SKW Schwarz dazu geführt, „dass auch die letzten Prozesse in der Kanzlei vollständig digitalisiert wurden“, wie Matthias Nordmann feststellt. „Nun ist die gesamte Anwalts- und Verwaltungstätigkeit digital möglich.“ So erlaube die elektronische Anwaltssignatur beA die digitale Unterzeichnung und Zustellung von Schriftsätzen und anderen Dokumenten – „dies bedeutet in Zukunft eine deutliche Erleichterung“. Für das Kanzleiteam selbst habe diese Digitalisierung keine große Umstellung bedeutet: „Unsere Anwälte waren es bereits gewohnt, von unterwegs zu arbeiten und technisch entsprechend ausgestattet.“ Bei vielen Mandanten der Kanzlei sei dies jedoch noch nicht der Fall gewesen. „Hier dauerte die Umstellung auf die rein virtuelle Zusammenarbeit häufig wesentlich länger.“

Virtuelle Verhandlungen und Beurkundungen

Matthias Nordmann stellt allerdings auch fest, dass der Weg der Digitalisierung noch keineswegs abgeschlossen ist. „Mit unserer Legal Tech-Tochtergesellschaft arbeiten wir derzeit an der AI-basierten Erstellung von Musterdokumenten.“ Der Ansatz: Die Künstliche Intelligenz liefert bei standardisierten Prozessen fertige Vertragsentwürfe. „Dies wird die anwaltliche Tätigkeit weitern erleichtern und dem Mandanten Kostenersparnisse bringen“, sagt Matthias Nordmann. Und weitere digitale Entwicklungen seien wünschenswert. So glaubt der Partner von SKW Schwarz, dass „mehr virtuelle Gerichtsverhandlungen – bei Zustimmung aller Beteiligten – erhebliche Erleichterungen und Kostenersparnisse mit sich bringen würden“.

Auch an der Digitalisierung der notariellen Beurkundung müsse weiter gearbeitet werden: „Warum“, fragt Matthias Nordmann, „kann eine Beurkundung nicht auch durch Einloggen in einen virtuellen Datenraum, sichere Identifizierung der Teilnehmer und schließlich der Verlesung in einer Videokonferenz stattfinden?“ Es wird also klar: Corona hat der Digitalisierung der juristischen Arbeit einigen Rückenwind gegeben – am Ziel angekommen ist der Veränderungsprozess aber noch lange nicht.

Buchtipp: Veränderungsprozesse rechtssicher begleiten

Verwaltungen und Unternehmen wenden zunehmend neue Strategien an, um die Digitalisierung umzusetzen. Dabei ist vermehrt agile Führung die Lösung. „Agile Arbeit – Chancen und Risiken für Arbeitnehmer“ erläutert verschiedene Methoden agiler Arbeitsweisen (von Scrum bis Design Thinking), gibt Praxisbeispiele und zeigt die Vor- und Nachteile dieser auf. Ebenso werden die Voraussetzungen für derartige Transformationsprozesse, wie die Unternehmenskultur und das erforderliche Mindset, beleuchtet. Marcus Schwarzbach: Agile Arbeit – Chancen und Risiken für Arbeitnehmer. Walhalla 2020, 19,95 Euro

 

 

 

Der Anwalt & Literat Georg M. Oswald im Interview

Georg M. Oswald arbeitet in einer Münchener Anwaltskanzlei zu den Schwerpunkten Familien- und Erbrecht. Wer gerne liest, kennt ihn dazu als Schriftsteller. Bekannt geworden ist er als Autor von Romanen über das Großwerden in Bayern oder die Problematik von Liebesbeziehungen. Im Buch „55 Gründe, Rechtsanwalt zu werden“ brachte er seine beiden Jobs zusammen. Im Interview erzählt Oswald, welche Gründe er im Zuge der Pandemie ergänzen würde und warum das Geschichtenerzählen eine juristische Kernkompetenz ist. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Georg M. Oswald, Jahrgang 1963, studierte Rechtswissenschaften an der Uni München. Eine erste Station als Anwalt trat er bei der Deutschen Bank an, seit 1994 ist er als Rechtsanwalt zugelassen. Ein Jahr später veröffentlichte er mit der Erzählungen-Sammlung „Das Loch“ sein literarisches Debüt, mit dem Roman „Alles, was zählt“ wurde er 2000 einem größeren Publikum bekannt. Von 2013 bis 2016 war er Leiter des Berlin Verlags, seit 2017 ist er wieder in München, wo er als Anwalt mit den Schwerpunkten Familien- und Erbrecht sowie allen Bereichen des Scheidungs-, Sorge- und Unterhaltsrechts tätig ist.

Herr Oswald, gibt es einen fiktiven Anwalt aus einer Fernsehserie oder einem Film, bei dem Sie gedacht haben: „Das ist endlich mal ein angenehmer Repräsentant meiner Berufsgruppe“?
Ich muss zugeben, in Filmen und Serien interessieren mich eher die unangenehmen Repräsentanten. Sie sind interessanter und, im Fall meines Lieblingscharakters, unterhaltsamer: Saul Goodman in „Breaking Bad“ und in „Better Call Saul“ ist da mein absoluter Favorit.

Warum sollten Juristen generell gute Geschichtenerzähler sein?
Juristen haben es immer mit Sachverhalten zu tun, die sie juristisch beurteilen müssen. Deshalb gehört es zu ihren wichtigsten Aufgaben, sie nachvollziehbar und überzeugend zu schildern. Guten Geschichtenerzählern hört man lieber zu als schlechten. Untechnisch gesprochen sind juristische Sachverhalte nichts anderes als Geschichten, die nach ganz bestimmten Regeln erzählt werden müssen. Je verständlicher, eleganter, überzeugender das geschieht, desto besser.

Die Digitalisierung ändert die Arbeit in vielen Kanzleien, die gegenwärtige Pandemie hat einigen Aspekten der Transformation neue Dynamik gegeben. Welche Chancen für den juristischen Beruf sehen Sie in der Digitalisierung?
Insbesondere in der Justiz wäre es wünschenswert, den Schriftverkehr mit den Gerichten zu digitalisieren. Er findet immer noch ausschließlich per Briefpost und Fax statt. Es wäre wirklich schön, wenn sich dies bald änderte.

Und welche Fehler sollten dabei unbedingt vermieden werden?
Die Transparenz für die Verfahrensbeteiligten darf nicht verloren gehen. Für Laien sind juristische Verfahren ohnehin oft schwer verständlich. Wenn sie dann noch das Gefühl hätten, mit ihren Anliegen in einem undurchdringlichen digitalen Wust zu landen, wäre das kontraproduktiv.

Heute denke ich, dass sich die Unabhängigkeit der Justiz auch in dieser Extremsituation behaupten konnte.

Wie beurteilen Sie die Rolle des Rechts und der Juristen im Zuge der Corona- Krise, das Heft in der Hand hatten ja eher die Politik, unterstützt von Expertinnen und Experten aus dem Bereich der Medizin oder auch der Wirtschaft – hat das Recht sich hier selbstbewusst genug positioniert?
Meinem Eindruck nach schon. Zunächst waren es allerdings vor allem politische und medizinisch-virologische Fragen, die geklärt werden mussten. Es ging um die Einschätzung, wie groß die Gefährdungslage tatsächlich ist und welche Maßnahmen dagegen die richtigen sind. Es kam in der Folge zu massiven Grundrechtseinschränkungen. Ich war anfangs schon irritiert, denn für meinen Geschmack wurden diese Einschränkungen zu unkritisch hingenommen. Nach und nach wurde die verfassungsrechtliche Einordung des Geschehens dann ja auch juristisch diskutiert, und inzwischen kommt auch die Justiz mehr und mehr zum Zuge. Mittlerweile gibt es schon eine ganze Reihe auch höchstrichterlicher Rechtsprechung, welche die Corona-Maßnahmen einer differenzierten Überprüfung unterzieht. Heute denke ich, dass sich die Unabhängigkeit der Justiz auch in dieser Extremsituation behaupten konnte.

Wir sehen in vielen Ländern und nicht zuletzt in Deutschland eine gesellschaftliche Spaltung mit verschiedenen, sich unversöhnlich gegenüberstehenden Lagern. Was kann das Recht dazu beitragen, diese Spaltung zu überwinden – und stattdessen den Dialog zu fördern?
Das Recht kann den Raum definieren und schützen, in dem der gesellschaftliche Diskurs stattfinden darf und soll. Das Bundesverfassungsgericht spricht in diesem Zusammenhang von einem „Meinungskampf“. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass sich unter konkurrierenden Meinungen am Ende die beste, überzeugendste durchsetzen werde. Deshalb ist das Phänomen, das Sie ansprechen, so Besorgnis erregend. Denn wenn keiner mehr dem anderen zuhört, wenn also Argumente nicht mehr ausgetauscht werden können, dann entfällt eine notwendige Grundbedingung der demokratischen Meinungs- und Willensbildung.

Als das Grundgesetz 1949 in Kraft trat, stand in Artikel 3 bereits „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Trotzdem durften damals in der Bundesrepublik Frauen ohne Zustimmung des Ehemannes noch nicht einmal ein Bankkonto eröffnen.

Angetrieben von Bewegungen wie #metoo oder #Blacklivesmatter werden verschiedene Bereiche der Gesellschaft nach Strukturen untersucht, die Sexismus, Rassismus, Diskriminierung fördern. Sollte sich das deutsche Rechtssystem auch einem solchen „Test“ unterziehen?
Ja, sicher. Mindestens ebenso wichtig wie die Überprüfung von Strukturen ist aber, dass die Bürger von ihren Rechten Gebrauch machen. Als das Grundgesetz 1949 in Kraft trat, stand in Artikel 3 bereits „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Trotzdem durften damals in der Bundesrepublik Frauen ohne Zustimmung des Ehemannes noch nicht einmal ein Bankkonto eröffnen. Das heißt, auch Rechte, die man auf dem Papier schon hat, müssen in der Praxis oft erst erkämpft werden. Deshalb ist es wichtig, vorhandene Strukturen immer wieder einer Revision zu unterziehen und zu prüfen, ob sie dem aktuellen Diskussionsstand angemessen sind.

Sie haben in einem Buch 55 Gründe aufgezählt, Rechtsanwalt zu werden. Angenommen, der Verlag würde eine Neuauflage planen: Um welche Gründe würden Sie das Buch ergänzen?
Ein neuer Grund wäre es sicherlich, dass einem das juristische Handwerkszeug dabei helfen kann, die aktuellen Geschehnisse rund um die Pandemie richtig einzuordnen. Die Corona-Krise hat für große Verunsicherung in der Bevölkerung gesorgt, und es gibt nicht wenige, die plötzlich an allen Ecken dunkle Mächte am Werk sehen. Ich hingegen finde es erstaunlich positiv, wie schnell es der Justiz gelungen ist, mit den neuen Gegebenheiten umzugehen und ihre Rolle darin zu finden. Als Rechtsanwalt besitzt man die Möglichkeit, das mitzugestalten.

Abschließend, wer in einem Roman alles über den Kern der Arbeit eines Juristen erfahren möchte, der sollte welches Buch lesen?
Fjodor Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“, Franz Kafkas „Der Process“, Charles Dickens‘ „Bleak House“: Wer diese drei Romane liest, bekommt eine gute Vorstellung davon, worum es im Recht geht, um was und wie vor Gerichten gestritten wird, wie der Justizapparat arbeitet und wie sich die Menschen, die mit ihm in Berührung kommen, dabei fühlen.

Das sind alles bereits ältere Bücher… J
a, aber es macht gar nichts, dass diese Romane zwischen 100 und 150 Jahre alt sind: Die wesentlichen Fragestellungen, die sie behandeln, sind weitgehend unverändert geblieben.

Zur den Büchern

Oswalds aktueller Roman „Vorleben“, erschienen 2020, erzählt von der noch recht frischen Beziehung einer Journalistin mit einem Musiker, die auf die Probe gestellt wird, als die Protagonistin bei ihrer Recherche auf beunruhigende Informationen aus der Vergangenheit ihres Partners stößt. Wie sehr kann das „Vorleben“ die Gegenwart belasten? Zum Thema Recht hat Oswald neben „55 Gründe, Rechtsanwalt zu werden“ 2018 das Buch „Unsere Grundrechte. Welche wir haben, was sie bedeuten und wie wir sie schützen“ veröffentlicht.

Urteile, Gesetze und Entwürfe

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Urteile werden täglich gefällt, die Gesetze ständig weiterentwickelt. Der karriereführer stellt hier einige Urteile, neue Gesetze und Entwürfe vor. Von Christoph Berger

„Containern“ ist Diebstahl

Foto: AdobeStock/Erik Schumann
Foto: AdobeStock/Erik Schumann

Mit seinem Anfang August 2020 veröffentlichtem Beschluss hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts zwei Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen eine strafgerichtliche Verurteilung wegen Diebstahls von Lebensmitteln aus einem verschlossenen Abfallcontainer eines Supermarktes richteten („Containern“). Zur Begründung führte die Kammer im Wesentlichen aus, dass die Auslegung der Fachgerichte weder gegen das Willkürverbot verstößt noch die Beweiswürdigung verfassungsrechtlich zu beanstanden ist. Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und insbesondere das Ultima-Ratio-Prinzip gebieten keine Einschränkung der Strafbarkeit. Der Gesetzgeber darf das zivilrechtliche Eigentum grundsätzlich auch an wirtschaftlich wertlosen Sachen strafrechtlich schützen. (2 BvR 1985/19, 2 BvR 1986/19)

www.bundesverfassungsgericht.de

Legal Tech: Vertragsgenerator zulässig

Foto: AdobeStock/Digital Bazaar
Foto: AdobeStock/Digital Bazaar

Ein elektronischer Generator von Rechtsdokumenten verstößt nicht gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz. Das hat der 6. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Köln mit Urteil vom 19.06.2020 entschieden und ein anderslautendes Urteil des Landgerichts Köln abgeändert. In der Begründung heißt es unter anderem, dass die Vertragsgestaltung im Einzelfall eine Königsdisziplin der anwaltlichen Beratung sein kann, ein Dokumentengenerator erweitere aber lediglich das bestehende Hilfsangebot von Vorstücken oder Formularhandbüchern zur Erledigung der eigenen Rechtsangelegenheiten in eigener Verantwortung um eine naheliegende digitale Möglichkeit. Ein Schutz vor unqualifizierter Rechtsberatung müsse nur dort gewährleistet werden, wo eine rechtliche Beratung tatsächlich oder vorgeblich stattfinde.

www.olg-koeln.nrw.de

Gesetzentwurf zur Einführung von elekronischen Wertpapieren

Foto: AdobeStock/ Puckung
Foto: AdobeStock/ Puckung

Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz und das Bundesministerium der Finanzen haben im August 2020 einen Gesetzentwurf zur Einführung von elektronischen Wertpapieren vorgelegt. Dieser soll der Modernisierung des deutschen Wertpapierrechts und des dazugehörigen Aufsichtsrechts dienen. Mit der Etablierung digitaler Wertpapiere werde einer der zentralen Bausteine der Blockchainstrategie der Bundesregierung sowie des gemeinsamen Eckpunktepapiers des BMF und des BMJV zu elektronischen Wertpapieren umgesetzt, heißt es in der Begründung. Nach aktueller Rechtslage sind Finanzinstrumente, die zivilrechtlich als Wertpapiere gelten, in einer Papierurkunde zu verbriefen.

www.bundesfinanzministerium.de

Studierende müssen trotz Corona-Pandemie an Präsenzprüfungen teilnehmen

Der 2. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts hat mit Beschluss vom 2. September 2020 entschieden, dass ein Studierender eine Klausur nicht in Form der begehrten Online-Klausur am Heimarbeitsplatz, sondern nur als Präsenzprüfung ablegen darf (Az.: 2 ME 349/20). Der Antragsteller betreibt an der Leuphana Universität Lüneburg ein Masterstudium, in dessen Rahmen eine Klausur stattfindet. Die Universität hatte seinen Antrag abgelehnt, diese Klausur angesichts der Corona-Pandemie nicht wie geplant als Präsenzklausur, sondern als Online-Prüfung von zu Hause aus durchzuführen. Sie hatte zur Begründung ausgeführt, dass es ihr nach der Niedersächsischen Corona-Verordnung unter bestimmten Voraussetzungen (wieder) erlaubt sei, Präsenzprüfungen abzuhalten. Sie habe ihre internen Regelungen entsprechend angepasst und ein Hygienekonzept entwickelt. In dem konkreten Fall hätten die Prüfer entschieden, dass von der nach wie vor bestehenden Möglichkeit der Online-Prüfung kein Gebrauch gemacht werden solle. Das Verwaltungsgericht Lüneburg hatte dies für rechtens gehalten und einen Eilantrag des Antragstellers abgelehnt (Az.: 6 B 102/20). Dieser Entscheidung ist der 2. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts gefolgt und hat die Beschwerde des Antragstellers zurückgewiesen. Die Beurteilung, in welcher Form die Klausur im Grundsatz zu erbringen sei, obliege den Prüfern. Ihnen komme bei der Erstellung der Aufgabe und der Auswahl der Prüfungsthemen im Rahmen der rechtlichen Vorgaben ein weiter Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum zu, der hier nicht überschritten sei. Weitere Infos unter:

https://oberverwaltungsgericht.niedersachsen.de

Gegen Hass und Hetze im Internet

Foto: AdobeStock/ Backwoodsdesign
Foto: AdobeStock/ Backwoodsdesign

Der Bundesrat hat am 3. Juli 2020 das Gesetz zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Hasskriminalität im Internet gebilligt. Zuvor war es bereits vom Bundestag verabschiedet worden. Unter anderen müssen nun bestimmte strafbare Inhalte von Anbietern sozialer Netzwerke dem Bundeskriminalamt gemeldet werden. Weiterhin ist die Androhung einer gefährlichen Körperverletzung strafbar und die Billigung noch nicht erfolgter Straftaten wird sanktioniert. Und: Öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften getätigte beleidigende Äußerungen können künftig im Höchstmaß mit zwei Jahren Freiheitsstrafe bestraft werden. Des Weiteren ist das Bundeskriminalamt berechtigt, die Login-IP-Adressen von Urhebern strafbarer Internetinhalte bei den Telemediendiensteanbietern abzufragen.

www.bundesrat.de

Volle Rückzahlung des Reisepreises bei Stornierung wegen Covid-19

Foto: AdobeStock/ Penti
Foto: AdobeStock/ Penti

Das Amtsgericht Frankfurt am Main hat entschieden, dass ein Reiseveranstalter zur Rückzahlung des kompletten Reisepreises verpflichtet ist, wenn ein Kunde die gebuchte Reise vor Reiseantritt storniert und zu diesem Zeitpunkt bereits eine gewisse Wahrscheinlichkeit für eine gesundheitsgefährdende Ausbreitung des Corona-Virus im Reisegebiet bestand. Reisewarnungen für das Reisegebiet seien dabei nicht zwingend erforderlich. Es genüge bereits eine gewisse Wahrscheinlichkeit für eine gesundheitsgefährdende Ausbreitung des Virus.

https://ordentliche-gerichtsbarkeit.hessen.de

Kabinett verabschiedet Investitionsbeschleunigungsgesetz

Die Bundesregierung hat im August 2020 den vom Bundesverkehrsministerium vorgelegten Entwurf des Investitionsbeschleunigungsgesetzes verabschiedet. Mit dem Gesetz werden wichtige Beschleunigungen bei Planungsverfahren im Infrastrukturbereich umgesetzt, heißt es. Das Bundeswirtschaftsministerium hat hierzu Beschleunigungen im Energiebereich in das Gesetz eingebracht, vor allem Verfahrensbeschleunigungen beim Bau von Windenergieanlagen. Das Gesetz dient damit zugleich der weiteren Umsetzung des Aktionsplans zur Stärkung der Windenergie des Bundeswirtschaftsministeriums vom Herbst 2019, der darauf zielt, den Ausbau von Windenergie an Land zu beschleunigen.

www.bmwi.de

Kanzleien im Technologiewandel

Befand sich die Rechtsbranche schon vor der Corona-Krise in einem Veränderungsprozess, so übernahm die weltweite Pandemie nochmals eine Katalysatorfunktion. Doch wohin genau wird die Entwicklung gehen? Von Christoph Berger

Wirtschaftliche, demografische, regulatorische, technologische und wettbewerbliche Erfordernisse waren es, die den Rechtsmarkt in den letzten Jahren zu tiefgreifenden Veränderungen trieben. Und dann kam Corona. Das heißt nicht, dass die fünf aufgezählten Faktoren nun einfach beiseitegeschoben wurden. Vielmehr ist es laut Experten des Informationsdienstleisters Wolters Kluwer so, dass ihre Auswirkungen durch die Corona-Krise noch einmal zusätzlich verstärkt werden. Für die Future Ready Lawyer-Studie 2020: Treiber der Performance“ haben die Analysten aktuelle Branchentrends untersucht. Und sie sind der Frage nachgegangen: Wie gut sind Kanzleien, Rechtsabteilungen und Rechtsdienstleister darauf vorbereitet, effizienter für ihre Kunden zu arbeiten?

Warum die Frage entscheidend ist, erklärt Martin O’Malley, Executive Vice President und Managing Director von Wolters Kluwer Legal & Regulatory: „Angesichts der durch die Krise hervorgerufenen finanziellen Drucksituation für Unternehmen in allen Wirtschaftsbereichen wird in Zukunft die Leistung von Rechtsexperten und ihre Fähigkeit, einen Mehrwert zu liefern, noch mehr im Blickpunkt stehen.“ Die größten Auswirkungen in den kommenden drei Jahren erwarten die 700 in den USA und neun europäischen Ländern befragten Juristen in der steigenden Bedeutung von Legal Technology (76 %), in den sich ändernden Erwartungen von Kunden und der Unternehmensführung (74 %), in der Fokussierung auf eine verbesserte Effizienz und Produktivität (73 %) und der Fähigkeit, Nachwuchs anzuwerben und zu binden (73 %) sowie in der Bewältigung zunehmender Informationsmengen und der -komplexität (72 %).

Technologieeinsatz schafft Wettbewerbsvorteile

All diese Herausforderungen haben mit Technologie zu tun – und sie betreffen sowohl Rechtsabteilungen in Unternehmen als auch die Kanzleiwelt. So wird es laut den Unternehmensjuristen an erster Stelle (82%) der gesteigerte Einsatz von Technologie sein, von dem man sich eine Verbesserung der Produktivität erhofft. Big Data und Predictive Analytics werden dabei mitentscheidende Technologien sein. Die Kanzleien hingegen werden versuchen, mithilfe neuer Technologien, die Kanzleiabläufe und die Kundenservices zu verbessern. Nicht zuletzt werden sie durch alternative Anbieter von Rechtsdienstleistungen vermehrt unter Druck gesetzt und müssen reagieren. Ihre Vertreter sehen in Künstlicher Intelligenz die entscheidende Technologie.

Die zu bewältigenden Herausforderungen mögen damit erkannt sein, auffällig ist jedoch sowohl bei Unternehmens- als auch Kanzleijuristen die Diskrepanz zwischen Soll- und Ist-Zustand. So denken gerade mal 25 Prozent der Unternehmensjuristen, die für sie entscheidenden Technologien zu verstehen. Und von den Kanzleien glauben ebenfalls nur 29 Prozent, in Bezug auf das Verständnis der vorhandenen Technologielösungen sehr gut vorbereitet zu sein. Zwar hätten sich bereits vor der Corona-Krise Rechtsabteilungen und Kanzleien schon mit der Digitalisierung beschäftigen müssen, schreiben die Studien-Autoren von Wolters Kluwer, doch sei diese Auseinandersetzung in ganz unterschiedlichem Tempo von den Akteuren vonstattengegangen. Jetzt, wegen der Krise, müssten technologische Lösungen im Eilverfahren implementiert werden. Und es zeige sich, dass Kanzleien und Rechtsabteilungen, die Technologie umfassend und effektiv einsetzen, Organisationen mit einer weniger intensiven Technologienutzung durchweg übertreffen.

Legal Tech in der juristischen Ausbildung

Mit dieser beschrieben Diskrepanz steht die Rechtsbranche nicht alleine da. In der von Clifford Chance im Sommer 2019 durchgeführten Studie „Talking Tech: Connecting Digital & Law“ kam heraus, dass nur jeder dritte Entscheider mit dem Stand der Digitalisierung und dem Einsatz von digitalen Technologien in seinem Unternehmen sehr zufrieden ist. Befragt worden waren für die Untersuchung knapp über 200 Manager der 1. bis 3. Führungsebene aus Unternehmen ab 250 Mitarbeitern, alle Branchen außer Steuern, Wirtschaftsprüfung, Recht und öffentlicher Dienst.

Doch auch wenn es anderen Branchen ähnlich wie der Rechtsbranche geht, hinkt der Vergleich. Schaut man sich nämlich die größten Hürden der anderen Branchen hin zur Digitalisierung an, so werden hier neben fehlenden Fachkräften vor allem die Berücksichtigung rechtlicher Aspekte genannt. Zum Beispiel der Datenschutz, die Haftung oder Datensicherheit. Die Rechtsbranche müsste demnach also Vorreiter in Sachen Technologieeinsatz sein. Und zumindest scheint die Beratung sogar zu klappen, denn Clifford Chance hat herausgefunden, dass insgesamt neun von zehn Unternehmen auf juristische Unterstützung zurückgreifen – sei es auf die eigene Rechtsabteilung (63%) oder auf externe rechtliche Berater (58 %). Doch wieso funktioniert die Technologieeinführung dann in der eigenen Branche nicht? Ist es ein Personal- und/oder Zeitproblem? Sind es unterschiedliche Schuhe, zum einen hinsichtlich rechtlicher Fragestellungen zu beraten und andererseits selbst technische Lösungen einzuführen? Existiert in den Rechtsabteilungen und Kanzleien überhaupt ausreichend technisches Know-how?

Vor allem im Hinblick auf die letzte Frage könnte die von der Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit im Mai 2020 veröffentlichte Untersuchung „Legal Tech in der juristischen Ausbildung“ Erkenntnisse liefern. „Mit Blick auf den Ist-Zustand der juristischen Ausbildung in Deutschland legen diese Entwicklungen einen dringenden Handlungsbedarf offen. Die Studie empfiehlt, vor allem statistische Methoden der Data Sciences und die technischen Grundlagen von ‚Legal Tech‘ schnellstmöglich in das Pflicht- und Wahlpflichtprogramm sowie in den juristischen Vorbereitungsdienst aufzunehmen“, schreibt Autor Dr. Heribert M. Anzinger, Universitätsprofessor für Wirtschafts- und Steuerrecht im Institut für Rechnungswesen und Wirtschaftsprüfung der Universität Ulm. Und damit schließt sich dann doch wieder der Kreis zu den anderen Branchen: Es fehlen auch bei den Juristen die entsprechenden Fachkräfte.

Legal Tech-Studiengänge und -Labs

Rechtliches zu simulierten Phishing-Kampagnen

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Um die Resistenz der eigenen Mitarbeitenden gegen gefälschte E-Mails zu prüfen – der meistgenutzte Weg von Cyberkriminellen, um an vertrauliche Daten zu kommen oder Schadsoftware in Unternehmensnetzwerke einzuschleusen, simulieren manche Unternehmen diese sogenannten Phishing- Kampagnen. Doch solche Tests sind mit einigen, auch rechtlichen, Fallstricken verbunden. Von Christoph Berger

Eigentlich haben Unternehmen beim bewussten Versenden von simulierten Phishing- Mails an die eigenen Mitarbeiter nur Gutes im Sinn: Die Angestellten sollen vor realen Gefahren geschützt und ein Problembewusstsein geschaffen werden. Dass dieses Ziel jedoch nicht immer im Ergebnis derartiger Kampagnen rauskommt, haben Melanie Volkamer, Leiterin der Forschungsgruppe SECUSO – Security, Usability and Society am KIT, und Franziska Boehm vom Zentrum für Angewandte Rechtswissenschaft des KIT gemeinsam mit der Bochumer Professorin für Human-Centred Security am Horst-Görtz-Institut für IT Sicherheit, M. Angela Sasse, in ihrem Bericht „Phishing-Kampagnen zur Mitarbeiter-Awareness. Analyse aus verschiedenen Blickwinkeln: Security, Recht und Faktor Mensch.“ herausgearbeitet. „Die Kampagnen haben das Ziel, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bewusst zu täuschen, um sie vor realen Gefahren zu schützen und ein Problembewusstsein zu schaffen, aber es herrschen oft Unsicherheiten darüber, was rechtlich, sicherheitstechnisch und ethisch vertretbar ist“, so die Wissenschaftlerinnen.

Phishing-Kampagnen bringen eine Reihe von Sicherheitsproblemen mit sich, und sie beeinflussen die Vertrauens- und Fehlerkultur in einem Unternehmen stark.

So erklärt Boehm: „Phishing-Kampagnen bringen eine Reihe von Sicherheitsproblemen mit sich, und sie beeinflussen die Vertrauens- und Fehlerkultur in einem Unternehmen stark; auch rechtlich ist einiges zu berücksichtigen.“ Und laut Sasse sei es schlicht unfair und trage micht zum Vertrauen in die Leitung bei, wenn eine solche Kampagne ohne die vorherige Aufklärung der Mitarbeiter gestartet werde. Zu erfahren, dass man auf Phishing-Nachrichten hereingefallen ist, wirke sich schlecht auf die Selbstwirksamkeit aus: „Die Angestellten merken, dass sie keine Kontrolle über die Situation haben und reagieren mit Resignation, sie bemühen sich nicht einmal mehr, Phishing-Nachrichten zu erkennen“, stellen die Autorinnen fest.

Doch auch das vorherige Informieren über Phishing-Kampagnen berge Risiken, wie Volkamer erläutert. „Wenn die Mitarbeiter aber wissen, dass die Kampagne läuft, sind sie vielleicht neugierig und klicken eine Mail an, in der Annahme, da kann nichts passieren, die Mail ist ja fingiert. Da aber weiterhin echte Phishing-Mails im Umlauf sind, wird das Schutzniveau herabgesetzt.“ Verstärkt werde das Problem, wenn ein Mitarbeiter merkt, dass er doch einen gefährlichen Link angeklickt hat und sich nicht traut, dies zu melden. Im Unternehmen sollte deshalb vor Start einer Phishing- Kampagne bereits eine Meldepflicht von IT-Sicherheitsvorfällen etabliert sein. Angekündigte Kampagnen würden außerdem zu einer weitaus häufigeren kritischen Hinterfragung von E-Mails führen, was zu einem höheren Zeitaufwand und damit Leistungsdruck führe – alles Aspekte, die wiederum das Vertrauen in die Geschäftsleitung schmälern.

Der vollständige Bericht „Phishing-Kampagnen zur Mitarbeiter-Awareness. Analyse aus verschiedenen Blickwinkeln: Security, Recht und Faktor Mensch.

Was aber tun, wenn es schon genügt, dass ein einzelner Angestellter einem Phishing- Angriff Glauben schenkt, um großen Schaden zu verursachen? Die Autorinnen raten Unternehmen, die ihre IT-Sicherheit stärken wollen, Zeit und Geld in erster Linie in eine Verbesserung der technischen Sicherheitsmaßnahmen zu investieren und erst dann die Angestellten zu schulen, welche Phishing-Nachrichten sie trotz der aktuellsten Sicherheitssoftware und des neuesten Betriebssystems noch erreichen können und wie sie diese erkennen.

Recht und Ethik

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Anwälte arbeiten mit Gesetzen. Da scheint es bei Fragestellungen keinen Spielraum zu geben, ist doch alles festgeschrieben. Und doch stellt sich auch für diese Berufsgruppe immer wieder die Frage nach ethischem Handeln. Von Christoph Berger

Der diesjährige Deutsche Anwaltstag hatte eine Diskussionsrunde im Angebot, die sich mit den Fragen „Erst das Fressen, dann die Moral? Wann wird Geld verdienen unmoralisch?“ beschäftigte. Große Themen also: Moral, Ethik und Geld. Und es ging direkt mit der Frage „Was raten Sie jungen Menschen, die den Anwaltsberuf ergreifen möchten, um viel Geld zu verdienen?“ zur Sache. Markus Hartung, Rechtsanwalt und Mediator aus Berlin, hatte dazu eine klare Meinung. Wenn es nur um das Geldverdienen gehe, würde er vom Studium beziehungsweise dem Beruf abraten. Überhaupt rate er jedem davon ab, die Berufswahl vom Gehalt abhängig zu machen. Er fügte aber auch an: „Wenn jemand Anwalt werden möchte und hat die Chance, bei einer großen Wirtschaftskanzlei anzufangen, dann würde ich ihm zuraten. Weil man in diesen Wirtschaftskanzleien, wenn man in diesen Rechtsbereichen arbeiten will, nirgendwo so viel wie da lernt, nirgendwo kann man so gut Netzwerke aufbauen, nirgendwo hat man so viel internationale Erfahrung schon als junger Anwalt. Und man wird supergut bezahlt.“

Die Frage nach „machen“ oder „nicht machen“ taucht also schon sehr früh im Lebenslauf eines jeden auf. Und weitere ethische oder moralische Fragestellungen werden folgen. Sei es, wenn Mandanten versuchen, den Sachvortrag zu manipulieren, um zum gewünschten Ergebnis zu kommen, oder wenn Steuerrechtler Gesetzeslücken ausnutzen. Und auch die Honorarfrage spielt im Arbeitsleben von Anwälten eine Rolle. Also wiederum die Frage nach dem Verdienst. Markus Hartung erklärt: „Ein weiteres Beispiel ist auch die Honorarbemessung durch Rechtsanwälte, denn in bestimmtem Umfang können Rechtsanwälte ihre Honorare selber festsetzen. Sie müssen sich dann an bestimmten Kriterien orientieren, die ihre Mandanten natürlich alle nicht nachvollziehen können. Die Frage ist dann häufig, ob man nicht etwas großzügiger sein sollte.“

Innere Überzeugung ist entscheidend

Dr. Jörg Meister, Partner in der Mannheimer Kanzlei Boulanger, Meister, Amann, Jungraithmayr, Mundanjohl und Vorsitzender des Ausschusses Anwaltsethik und Anwaltskultur im Deutschen Anwaltsverein (DAV) sagt: „Ethische Fragen tauchen im Anwaltsberuf – wie auch in anderen Bereichen – dann auf, wenn es darum geht, ob ein bestimmtes Verhalten oder Unterlassen ‚anständig‘ ist.“ Es gebe Situationen, in denen man zwar das Recht durchsetzen könnte, ethisch höherstehend könne es aber sein, auf die Durchsetzung des Rechts zu verzichten. Es stellt sich nach Meister somit die Frage, ob man wirklich immer alles tun sollte, was erlaubt ist.

Niemand ist legitimiert, ethische Vorgaben zu machen. Ethisches Verhalten ist eine Sache der persönlichen Überzeugung und kann nicht vorgegeben werden.

Das Verhältnis von Recht und Ethik ist also äußerst kompliziert. Jörg Meister verweist auf Rudolf von Jhering, einen deutschen Rechtswissenschaftler aus dem 19. Jahrhundert, der die Abgrenzung von Recht und Ethik als „Kap Hoorn der Rechtsphilosophie“ bezeichnete. Für Ethik ist vor allem auch die innere Überzeugung entscheidend, nicht dagegen die förmlichen von außen auferlegten Sanktionen. Anders formuliert es Prof. Dr. Volker Römermann, Vorstand der Römermann Rechtsanwälte AG und Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin: „Themen wie Ethik, Moral, ‚Haltung‘ werden oft diskutiert und jeder bekennt sich rückhaltlos dazu, wie wichtig und gut das ist. Es passt auch gut zu unseren Werten. Allerdings: Wenn man näher hinschaut, wird oft immer diffuser, was das eigentlich sein soll. Da gibt es ein paar Gemeinplätze, Floskeln, aber was heißt es konkret?“

Römermann plädiert für klare und transparente Argumente in der Auseinandersetzung mit Inhalten, statt auf den luftigen Begriff Ethik zu verweisen. Und: „Die Anwaltschaft muss frei für ihre Mandanten agieren dürfen.“ Somit hält er auch nichts von den Ende der 2010er-Jahre mal angedachten ethischen Richtlinien für die Anwaltschaft. Die meisten Fragen, die als „ethische Fragen“ behandelt werden, sind bereits sehr ausführlich im Berufsrecht geregelt. Auch Hartung und Meister lehnen derartige Richtlinien ab. Während Hartung unter anderem erklärt, dass er noch keine Richtlinien gesehen habe, in denen nicht letztlich das paraphrasiert werde, was im anwaltlichen Berufsrecht ohnehin schon vorgegeben sei, sagt Meister: „Niemand ist legitimiert, ethische Vorgaben zu machen. Ethisches Verhalten ist eine Sache der persönlichen Überzeugung und kann nicht vorgegeben werden.“ Richtlinien also, selbst wenn sie abstrakt gefasst seien, könnten die Vielzahl der auftretenden Konstellationen niemals erfassen. „Es kommt darauf an, dass der Einzelne ein Koordinatensystem für Gut und Böse entwickelt.“

Reflexionsfähigkeit in kritischen Situationen

Was hingegen in der Bundesrechtsanwaltordnung unter den §§ 43 und 43a, „Allgemeine Berufspflicht“ und „Grundpflichten“ festgeschrieben ist, hat nichts mit berufsethischen Vorgaben zu tun. Stattdessen handelt es sich schlichtweg um Regeln, die einzuhalten sind. Markus Hartung nennt sie trotzdem die anwaltlichen Kernwerte, die core values. Und sagt: „Diese Kernwerte – Unabhängigkeit, Geradlinigkeit und Verschwiegenheitspflicht – finden Sie eigentlich überall auf der Welt, wo es Anwälte gibt. Und wenn sich irgendwo Leute als Anwälte bezeichnen, für die es solche Regeln nicht gibt, dann handelt es sich nicht um Anwälte.“ Und wie sieht es mit der Sensibilisierung junger Anwälte für die Thematik aus, werden ethische und moralische Fragestellungen ausreichend im Studium behandelt? Geht es nach Jörg Meister, wäre es erforderlich, auf ethische Fragen verstärkt einzugehen, um die Reflexionsfähigkeit in kritischen Situationen zu stärken.

Denn Nachholbedarf zu ethischem Verhalten gibt es nach seiner Erfahrung im Anwaltsberuf und in der Juristenbranche immer insofern, als jeder Einzelne sich jederzeit fragen muss, ob sein Verhalten, insbesondere in dem rechtlich nicht geregelten Bereich, anständig ist. Ein Aspekt, den auch Markus Hartung hervorhebt. Er betont aber auch, dass die Anwaltschaft als Ganzes laut seinen Beobachtungen keine bedenklichen Defizite bei ethischem und verantwortungsvollem Handeln hat. So sieht es auch Volker Römermann: „Ich beobachte das Anwaltsgeschehen seit etwa 30 Jahren und die Zahl der Fälle, in denen sich Anwälte wirklich unethisch benommen haben – soweit es meinem subjektiven Empfinden entspricht, denn objektiv lässt es sich überhaupt nicht feststellen – ist so minimal klein, dass kein Bedarf nach zusätzlichen Regeln besteht. Anwälte sind Menschen, da kommen auch mal Verhaltensweisen vor, die man selbst nicht für richtig hält. Statistisch gesehen ist das unauffällig. Und im Vergleich zu anderen Berufsgruppen schneiden Anwälte meines Erachtens sehr gut ab.“

Diversity hat viele Facetten

Diversity ist ein Muss für Unternehmen, wollen sie im Wettbewerb um Fachkräfte bestehen. Zudem ist Vielfalt eine Haltung, mit der das heutige System von Organisationen in Frage gestellt wird. Doch ohne Vielfalt in der Führung, ohne das Schaffen von Vorbildern und ohne das Hinterfragen der eigenen Entscheidungen wird es schwierig, Vielfalt auch wirklich zu leben. Von Christoph Berger

Seit fünf Jahren gilt in Deutschland das Gesetz zur gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Männern in Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (Führungspositionen-Gesetz – FüPoG). Besonders stand dabei die Einführung einer fixen Geschlechterquote für Aufsichtsräte im Fokus der öffentlichen Diskussion, wie es vonseiten der weltweit agierenden Rechtsanwaltskanzlei Allen & Overy heißt, die in einer Studie 2015 den damaligen Ist-Zustand untersuchte, und nun, 2020, ermittelte, wie Unternehmen die gesetzlichen Vorgaben umgesetzt haben.

Denn das Gesetz bezieht sich nicht nur auf die fixe Größe in Aufsichtsräten. Alle vom Gesetz adressierten Gesellschaften müssen sogenannte Zielgrößen für den Vorstand sowie die erste und zweite Führungsebene unterhalb des Vorstandes festlegen. Diese flexible Frauenquote sieht auch für bestimmte Gesellschaften die Festlegung einer Zielgröße für den Aufsichtsrat vor, wenn nicht bereits die fixe 30 Prozent- Quote einzuhalten ist. Die gesetzlichen Regelungen sind im Zuge des Gesetzes zur Stärkung der nichtfinanziellen Berichterstattung der Unternehmen in ihren Lage- und Konzernlageberichten (CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz) vom 11. April 2017 teilweise ergänzt worden.

In den letzten fünf Jahren hat sich einiges getan, gleichzeitig gibt es auf dem Weg zu Gleichberechtigung aber auch noch viel zu tun.

So ist nun in § 315d HGB vorgesehen, dass in der Konzernerklärung zur Unternehmensführung ebenfalls Angaben zur Umsetzung des FüPoG zu machen sind, die sich jedoch auf die Erklärungen zu den betroffenen Gesellschaften beschränken und keineswegs eine Erweiterung des Anwendungsbereichs des FüPoG auf den Gesamtkonzern mit sich gebracht haben. Die Zielgrößen sind daher ebenso wie die fixe Quote stets nur auf die jeweilige Konzern-Gesellschaft anwendbar, die die Voraussetzungen hierfür erfüllt.

Die aktuellen Studienergebnisse von Allen & Overy zeigen zweierlei: In den letzten fünf Jahren hat sich einiges getan, gleichzeitig gibt es auf dem Weg zu Gleichberechtigung aber auch noch viel zu tun. So liegt die durchschnittliche Zielgröße für den Frauenanteil im Vorstand von DAX-Unternehmen bei 18,5 Prozent, die von MDAX-Unternehmen bei 12,1 Prozent. Nach unten hin füllt sich dann die „Pipeline“ – Dynamik ist vor allem in den zwei Führungsebenen unterhalb des Vorstands zu sehen: Der Anteil der DAX-Gesellschaften, die eine Zielgröße von mindestens 30 Prozent Frauenanteil in der ersten Führungsebene festgelegt haben, hat sich im Vergleich zur ersten Studie mehr als vervierfacht. Im Durchschnitt entschieden sich die DAX- und MDAX-Gesellschaften für eine Zielgröße von 24,4 Prozent in der zweiten Führungsebene. Das entspricht einer Steigerung von 3,7 Prozentpunkten im Vergleich zur ersten Studie aus dem Jahr 2015.

Diese Zahlen beziehen sich auf die DAXund MDAX-Unternehmen, also die 90 größten Aktienunternehmen hinsichtlich Marktkapitalisierung und Orderbuchumsatz. Doch wie sieht die Situation in Rechtsanwaltkanzleien aus – lag der Frauenanteil unter den Rechtsanwälten in Deutschland laut Statista am 1. Januar 2020 doch bei immerhin knapp 36 Prozent? Zum gleichen Stichtag gibt die internationale Kanzlei White & Case einen Frauenanteil unter den Partnern von 22 Prozent an. Der Frauenanteil unter allen Anwälten in Zentraleuropa bei Hogan Lovells liegt bei 45 Prozent, unter den Partnern beträgt ihr Anteil 22 Prozent, unter den Counsels 38 Prozent. Die Zahlen bewegen sich damit im Rahmen der DAX- und MDAX-Unternehmen.

Charta der Vielfalt

Viele Kanzleien – zum Beispiel Heuking Kühn Lüer Wojtek, Gleiss Lutz oder Luther – haben zudem die Charta der Vielfalt unterschrieben, eine Initiative zur Förderung von Vielfalt in Unternehmen deren Kern die Förderung und Wertschätzung aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unabhängig von Geschlecht, Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion, Alter oder Weltanschauung ist. Denn natürlich ist Vielfalt weit mehr als „nur“ das Geschlechterverhältnis von Frauen und Männern zueinander.

Die Kanzlei Freshfields rief bereits 2002 das LGBT+ Netzwerk „Halo“ ins Leben. Dieses fördert die weltweite Integration und Gleichstellung aller lesbischen, schwulen, bisexuellen und transsexuellen Kolleg*innen innerhalb des Rechtsanwaltsunternehmens. Die Einrichtung einer „Global Race & Ethnicity Task Force“ kündigte die globale Anwaltskanzlei Baker McKenzie Anfang Juli 2020 an. Sie unterstützt die in 46 Ländern ansässigen 77 Büros dabei, Programme zur Förderung der Vielfalt zu implementieren. Die Task Force setzt sich dafür ein, sowohl bei der Einstellung als auch bei der Beförderung von Kollegen auf die ethnische Vielfalt gemäß den jeweils lokalen Gegebenheiten zu setzen und diese Kollegen zu fördern, um ihnen die gleichen Chancen einzuräumen. Hierzu gehört auch, die Nachteile aller Kollegen vor Augen zu führen, die Personen mit anderer Hautfarbe oder anderer Herkunft täglich erfahren.

Ich beobachte ein zunehmendes Bekenntnis zu Konzepten wie Diversity. Es gibt kaum ein größeres Unternehmen, das sich nicht zu dem Thema Vielfalt und Inklusion bekennt.

Dazu sagt Dr. Constanze Ulmer-Eilfort, Chair des Global Diversity & Inclusion Committee der Kanzlei: „Die Förderung von Racial and Ethnic Diversity war schon immer eine unserer wichtigsten D&I-Prioritäten (Anm. d. Red.: D&I steht für Diversity and Inclusion), und diese Task Force setzt sich dafür ein, Veränderungen zu bewirken und wirklich etwas zu bewegen. Als Unternehmen sind wir stolz auf das, was wir gemeinsam in Bezug auf Gender Diversity und die Einbeziehung von LGBT+ erreicht haben. Auch im Hinblick auf ethnische Vielfalt können und müssen wir ähnliche Fortschritte erzielen.“ Dabei betonte sie auch, dass der Wandel von innen, also aus dem Unternehmen selbst, kommen muss.

„Ich beobachte ein zunehmendes Bekenntnis zu Konzepten wie Diversity. Es gibt kaum ein größeres Unternehmen, das sich nicht zu dem Thema Vielfalt und Inklusion bekennt“, sagte Robert Franken, Diversity Consultant, im Rahmen des Panels „Raus aus der Monokultur – Wirtschaftsfaktor Diversity“ auf dem diesjährigen virtuellen Deutschen Anwaltstag. Er forderte allerdings auch, nicht hinter dem Gesagten Zurückzustehen. Armaghan Naghipour, stellvertretende Vorsitzende des Vereins Deutsch- Plus und Rechtsanwältin, merkte an, dass der Gender Gap bereits im Studium aufgrund der Überzahl männlicher Prüfer stattfinde. Es sei belegt, dass männliche Prüfer männliche zu Prüfende besser bewerten als weibliche. Das habe dann natürlich direkt Einfluss auf den Berufseinstieg erklärte sie. Und in der Diskussion kam ebenfalls heraus, dass Vielfalt ohne Inklusion nicht funktioniert. Es gehe schließlich darum, so erklärte es Nina Katrin Straßner, Rechtsanwältin, Mediatorin und Head of Diversity & Inclusion bei SAP Germany, jedem Menschen eine Stimme zu geben, eine Stimme, die auch gehört wird.

Hinweis:
In der ursprünglichen Version des Beitrags wurden Zitate von Dr. Constanze Ulmer-Eilfort aus der englischsprachigen Pressemitteilung von Baker McKenzie „Baker McKenzie forms Global Task Force on Racial and Ethnic Diversity“ falsch übersetzt. Dr. Constanze Ulmer-Eilfort distanzierte sich von der vorgenommenen Übersetzung, sie wurde nachträglich korrigiert.

Buchtipp: Lust auf Vielfalt

Der Begriff Diversity macht schnell „Popcorn im Kopf“, weil es ein so weitverzweigtes, unüberschaubares und facettenreiches Thema ist. Anna Engers, selbst Volljuristin, aber ist überzeugt: Diversity ist der Booster für jedes Unternehmen. Dennoch tun sich die Organisationen in Deutschland immer noch schwer, echte Vielfalt zu integrieren und zu leben. Warum das so ist und was sich hinter dem Begriff „Diversity“ eigentlich verbirgt, dem hat sich die Autorin in diesem Buch gewidmet. Anna Engers: Komplexität von Diversity meistern. Sorriso Verlag 2020, 18 Euro.