Vor zwei Jahren gründeten die Juristin Lena Spak und die Key Account- und Produktmanagerin Annie Doerfle das EdTech-Start-up Scobees. Die Geschäftsidee: Für Schulen ein Tool zu entwickeln, mit dem Kinder Spaß am digitalen Lernen haben. Ohne Geräte- und Netzwerkstress – und ohne Voreinstellungen, die Kindern eine Lernrichtung vorgeben. In der Pandemie ist digitales Lernen gefragt wie nie. Im Interview erzählt Lena Spak, warum es an den Schulen dennoch Vorbehalte gab, wie EdTech Gendergerechtigkeit fördern kann und warum sie es wichtig findet, als weibliche Gründerin nicht zu sehr auf männlichen Rat zu hören. Die Fragen stellte André Boße.
Frau Spak, 2019 haben Sie zusammen mit Annie Doerfle Scobees gegründet, ein Start-up für EdTech, also digitale Lernangebote. Haben Sie in der Gründungsphase den Eindruck gehabt, mit Ihrer Idee offene Türen einzurennen? Wer in Deutschland ein Start-up im Bildungsbereich gründet, rennt zunächst einmal nirgends offene Türen ein. Wer zusätzlich wie wir auch noch einen vollkommen neuen Ansatz fährt, hat es sogar doppelt schwer.
Warum ist das so? Die Schulen sind skeptisch, weil ein Start-up etwas Kommerzielles ist. Investoren sind skeptisch, weil sie den Markt „Schule” als eher undankbar einstufen. Die Politik ist skeptisch, weil die sowas lieber selbst auf die Beine stellen würde. Es waren auf jeden Fall harte erste Jahre. Aber wir hatten dann das Glück, zur rechten Zeit inspirierende Schulen zu finden, die genau das gesucht haben, was wir anbieten. Wir wussten also: Es wird lang und schwer, weil es so neu ist. Dank unserer Partner*innen und Mentor* innen wussten wir aber auch, dass unsere Idee Potential besitzt. Ab einem bestimmten Punkt wurden es mehr und mehr Schulen. Mittlerweile sind Schulen und auch Investor*innen und Politik begeistert.
Ich denke, Frauen neigen dazu, sich und ihre Idee schnell in Frage zu stellen. Männer sind da oft selbstbewusster. Und das sollten Frauen auch sein.
Ein Tipp von Ihnen an junge Frauen, die gründen wollen: Worauf kommt es in der ersten Phase an, welche Fehler sollten Gründerinnen vermeiden? Ich denke, Frauen neigen dazu, sich und ihre Idee schnell in Frage zu stellen. Männer sind da oft selbstbewusster. Und das sollten Frauen auch sein. Wenn man ein Female Product baut, also eines von Frauen, das sich zwar auch an Männer richtet, aber auf die Bedürfnisse von Frauen fokussiert ist, dann sollte man nicht zu viel auf die Meinung von männlichen Betrachtern geben – weil sich Männer unter Umständen weniger gut mit den von den Gründerinnen aufgeworfenen Problemen identifizieren können. Wichtig ist, was die potenziellen Nutzer*innen sagen. Ich sehe es als Chance, dass man es zulässt „female“ zu sein. 50 Prozent der Bevölkerung sind weiblich, aber die meisten digitalen Produkte werden von Männern entwickelt. Da gibt es für Frauen definitiv noch Märkte zu erobern!
Zumal, wenn man sich, wie Sie, an Schulen und insbesondere Grundschulen wendet. Genau, in der Grundschule sind fast 90 Prozent der Lehrkräfte Frauen. Und hier fällt es besonders auf, dass diese Frauen den „female look“ unseres digitalen Produkts schätzen. Das Wichtigste aber ist, dass man sich auf einen langen, langen Weg gefasst macht, mit vielen Höhen und Tiefen. Das gilt allerdings für alle Gründer*innen.
Zu den Gründerinnen
Annie Doerfle, Lena Spak, Foto: Scobees
Lena Spak ist Juristin und hat zu Beginn ihrer Karriere als Anwältin mit Schwerpunkt Medienrecht gearbeitet. 2013 wechselte sie zum WDR, wo sie als Distribution Managerin tätig war. Bei Scobees ist sie für den Bereich Unternehmen und Strategie zuständig. Annie Doerfle war von 2007 bis 2017 als Produktmanagerin und Key-Account-Managerin für die B2B-Filmwirtschafts-Plattform Reelport tätig, bei Scobees übernimmt sie die Bereiche Vertrieb und Netzwerkarbeit. Ein erstes Konzept für eine EdTech-Plattform entwickelten Lena Spak und Annie Doerfle während ihrer Elternzeit; auf die Idee, sich auf dem Schulmarkt zu versuchen, kamen die Gründerinnen, nachdem sie von Lehrkräften darauf angesprochen wurden.
Kann das Prinzip EdTech in der Bildung etwas für die Gender-Gerechtigkeit tun? Auf jeden Fall! Viele EdTech-Produkte geben den Lernenden mehr eigene Entscheidungsmöglichkeiten. So ist ein elementarer Bestandteil von Scobees, dass Lernende ihren Lernweg selbst mitbestimmen und Schwerpunkte setzen. Damit gibt es niemanden, der Material oder Schwerpunkte vorab „filtert“, Lernende können völlig gender-neutral lernen. Denn Software ist im Prinzip geschlechtsneutral. Sie orientiert sich an dem Nutzerverhalten. So ist das auch bei uns. Die Lernenden entscheiden selbst, was sie interessiert, wo und wie sie Schwerpunkte setzen. Es gibt also niemanden, der nach bestimmten Vorurteilen steuern könnte, wer was lernen sollte.
Die Soziologin Jutta Allmendinger spricht von einer „entsetzlichen Retradionalisierung“, weil im Zuge der Pandemie Frauen wieder zurück in die Rolle der Kinderbetreuerinnen und Home-Schooling-Beauftragten gedrängt werden, während viele Männer beruflich weiter „Business as usual“ machen. Teilen Sie diese Befürchtung? Ja, im Grunde schon. Die Pandemie hat wirklich gerade Familien vor eine besondere Herausforderung gestellt. Wir können beide sagen, dass Homeoffice mit Kindern zu Hause für Eltern und Kinder gleichermaßen nervenaufreibend ist. In den meisten Familien arbeiten die Mütter sowieso schon in Teilzeit, und die Kinder sind es daher gewohnt, Mami anzusprechen. Das tun sie im Homeoffice natürlich auch. Was soll Frau tun, wenn beide arbeiten und das Kind sich nun mal entscheidet, bei der Mutter nachzufragen? Nach einigen Wochen Homeoffice und Lockdown entscheidet man sich pragmatisch – und das heißt oft, dass die Mutter zurückschraubt. Ich glaube, Entscheidungen mit Familie sind oft pragmatisch und müssen sofort gefällt werden. Welche Konsequenz das Ganze hat, erkennen Familien – und gerade Mütter – dann häufig erst später.
Inwieweit können digitale Lern-Plattformen dabei helfen, junge Mädchen früh auf kommende Führungsaufgaben vorzubereiten? Die Kompetenz und der Wille, Führungsaufgaben zu übernehmen, werden derzeit generell nicht stark gefördert, weder bei Mädchen noch bei Jungen. Digitale Methoden bringen Methoden wie zum Beispiel das Projektlernen sowie das Lernen in Gruppen stärker zum Einsatz. Das gibt sowohl jungen Mädchen aber auch Jungen die Gelegenheit, schon sehr früh Führungsrollen einzunehmen – und sich somit auf entsprechende Führungsaufgaben vorzubereiten.
Vielfalt ist immer gut. Sowohl in Sachen Kompetenzen als auch hinsichtlich Geschlechtervielfalt.
Sie haben vor der Gründung Erfahrungen in anderen Branchen gesammelt. Haben Sie dabei erlebt, dass sich Vielfalt in den Teams und vor allem in der Führung positiv auswirkt? Vielfalt ist immer gut. Sowohl in Sachen Kompetenzen als auch hinsichtlich Geschlechtervielfalt. Es werden dadurch weniger Dinge übersehen, weil sehr viele verschiedene Bedürfnisse und Blickwinkel Berücksichtigung finden. Schließlich besitzt jedes Individuum einen ganz eigenen Schwerpunkt. Ich glaube, dass aus diesem Grund Führung immer dann besonders gut ist, wenn Hierarchien flach sind und auf diese Art besonders viel Vielfalt in die Führungsebene gelangt.
Wie gelingt es Ihnen, im Unternehmen eine vielfältige Führungskultur zu entwickeln? Wir wissen, dass wir viele Dinge nicht wissen. Daher holen wir uns immer gerne Rat ein. Das können ausgewiesene Expert*innen sein, aber eben auch das gesamte Team. In der Praxis sieht das dann so aus, dass meine Co-Gründerin und ich Impulse und Zielrichtungen setzen, die wir uns als Unternehmen vorgenommen haben. Wie das ausgestaltet wird, überlassen wir gern dem Team.
Bitte vervollständigen Sie zum Abschluss folgenden Satz: Frauen in Führung werden zu einer Selbstverständlichkeit, wenn… … Geschlechtergleichheit in Schulen gelebt wird, Kinderbetreuung ab dem gewünschten Zeitpunkt, zum Beispiel ab sechs Monaten, gesichert ist, sich das Lohnniveau für Frauen und Männer nicht mehr unterscheidet und flexible Arbeitszeiten in deutschen Unternehmen nicht mehr verhandelt werden müssen.
Zum Unternehmen
Scobees mit Sitz in Köln versteht sich als EdTech-Angebot, das Kindern selbstbestimmt und kollaborativ individuelles Lernen in offenen Lernformaten ermöglichen soll. Angeboten wird die Plattform für Grund- und weiterführende Schulen, für außerschulische Lernorte, für die Schul- und Förderentwicklung sowie für Eltern. Kernelement ist die Vernetzung dieser Ebenen: Schulen, Eltern und Akteur*innen an außerschulischen Lernorten haben Einblick in die Inhalte und Fortschritte. Ein Merkmal von Scobees ist die Teilhabe der Kinder: Dynamische Lernprozesse mit passenden und frei wählbaren Lernmaterialien sowie individuellen Feedbacks fördern die Chancengleichheit und verhindern, das Kinder von außen auf bestimmte Lerninhalte festgelegt werden.
Kinder bedeuten für viele Frauen noch immer den Karriereknick – und das, obwohl Frauen heute besser denn je ausgebildet sind und eine hohe Arbeitsbeteiligung herrscht. Welche Vereinbarkeitsfaktoren entscheidend sind, und wie Frauen ihre Karriere familienfreundlich gestalten und Gleichstellung in der Familie und im Beruf einfordern können, erklärt Luisa Hanke vom Vereinbarkeits LAB in ihrem Gastartikel.
Zur Person
Luisa Hanke ist Karrierecoach, Unternehmensberaterin und Gründerin des Vereinbarkeits LABs – einem Netzwerk für familienfreundliche Karrieren. Und sie ist Mutter, alleinerziehende Mutter. Sie weiß, welche Herausforderungen es mit sich bringt, Kind und Karriere miteinander zu vereinbaren. Nach über zehn Jahren Erfahrung in der Leitung internationaler Projekte zum Thema Chancengerechtigkeit sowie der Beratung diverser Organisationen und Unternehmen zum Thema Vereinbarkeit ist es ihr ein Herzensanliegen, den Wandel für Kind und Karriere zu fördern.
www.vereinbarkeitslab.de
Instagram: vereinbarkeits_lab
Die „motherhood lifetime penalty“ macht die Lücke im Einkommen zwischen Müttern und kinderlosen Frauen deutlich: Mutter zu sein kostet Frauen ein Vermögen. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Sommer 2020 zeigt, dass die Familiengründung die Karrieren von Männern nicht beeinflusst – aber für Frauen spielt sie eine gravierende Rolle, und zwar in Bezug auf Arbeitszeiten, Karrieregestaltung und Finanzen. Die Zahlen dazu sind erschreckend: Mütter mit einem Kind verdienen im Laufe ihres Lebens durchschnittlich 40 Prozent weniger als Frauen ohne Kinder. Bei Müttern mit drei oder mehr Kindern sind es sogar fast 70 Prozent. Mutter zu sein kostet Frauen im Durchschnitt 920.000 Euro eines durchschnittlichen Lebensgehalts, wie die Studie zeigt, wenn wir nicht die richtigen Vereinbarkeitsmaßnahmen ergreifen.
Bei der Elternzeit fängt es an
Die Karrierechancen von Frauen hängen sehr stark davon ab, wie gleichberechtigt sie ihr Familienleben gestalten. Sobald es nämlich mit der Familiengründung losgeht, sind viele nicht mehr so emanzipiert, wie sie es eigentlich sein wollen. 85 Prozent der Paare fallen unmittelbar nach der Geburt des ersten Kindes in alte Rollenmuster zurück. Denn in neuen, herausfordernden Situationen, und dazu zählt die Familiengründung definitiv, greifen wir auf uns bekannte Vorbilder, Rollenbilder und Verhaltensweisen zurück. In Ländern wo Vereinbarkeit und familienfreundliche Karrieren für Frauen und Männer der Status quo sind, beispielsweise in Schweden, nehmen Väter eine obligatorische Elternzeit von mindestens vier Monaten. Hier in Deutschland nimmt lediglich ein Drittel aller Väter überhaupt Elternzeit, und das im Schnitt nur 2 Monate. Dabei bildet die Elternzeit von Vätern die Grundlage für ein gleichberechtigtes Familienleben und für eine faire Verteilung der Aufgaben – sofern sie nicht auf einer mehrwöchigen gemeinsamen Reise, sondern im heimischen Alltag mit der vollen Verantwortung für die Care- und Hausarbeit verbracht wird. Denn so können auch Mütter Karriere machen und Väter wertvolle Zeit mit der Familie verbringen und wichtige Fürsorgearbeit leisten.
Immer noch sind 72,6 Prozent der Mütter in Teilzeit tätig, aber und nur 6,9 Prozent der Väter. Ein riesiges Ungleichgewicht in der bezahlten Erwerbsarbeitszeit und somit auch in der Aufteilung von Haus- und Carearbeit entsteht. Und wer mehr Zeit für unbezahlte Arbeit aufbringt, steckt langfristig in der Karriere zurück. Nicht nur die Verantwortung für Aufgaben, auch die mentale Last, an alles denken zu müssen, braucht wertvolle Ressourcen – und diese stehen dann nicht mehr im Berufsleben zur Verfügung. Daher ist es wichtig, sich möglichst früh bewusst zu machen, welche Aufgaben in der Familien- und Hausarbeit anfallen, und diese akribisch aufzuteilen: Ich empfehle, aufzuschreiben, wie häufig einzelne Aufgaben erledigt werden und wie lange sie dauern. Dazu kann auch ein fiktiver Stundenlohn vergeben werden. So lässt sich schwarz auf weiß festhalten, welche finanzielle Leistung hinter der Care- und Hausarbeit steckt.
Wer familienfreundliche Karriere will, muss berufliches Selbstbewusstsein entwickeln und sich erfolgreich positionieren. Mütter tun sich noch viel zu oft schwer damit, ihre Kompetenzen, Stärken und Qualifikationen selbstbewusst nach außen zu tragen. Hinzu kommen Vorurteile und Diskriminierung von Elternschaft auf dem Arbeitsmarkt. Ich rate Eltern dazu, sich Klarheit darüber zu verschaffen, welchen Wert sie als Arbeitskraft mitbringen. Familiäre und soziale Kompetenzen tragen einen immensen Wert in die Arbeitswelt, es sind wesentliche Karrierebausteine und in einigen Unternehmen werden sie schon ganz bewusst als Grundlage für Führungstätigkeiten vorausgesetzt – darüber sind Eltern sich meist gar nicht bewusst. Es ist hilfreich, sich wertschätzendes Feedback von (ehemaligen) Kolleg*innen, Dozent*innen, Mentor*innen oder Freund*innen zu holen und die Erkenntnisse in Verhandlungen mit dem Arbeitgeber einfließen zu lassen. Und ein Jobtagebuch hilft, sich die eigenen Leistungen bewusst zu machen und zu dokumentieren – eine perfekte Grundlage für Entwicklungsgespräche und Gehaltsverhandlungen oder für den Schritt auf das nächste Karrierelevel.
Netzwerken ist das A und O
Um die eigene Karriere auch nach der Familiengründung nachhaltig zu gestalten und weiterzuentwickeln ist es wichtig, sich ein starkes Netzwerk aufzubauen. Von einzelnen Seilschaften und Entscheidungsträger*innen abhängig zu sein, ist riskant. Immerhin bekommen 25 Prozent der Frauen nach der Elternzeit ihre alte Position nicht zurück. Daher sollten Mütter auf ein gutes, familienfreundliches Netzwerk bauen und unbedingt den verdeckten Stellenmarkt und ihre Netzwerke nutzen. Nur ein Drittel aller Jobs wird ausgeschrieben, aber 95 Prozent aller Bewerbenden schauen ausschließlich nach Stellenanzeigen. Viel effektiver ist es, über den verdeckten Stellenmarkt an wertvolle neue Kontakte zu kommen und Jobangebote zu erhalten, die man entsprechend der eigenen familiären Bedarfe und beruflichen Ziele mitgestalten kann. Netzwerke wie LinkedIn sind sehr gut geeignet, um sich erfolgreich zu positionieren, sich branchenübergreifend mit spannenden Menschen zu vernetzen und um zielgerichtet Informationen zu familienfreundlichen Unternehmen und Jobs zu finden.
Buchtipp:
Es geht nur gemeinsam!
Mit ihrer Streitschrift zeigt Soziologin Jutta Allmendinger, wo wir in Sachen Gleichberechtigung stehen – und was passieren muss, damit es endlich vorwärts geht statt weiter rückwärts. Denn durch Corona wurde eine Retraditionalisierung angestoßen, die für Frauen nachteilig ist. Allmendinger gibt einen klaren Fahrplan zu verschiedenen Zielen wie der Angleichung der bezahlten und unbezahlten Arbeit zwischen Frauen und Männern oder einem höheren Anteil von Frauen in Führungspositionen. Wissenschaftlich basiert, dabei leicht lesbar – ein Augenöffner und eine wunderbare Argumentationshilfe. Jutta Allmendinger: Es geht nur gemeinsam! Wie wir endlich Geschlechtergerechtigkeit erreichen. Ullstein 2021. 12,00 Euro
Sie kämpften in einer männlich dominierten Gesellschaft für ihre Überzeugungen, setzten sich an die Spitze der technischen und künstlerischen Innovation und prägten den Verlauf der Geschichte mit ihren Ideen. In unserer Pionierinnen-Reihe stellen wir Frauen vor, die mit ihrem Mut und ihrem Durchsetzungsvermögen den Weg zur Gleichberechtigung geebnet haben. Und diesmal blicken wir nicht weit in die Vergangenheit, sondern auf Pionierinnen unserer Zeit. Von Kerstin Neurohr
Maren Kroymann (*1949) – Schauspielerin, Kabarettistin und Sängerin
Sie war die erste Frau, die im deutschen Fernsehen eine Satire-Sendung bekam, und eine der ersten Frauen der Medienbranche, die sich als lesbisch outeten. Doch von vorne: Maren Kroymann wuchs in Schwaben auf, in einem intellektuellen Elternhaus – beide Eltern sind Altphilologen – und mit vier Brüdern. Sie lernte Klavierspielen, Ballett tanzen und sang im Kinderchor. Nach dem Abitur ging sie für ein Jahr in die USA, wo sie ein Frauencollege besuchte, Schauspielunterricht nahm und zum ersten Mal auf der Bühne stand, dann studierte sie in Tübingen und Berlin Amerikanistik, Anglistik und Romanistik, sang im Hanns Eisler Chor und engagierte sich in linken Bündnissen. 1982 präsentierte sie ihr Programm „Auf du und du mit dem Stöckelschuh“ und wurde prompt für das Fernsehen entdeckt, bekannt wurde sie dann durch die Serie „Oh Gott, Herr Pfarrer“. Als erste Frau im öffentlich-rechtlichen Fernsehen bekam Maren Kroymann 1993 ihre eigene Satiresendung: Nachtschwester Kroymann, im gleichen Jahr outete sie sich als lesbisch. Sie spielte in zahlreichen Kino- und Fernsehfilmen, sie ist Kabarettistin, Comedian (ihre Satiresendung „Kroymann“ läuft seit 2017 in der ARD), Sängerin, Entertainerin – „sowohl als auch“ ist eher ihr Ding als „entweder oder“.
WDR/Radio Bremen/Joseph Strauch
In Kroymann wirft Maren Kroymann zusammen mit Annette Frier und wechselnden Partner*innen einen satirischen Blick auf Frau und Mann, auf Alt und Jung, auf Politik und Gesellschaft. Das Sketch- Comedy-Format wurde ausgezeichnet mit dem Deutschen Fernsehpreis und hat bereits zwei Grimme-Preise erhalten, Staffel 3 und 4 sind nominiert für den 57. Grimme- Preis 2021, der am 11. Mai 2021 verliehen wird. Die Folgen sind in der ARD Mediathek abrufbar.
Sabine Töpperwien (*1960) – Sport-Journalistin
Sie ist DIE Radio-Stimme der Bundesliga und war die erste Frau, die live aus einem deutschen Fußballstadion berichtet hat: Beim EM-Halbfinale der Frauen 1989 spielte Deutschland gegen Italien, und am Mikro saß Sabine Töpperwien. Im gleichen Jahr kommentierte sie erstmals ein Bundesliga-Spiel – für einige Männer der Fußballwelt ein Skandal. Aber Sabine Töpperwien hat sich durchgesetzt. Heute, 30 Jahre nach ihrem Debut, hat sie von über 700 Spielen aus dem Stadion berichtet, außerdem von 12 Olympischen Spielen. Sie hat ab 2001 die WDR-Sportredaktion Hörfunk geleitet, bei der Fußball-WM 2006 in Deutschland war sie Teamchefin Hörfunk der ARD. Ursprünglich stammt Töpperwien aus dem Harz, ihre Familie war sportbegeistert und nahm sie früh mit ins Stadion, der ältere Bruder Rolf war ebenfalls Sportreporter. Sie studierte Sozialwissenschaften, Publizistik und Sport in Göttingen und schrieb ihre Diplomarbeit über Fußball, anschließend ging sie zum NDR und legte dort den Grundstein für ihre journalistische Karriere. Das Angebot, sie zur Expertin für rhythmische Sportgymnastik zu machen, lehnte sie entschieden ab und beharrte auf ihrer Begeisterung für den Fußball. Nun hat sich Sabine Töpperwien vom Mikro verabschiedet: Im Februar ging sie aus gesundheitlichen Gründen in den vorzeitigen Ruhestand.
Seit dem 20. Januar ist sie Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten – die erste Frau, die es in diese Spitzenposition geschafft hat. „Madam Vice President“, das ranghöchste Kabinettsmitglied nach Präsident Joe Biden, wuchs in Kalifornien und Kanada auf. Ihre Mutter war Brustkrebsforscherin und stammte aus Indien, ihr Vater war Wirtschaftsprofessor und kam aus Jamaika – sie trennten sich, als Kamala Harris sieben Jahre alt war. Maya Harris, ihre jüngere Schwester, leitete den Präsidentschaftswahlkampf. Kamala Harris ist Juristin (hat aber auch einen Bachelor in Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaft). Sie machte Karriere als Staatsanwältin – galt als klug und ehrgeizig, war häufig umstritten, und ganz oft war sie die Erste: die erste weibliche Bezirksstaatsanwältin von San Francisco, die erste weibliche und die erste schwarze Attorney General von Kalifornien (quasi eine Kombination aus Justizministerin und Generalstaatsanwältin). „While I may be the first, I won’t be the last”, sagte Harris nach ihrer Wahl – sie ebnet den Weg für andere Frauen, wie es Pionierinnen eben tun.
Buchtipp:
Kamala Harris: Der Wahrheit verpflichtet: Meine Geschichte – die Autobiographie. Siedler 2021. 22 Euro
Özlem Türeci (*1967) – Impfstoff-Entwicklerin
Eigentlich hatte sie es sich zur Mission gemacht, die Krebstherapie zu revolutionieren. Als sie Anfang 2020 von einem Virus Sars-CoV-2 – dem Corona-Virus hörte, ließ sie die Arbeit liegen und machte sich daran, einen Impfstoff zu entwickeln. Özlem Türeci arbeitet gemeinsam mit ihrem Mann Uğur Şahin, die beiden sind Gründer der Firma Biontech mit Sitz in Mainz. Das Ende der Geschichte ist bekannt: Im November 2020 konnten die beiden den Durchbruch bekannt geben, ihr Impfstoff schützt zu mehr als 90 Prozent, und im Dezember wurden in Deutschland die ersten Menschen geimpft.
Özlem Türeci ist eine Ausnahmeforscherin: Überaus klug, überaus ehrgeizig. Sie wurde in Deutschland geboren, ihre ersten vier Lebensjahre verbrachte sie bei den Großeltern in Istanbul, dann lebte sie in Norddeutschland, wo ihr Vater als Chirurg arbeitete. Zum Medizinstudium ging sie nach Homburg im Saarland, dort lernte sie ihren späteren Mann Uğur Şahin kennen, mit dem sie eine Tochter hat. Ihr Weg führte sie dann nach Mainz, wo sie habilitierte und als Privatdozentin tätig war. Mit ihrem Mann gründete sie zuerst das Unternehmen Ganymed Pharmaceuticals, das später an einen japanischen Konzern verkauft wurde, und dann Biontech. Im März 2021 erhielten Özlem Türeci und Ugur Sahin das Bundesverdienstkreuz. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier würdigte den Impfstoff als „Dienst an der Menschheit“.
Sie spielt Tennis auf Weltklassenniveau, moderiert im Fernsehen, und nun ist ihr literarisches Debüt erschienen: Andrea Petković erzählt aus ihrem Leben, von ihrer Karriere, ihrer Liebe zu Musik und Büchern – und das alles so schlau und lustig, dass auch diejenigen, die mit Tennis nichts am Hut haben, in ihren Bann gezogen werden. Außerdem hat sie den Racquet Book Club gegründet, in dem Literaturliebhaber*innen über Bücher diskutieren. Andrea Petković: Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht. Erzählungen. Kiepenheuer & Witsch 2020. 20,00 Euro www.instagram.com/racquetbookclub
Plädoyer für gegenseitiges Verständnis
Die Schriftstellerin Elif Shafak gilt als eine der bedeutendsten Stimmen für Gleichberechtigung und freiheitliche Werte in Europa. Ihr neues Buch ist ein Plädoyer dafür, dass wir uns endlich gegenseitig Gehör schenken sollen. So ließen sich Demokratie, Einfühlungsvermögen und der Glauben an eine bessere Zukunft fördern. Elif Shafak: Hört einander zu! Kein & Aber 2021. 12,00 Euro
Die Deichtorhallen Hamburg zeigen auf vier Stockwerken der Sammlung Falckenberg die bisher größte Einzelausstellung der Fotografin Katharina Sieverding. Die Künstlerin gilt als Pionierin der Fotokunst, sie hat bereits im Museum of Modern Art in New York und der Nationalgalerie in Berlin ausgestellt. In Hamburg werden 120 Arbeiten von Katharina Sieverding zu sehen sein, aus allen Werkphasen der Künstlerin: Von den frühen großformatigen Fotografie-Montagen der 1960er-Jahre über die bildgewaltigen Selbstporträt-Serien und filmischen Werke der 1970er bis 1990er-Jahre bis hin zu gegenwärtigen Produktionen (darunter auch neue, bislang ungezeigte Arbeiten). Die Ausstellung geht vom 14. März bis 25. Juli 2021.
Komponistinnen für jede Persönlichkeit
Mozart, Beethoven und Bach – wunderbar, aber was ist mit den weiblichen Superstars der Musik? VAN, ein Webmagazin für klassische Musik, porträtiert 250 Komponistinnen, über 70 Porträts sind bereits erschienen, wöchentlich wird ein weiteres veröffentlicht. Und damit man die Komponistin findet, die am besten zur eigenen Persönlichkeit passt, gibt es den „Komponistin-O-Mat“: Da klickt man sich durch neun Fragen, und am Ende wird die passende Komponistin genannt, dank Youtube-Einbindung kann man direkt ein Stück von ihr hören. Ein witziges Tool, das den musikalischen Horizont erweitert.
Die Realität des Risikos
Es gibt kein Leben ohne Risiko schreiben Nathalie Weidenfeld und ihr Mann Julian Nida-Rümelin in ihrem Buch, das sich natürlich auch mit den Gefahren durch Corona auseinandersetzt. Sie fragen danach, welche Risiken wir bereit sind zu tragen und welche nicht, wogegen wir uns schützen können und um welchen Preis. Nathalie Weidenfeld, Julian Nida-Rümelin: Die Realität des Risikos. Über den vernünftigen Umgang mit Gefahren. Piper 2021. 24,00 Euro
Mammutproduktion über Frauen in der Weltgeschichte
NAME HER. Eine Suche nach den Frauen+ ist eine Theaterproduktion von Marie Schleef, die 2020 am Ballhaus Ost in Berlin uraufgeführt wurde – siebeneinhalb Stunden (!) dauert die „archäologische Mission einer alternativen Geschichtsschreibung aus weiblicher* Sicht“. Ein lebendiges Wissens-Triptychon aus Youtube-Schnipseln, Gewinnspielen, Reenactments, getanzten mathematischen Formeln – und den Lücken derjenigen Quellen, die endgültig verschollen sind. Das Stück wurde zum Festival Theatertreffen eingeladen, das im Mai 2021 in Berlin stattfindet.
Schluss mit der Anpassung, her mit dem wilden Leben!
Glennon Doyle war Bestseller-Autorin, christliche Bloggerin, Ehefrau und Mutter dreier Kinder – erfolgreich, angepasst und im Grunde unzufrieden. Als sie sich eines Tages Hals über Kopf in die Profi-Fußballerin Abby Wambach verliebte, brach sie aus ihrem Leben aus. Sie verließ den Käfig und machte sich auf die Suche nach ihrem wilden, ungezähmten Ich, nach ihrem Glück. Darüber schreibt sie in ihrem Buch, einer anregenden und Mut machenden Mischung aus autobiographischem Bericht und Ratgeber, das zum New-York- Times- und Spiegel-Bestseller wurde. Glennon Doyle: Ungezähmt. Rowohlt 2020. 16,00 Euro
Momentaufnahmen aus New York
Früher schrieb sie auch für den karriereführer, heute lebt sie in New York – und schreibt immer noch: Ihr Buch USA 151 stillt unsere Reisesehnsucht in Corona-Zeiten. Gemeinsam mit Kai Blum, einem ebenfalls in New York lebenden Deutschen, hat sie 151 Momentaufnahmen aufgezeichnet, die die Vielfalt der USA zeigen: Von A wie Amtrak (abenteuerliche Zugreisen) über L wie Labor Day (der amerikanische Tag der Arbeit) bis Y wie Yard Sale (Flohmarkt im Vorgarten). Auf jeweils einer Doppelseite mit Bild werden die Themen knackig, informativ und unterhaltsam aufbereitet. Kai Blum und Petrina Engelke: USA 151. Das Land der unbegrenzten Überraschungen in 151 Momentaufnahmen. Conbook 2020. 16,95 Euro
Bewegende Familiengeschichte
Esther Safran Foer, die Mutter des Bestsellerautors Jonathan Safran Foer (Alles ist erleuchtet), schreibt über die bewegende Geschichte ihrer Familie: Als sie von ihrer Mutter erfährt, dass ihr Vater eine Frau und eine Tochter hatte, die im Holocaust ermordet wurden, macht sie sich auf die Suche. Sie reist in die Ukraine, trifft Zeitzeugen und erfährt mehr über ihren Vater und ihre Halbschwester. Ein Buch über das Geschichtenerzählen, das Erinnern und gegen das Vergessen. Esther Safran Foer: Ihr sollt wissen, dass wir noch da sind. Kiepenheuer & Witsch 2020. 22,00 Euro
Wie kommt man eigentlich in den Weltraum? Und warum waren dort bisher so wenige Frauen? Sabine Olschner sprach mit Claudia Kessler, Geschäftsführerin der Astronautin GmbH.
Warum haben Sie die Stiftung „Die Astronautin“ und die dazugehörige GmbH gegründet? Die Idee entstand 2014, als es um den deutschen Astronauten Alexander Gerst so einen Medienrummel gab. Ich dachte mir: Es wäre doch toll, wenn nach elf deutschen Männern nun endlich auch einmal eine deutsche Frau ins All fliegen würde. Ich sprach mit Raumfahrtagenturen und anderen Leuten aus der Branche, und alle sagten: Ja, das wäre toll, aber es gibt ja in Deutschland keine Frau, die dafür geeignet ist. Also habe ich die Stelle der ersten deutsche Astronautin ausgeschrieben – und erhielt 400 Bewerbungen. Mit einem Crowdfunding haben wir Geld gesammelt, um das privat organisierte und finanzierte Basistraining der zwei Astronautinnen zu finanzieren, die wir ausgewählt hatten. Sie durchliefen unter anderem Tauchsimulationen für Unterwassermondmissionen, machten den Flugschein und nahmen an Parabelflügen teil. Wir hoffen, dass spätestens im nächsten Jahr eine der beiden ins All fliegen wird.
Claudia Kessler, Geschäftsführerin der Astronautin GmbH, Foto: Jörg Klampäckel
Was muss ich denn tun, um Astronautin zu werden? Zunächst einmal müssen Sie mutig genug sein, um sich vorzustellen, dass Sie sich auf 300 Tonnen Treibstoff setzen. Neben Neugier und Entdeckergeist braucht es zudem die richtige Mischung aus Teamfähigkeit und Leadership- Qualitäten. Astronauten und Astronautinnen arbeiten schließlich sehr lange auf sehr engem Raum im Team zusammen und müssen gleichzeitig in der Lage sein, in schwierigen Situationen schnell Entscheidungen zu fällen und sie dann auch durchzuziehen. Hinzu kommen Stressresistenz, ein schnelles Aufnahmevermögen, Reaktionsgeschwindigkeit und eine gute Kondition. Es ist hilfreich, wenn man Sportarten wie Fallschirmspringen, Drachenfliegen oder Tauchen betreibt, um zu wissen, wie der eigene Körper in verschiedenen Umständen reagiert. Und natürlich ist ein technisches Studium Pflicht. Normalerweise werden zudem drei bis fünf Jahre Berufserfahrung bei der ESA gefordert. Die Kandidaten und Kandidatinnen sollen schon mit beiden Beinen im Leben stehen und sich im Berufsalltag bewiesen haben.
Warum sollten Ihrer Meinung nach überhaupt Frauen ins Weltall fliegen? Weil Frauen genauso viel können wie Männer. Und weil im Weltall genauso wie auf der Erde gemischte Teams einfach besser funktionieren: Sie sind kreativer und finden mehr Lösungen als einseitige Teams. Gerade im All braucht man in vielen Situationen eine hohe Problemlösungskompetenz. Wenn man längerfristig denkt, Richtung Mars-Mission und Besiedelung anderer Planeten, dann ist klar, warum Frauen auch ins All fliegen sollen. Denn wenn es um Nachwuchs geht, ist das bisher ein Thema, das nur Frauen lösen können. Um dafür Vorbereitungen zu treffen, braucht man medizinische Daten von Frauen. In den vergangenen 50 Jahren hat man fast nur medizinische Daten von Männern gesammelt. Und vieles, was man über den Körper des Menschen im All lernt, lässt sich in der Medizin auf der Erde anwenden.
Was sind weitere Aufgaben von „Die Astronautin“? Unsere Stiftung hat in Zusammenarbeit mit Google und dem Fraunhofer Institut das Bildungsprogramm Code4Space aufgelegt, in dem wir Kinder und vor allem Mädchen für die Raumfahrt begeistern wollen. Schulklassen wurden dazu aufgerufen, Vorschläge für ein Experiment zu machen, das die erste deutsche Astronautin auf ihrer Mission durchführen soll. Die Astronautin GmbH hat sich zu einem Raumfahrt-Start-up weiterentwickelt. Wir wollen die Inhalte aus dem Astronautentraining in den Alltag transferieren und Trainingsprogramme für Frauen entwickeln. Denn unser Ziel ist es nicht nur, die erste deutsche Frau ins All zu bringen, sondern grundsätzlich Frauen an die Spitze von Wirtschaft und Gesellschaft. „Die Astronautin“ hat eine ganz starke Vorbildfunktion, nicht nur für mehr Mädchen in Technik, sondern auch als Coach für Frauen in technischen Berufen. Uns wurde ganz oft gesagt, dass das, was wir tun, unmöglich ist. Wir haben es trotzdem gemacht.
Mengting Gao ist Gründerin und CEO von Kitchen Stories, einer videobasierten Kochplattform mit Millionen von Nutzer*innen weltweit. Sie wurde in China geboren, ist im Ruhrgebiet aufgewachsen, hat an der WHU – Otto Beisheim School of Management studiert und bei Boston Consulting, der Deutschen Bank sowie mehreren Start-ups Berufserfahrung gesammelt. Die Fragen stellte Kerstin Neurohr
Über 20 Millionen User*innen in 150 Ländern haben die App Kitchen Stories installiert. Wie haben Sie das geschafft? Entscheidend für den Erfolg war vor allem eines: Durchhaltevermögen. Kitchen Stories war unser erstes Unternehmen, und natürlich haben wir viele Fehler gemacht und standen oft vor Herausforderungen. Aber wir haben immer wieder an unserer Leidenschaft und diesem Traum festgehalten und irgendwie einen Weg gefunden, weiter zu machen. Eine Herausforderung war, dass wir uns nicht an bestehenden Plattformen oder Geschäftsmodellen orientiert haben, sondern ein eigenes Monetarisierungsmodell entwickelt haben. Und wir haben direkt aus der Universität heraus gegründet. Sowohl meine Gründungspartnerin Verena als auch ich hatten entsprechend nur Arbeitserfahrung als Praktikantinnen gesammelt, aber noch nie Mitarbeiter*innen geführt. Das mussten wir definitiv on the job lernen. Die vielen „Hands-on”-Erfahrungen, die ich in anderen jungen Start-ups als Praktikantin sammeln durfte, waren für mich enorm hilfreich. Das kann ich auf jeden Fall empfehlen!
Kitchen Stories ist international aufgestellt. Wie funktioniert das – die kulinarischen Vorlieben sind doch überall unterschiedlich? Bereits zum Launch unserer App haben wir die ersten 100 Rezepte mit Fokus auf internationale Küche entwickelt. Essen und Esskultur wird heutzutage immer globalisierter, ob Pancakes, Coq au Vin oder Cheesecake – diese Gerichte findet man in vielen Teilen der Welt. Wir möchten eine Plattform schaffen, auf der sich Menschen aus allen Kulturen über Rezepte und Kochmethoden unterhalten können. Ja, die Vorlieben sind definitiv unterschiedlich, aber gerade das macht es so spannend. Und natürlich gibt es dann auch mal hitzige Diskussionen darüber, was denn nun eine klassische Lasagne eigentlich ausmacht.
Kitchen Stories: Anyone Can Cook. Unsere liebsten Gerichte für jeden Tag. Das Kochbuch mit vielen exklusiven Rezepten. Penguin 2020. 26 Euro.
Die Start-up-Welt ist männlich dominiert, bei weniger als jedem sechsten Start-up in Deutschland steht eine Frau an der Spitze. Was meinen Sie, woran liegt das? Frauen kommen nach wie vor seltener mit dem Thema Gründung in Berührung. Ihnen fehlt oftmals der frühe Zugang, sowie die Vorbilder, an denen sie sich orientieren können. Das müssen wir definitiv ändern. Aus eigener Erfahrung kann ich nur sagen, dass der enge Austausch mit anderen Unternehmer*innen mir damals den Mut gegeben hat, selbst zu gründen. Und Gründerinnen haben auch Vorteile: Es gibt derzeit sehr viel mediale Aufmerksamkeit bei diesem Thema. Entsprechend einen Zugang zu ersten Investoren zu bekommen, kann dadurch (aktuell) einfacher sein.
Ihre Mitgründerin Verena Hubertz hat Kitchen Stories mittlerweile verlassen und kandidiert um einen Sitz im Bundestag. Was sind Ihre Pläne oder Träume? Ich werde wohl immer im Herzen Unternehmerin sein. Neben meiner Tätigkeit bei Kitchen Stories bin ich auch als Business Angel aktiv und sitze im Investment Advisory Committee von EQT Ventures. So kann ich beobachten, wie neue Start-ups entstehen. Da spüre ich schon immer wieder auch den Drang, neue Unternehmen zu gründen.
Zum Schluss: Ihr Rezepttipp für unsere Leser*innen? Wenn es schnell gehen muss, empfehle ich definitiv ein Gericht aus unserer Serie „Abendessen mit 5 Zutaten ”. Sehr beliebt ist die Süßkartoffel-Linsensuppe, welche wirklich im Handumdrehen fertig ist! Um das Date zu beeindrucken, würde ich zu unserem Salmon Wellington raten, ein Lachsfilet mit Spinat im Blätterteig. Es ist eine super einfache und leckere Alternative zum klassischen Filet Wellington.
Künstliche Intelligenz (KI) wird von Menschen für Menschen gemacht. In den Unternehmen gehört sie immer häufiger zum Alltag. Das führt zu ethischen Fragestellungen. Wie zum Beispiel kann verhindert werden, dass einer KI die gleichen Vorurteile und Diskriminierungen eingepflanzt werden, gegen die wir in der Gesellschaft kämpfen? Und kann die KI dabei helfen, diese Ungerechtigkeiten aufzudecken?
Künstliche Intelligenz (KI) wird von Menschen für Menschen gemacht. In den Unternehmen gehört sie immer häufiger zum Alltag. Das führt zu ethischen Fragestellungen. Wie zum Beispiel kann verhindert werden, dass einer KI die gleichen Vorurteile und Diskriminierungen eingepflanzt werden, gegen die wir in der Gesellschaft kämpfen? Und kann die KI dabei helfen, diese Ungerechtigkeiten aufzudecken? Ein Essay von André Boße
Das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz hat begonnen – und es lässt sich auch durch die Pandemie nicht aufhalten. Und das internationale Marktforschungsunternehmen Gartner hat in einer Untersuchung herausgefunden, dass fast die Hälfte der befragten Unternehmen trotz Corona an den Investitionen im Bereich KI festhalten wird, drei von zehn wollen diese sogar noch erhöhen. Wohlwissend, dass die Pandemie die Herausforderungen von morgen noch verschärft und es sich auszahlen wird, jetzt in die Zukunft zu investieren. Denn in dieser wird KI eine immens große Rolle spielen, da sind sich die Unternehmen ziemlich einig: Laut einer Analyse der Beratungsgesellschaft PwC glauben 85 Prozent der Befragten, dass die KI das Business in den kommenden fünf Jahren signifikant verändern wird. Und zwar – und diese Aussage hat es in sich – stärker noch als seinerzeit der Wandel durch das Internet. Worauf es nun ankomme? Den „Skills Gap“ zu füllen, wie die Experten bei PwC in ihrem Report schreiben. Dabei gehe es nicht nur darum, KI- und Daten-Spezialisten zu finden. „Genau so wichtig ist es, die Mitarbeitenden zu qualifizieren, damit sie KI-Systeme anwenden können“, heißt es im Report.
Die KI ist also bald überall zu finden, auf den Shopfloors und im Office, im Vertrieb und in der Abteilung Human Ressources. Sie ist überall dort, wo Menschen im Unternehmen tätig sind. Nicht um sie zu ersetzen, sondern um sie bei ihrer Arbeit zu unterstützen, sie zu entlasten, ihnen Freiräume zu geben. Was dazu führt, dass man sich genau anschauen muss, welche Wechselwirkungen zwischen KI und Mensch entstehen. Denn klar ist: Es ist der Mensch, der die KI mithilfe des Maschinellen Lernens intelligent macht. Der Mensch mit seinen Vorurteilen. Seinem Weltbild. Angenommen also, eine von weißen Männern dominierte Tech-Company entwickelt ein KI-System, zum Beispiel eines zur Gesichtserkennung: Muss man dann nicht davon ausgehen, dass dieses System den Bias der Entwickler – also die einseitige und damit verfälschte Sicht auf die Welt – übernimmt? Zum Beispiel auch rassistische Vorurteile, die, wenn auch unterbewusst, in die Künstliche Intelligenz eingetragen werden?
KI per se ungerecht?
Wenn Menschen eine KI programmieren – besitzt diese dann automatisch einen rassistischen Bias? Lorena Jaume-Palasí stimmt zu. Die Politikwissenschaftlerin bewegt sich als Beraterin und Wissenschaftlerin im Spannungsfeld zwischen digitaler Technik und Ethik, als Sachverständige ist sie für das Europäische Parlament und die Europäische Kommission tätig. Ihre These: „Die Programme sind automatisch rassistisch, weil die Gesellschaft, in der wir leben rassistisch ist.“ Rassismus sei ein strukturelles Problem unserer westlichen Gesellschaft. „Die Künstliche Intelligenz spiegelt die Ausgangslagen, Selbstverständlichkeiten und Regeln der Kultur, aus der heraus sie entsteht.“
Deutsche vertrauen KI in High-Tech
Laut des Reports „KI-Zukunftskompass“ von Bosch befürworten mehr als zwei Drittel der Deutschen KI-basierte Lösungen bei der Fehlerdiagnose von Maschinen, bei der industriellen Produktion von Waren und Maschinen sowie in der Raumfahrt und anderen High-Tech-Bereichen. Hier sei das Vertrauen in die Möglichkeiten der KI vonseiten der Bevölkerung bereits groß. In Einsatzgebieten, die eher mit Menschenkontakten zu tun haben, etwa in der Krankenpflege oder bei der finanziellen Anlageberatung, seien die Zustimmungsraten für den KI-Einsatz laut Studie mit 40 Prozent bzw. 31 Prozent deutlich geringer.
KI ist also nie neutral, alle ethischen Probleme der Gesellschaft finden sich in ihr wieder. Auch Rassismus und Diskriminierung. Was aber nicht heißt, dass die KI nicht helfen kann, dagegen anzukämpfen. „Wenn wir Künstliche Intelligenz dazu bringen, das, was passiert, zu beschreiben, dann kann sie für uns Diskriminierungsmuster offenlegen, die sich unserem Auge entziehen“, sagt Lorena Jaume-Palasí. Wenn die Menschen die Daten richtig interpretieren, dann könnten mit ihrer Hilfe Asymmetrien gezeigt werden, „von denen wir gar nicht wussten, dass sie existieren. Wir sollten daher davon ausgehen, dass Künstliche Intelligenz tatsächlich weniger Antworten gibt, als dass sie uns dabei hilft, neue Fragen zu stellen.“
Transparenz schafft Vertrauen
Wenn heute also verstärkt KI-Systeme in der Praxis in den Unternehmen oder auch im gesellschaftlichen Leben eingesetzt werden, dann ist es wichtig, transparent zu machen, wie das Maschinelle Lernen vonstatten geht. Studien zeigen, dass die Menschen bislang durchaus Vertrauen in KI-Lösungen haben. Der „KI-Zukunftskompass“ des Technologiekonzerns Bosch zum Beispiel hat bei einer Befragung festgestellt, dass 53 Prozent der Deutschen den Einsatz von KI positiv, 36 Prozent eher negativ einschätzten. Dabei gelte: Je mehr die Menschen über diese Technik und ihre Methoden wissen, desto größer ist das Vertrauen. „So bewerten 81 Prozent aller Befragten, die sich selbst als technologieaffin und informiert einschätzen, Künstliche Intelligenz als grundsätzlich positiv. In der Gruppe derjenigen, die sich selbst für weniger techniknah und eher weniger informiert halten, sind es 27 Prozent.“ Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz wird umso positiver bewertet, je größer Vorwissen und Vertrautheit sind. Entsprechend wichtig sind Informationen und Transparenz, gerade mit Blick auf die ethischen Grundprinzipien.
KI-Ethik-Label soll Orientierung geben
Woran jedoch lässt sich erkennen, ob und welche Standards bei der Programmierung eingesetzt wurden? Die AI Ethics Impact Group, ein 2019 gegründetes interdisziplinäres Konsortium unter Leitung des Verbands der Elektrotechnik, Elektronik, Informationstechnik (VDE) und der Bertelsmann Stiftung, hat dazu das Konzept eines KI-Ethik-Labels entwickelt, das optisch bewusst Bezug auf die Energieeffizienz-Label nimmt. Die Gruppe hat für den Report „From Principles to Practice“ sechs ethisch relevante Eigenschaften von KI-Systemen definiert: von der Transparenz über die Gerechtigkeit bis hin zur umweltbezogenen Nachhaltigkeit. Ob und welches KI-Ethik-Label ein Produkt oder eine Dienstleistung erhält, entscheidet sich anhand eines Modells, das die ethischen Werte messbar machen soll.
Nur wenige fürchten den Arbeitsplatzverlust durch Einsatz Künstlicher Intelligenz
Im November 2020 ging es im Rahmen des Meinungsmonitors Künstliche Intelligenz [MeMo:KI] um die Frage: Wie nimmt die Bevölkerung den Einfluss von Künstlicher Intelligenz auf die Arbeitswelt wahr? Demnach erwarten die Bürger*innen mittelfristig nur wenig Veränderung im eigenen Arbeitsumfeld. Diejenigen, die Veränderungen erwarten, unterscheiden deutlich zwischen verschiedenen Aspekten des Arbeitslebens: Während hinsichtlich des Arbeitsschutzes, Anforderungen an notwendige Kompetenzen und Arbeitsbelastung der KI gute Chancen eingeräumt werden, erwarten die meisten Schwierigkeiten bei der Pflege sozialer Kontakte, der Einkommensentwicklung oder der Mitbestimmung am Arbeitsplatz. „Besonders große Befürchtungen gibt es hinsichtlich des Umgangs mit Daten und des Überwachungspotenzials am Arbeitsplatz. Einen Arbeitsplatzverlust für sich und Personen aus dem privaten Umfeld oder gar Massenarbeitslosigkeit befürchten aber nur die wenigsten“, so Studienleiter Prof. Dr. Frank Marcinkowski.
Eine weitere Entwicklung der AI Ethics Impact Group ist eine Risikomatrix, die zusätzlich differenziert, in welchen Bereichen ein KI-System welche potenziell gefährdende Wirkung erzeugen kann. Als Beispiel wird ein auf KI basierendes Online-Empfehlungssystem für Konsumenten genommen: Geht es hier um personalisierte Empfehlungen für Kleidung, sind kaum schwerwiegende ethische Implikationen für den Nutzer zu erwarten. Das ändert sich, wenn der Nutzer über das System Job-Angebote oder politische Werbung erhält. Bei Empfehlungen von medizinischen Produkten oder Therapien erreicht die Risikobewertung ein noch höheres Level: „Es ist klar, dass diese Systeme unterschiedlich behandelt werden müssen“, heißt es im Report.
KI-Roll-Out als Führungsaufgabe von morgen
Wer beim Thema der Künstlichen Intelligenz über Verantwortung und Ethik spricht, darf eines nicht vergessen: In den Unternehmen findet ein Roll-Out dieser Systeme gerade auf den unteren Ebenen statt. Zum Bespiel dort, wo die KI im Zusammenspiel mit dem „Industry Internet of Things“ für eine ganz andere Art der Arbeit sorgen wird. Es wird für Führungskräfte und KI-Spezialisten in den Unternehmen darauf ankommen, diese Systeme so in Anwendung zu bringen, dass die Menschen, die dort arbeiten, das Gefühl der Teilhabe erhalten. Diese Integration der KI in die bestehenden Arbeitsstrukturen wird eine zentrale Leadership-Aufgabe für den Führungsnachwuchs sein.
„KI-Debatten, die ausschließlich im Elfenbeinturm stattfinden, sind nutzlos“, heißt es dazu in einem Report des sozialpartnerschaftlichen Forschungsprojekts „Künstliche Intelligenz“, das in Kooperation von IBM, der Gewerkschaft Verdi sowie dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales entstanden ist. „Wenn KI-Anwendungen heute in Betrieben zum Einsatz kommen sollen, geht es um eine Vielzahl sehr realer Fragen und um den konkreten Anwendungskontext: Wie werden die Mitarbeiter*innen, die mit einer KI-Anwendung arbeiten werden, bei deren Implementierung einbezogen? Wie wirkt sich die KI-Anwendung auf die Arbeitssicherheit und den Arbeitsschutz aus? Welchen Effekt hat die KI-Anwendung auf die Arbeitszufriedenheit?“
Will die KI das Ziel erreichen, Menschen zu unterstützen, zu entlasten und für sie neue Freiräume zu erschaffen, dann müssen diese Leute von Beginn an Teil der Debatte sein. In den Unternehmen, wo Führungskräfte diese Diskussionsräume zur Verfügung stellen müssen. Aber natürlich auch in der Gesellschaft, wo KI-Systeme dafür sorgen können, dass Menschen besser mit Behörden interagieren, dass Unternehmen neue Geschäftsmodelle entwickeln, dass die Forschung unterstützt wird – und nicht zuletzt, dass die Künstliche Intelligenz dabei hilft, Diskriminierungen aufzudecken.
Förderinitiative „Künstliche Intelligenz – Ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft von morgen“
Welche Chancen bietet KI? Wo liegen Risiken? Und vor allem: Was bedeuten neue Technologien für die Gesellschaft – und für jeden Einzelnen? Zur Beantwortung dieser Fragen, die neben den technischen auch die ethischen, moralischen und normativen Folgen der Entwicklungen betrachten, muss auch die Wissenschaft beitragen. Damit Technik- und Gesellschaftswissenschaften hierfür ihre Kompetenzen bündeln, schafft die VolkswagenStiftung mit ihrer Förderinitiative „Künstliche Intelligenz – Ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft von morgen“ den Rahmen für interdisziplinäre Forschungsverbünde und ermöglicht durch die fachübergreifende Zusammenarbeit Perspektivwechsel, die neue Einsichten und Lösungsansätze eröffnen.
KI und die Zukunft der Arbeit
Wohin die Reise für KI gehen könnte, darüber sprach auch Dr. Kai-Fu Lee, CEO von Sinovation Ventures und Präsident des Artificial Intelligence Institute, im Februar 2021 im Rahmen der Digitalkonferenz DLD in seinem Vortrag „AI and the Post Work World“ – sein Beitrag wurde auf Youtube veröffentlicht. Darin zählt er vier KI-Wellen auf, die sämtliche Sektoren verändern werden. Stichwort: Disruption. Und alle vier Wellen – Internet AI, Business AI, Perception AI, also auf Wahrnehmung basierende KI, sowie Autonomous AI – wurden bereits ausgelöst. Sie werden in den kommenden Dekaden nicht nur die Unternehmen, sondern auch die Arbeit der Menschen verändern.
So prophezeit Kai-Fu Lee, dass sämtliche Jobs in den „Händen“ von Maschinen landen werden, in denen Standardaufgaben zu erledigen sind, die mit Routine zu tun haben und die auf Optimierung ausgelegt sind. Letzteres könnte beispielsweise Radiologen betreffen, da entsprechende Programme beispielsweise Röntgenbilder besser auswerten werden können als Menschen. Einzig jene Jobs, in denen es um die Kombination verschiedener Bereiche und Kreativität gehe, seien vorerst vor KI „sicher“. Was also tun? Abwarten sei keine Lösung, so Kai-Fu Lee. Sein Rat, der allerdings nicht neu ist, ist das lebenslange Lernen. Wir Menschen müssen uns, um auf die Zukunft vorbereitet zu sein, die Frage stellen: Was kann KI nicht? KI kann nicht kreativ sein und sie kann keine Konzepte entwickeln, KI kann weder Empathie noch Mitgefühl empfinden und sie kann keine komplexen physikalischen Arbeiten ausführen. Anpassung wird also für den Menschen laut seinen Ausführungen das Gebot der Gegenwart sein.
Buchtipp: Die Simulation
Unter den vielen Romanen und Sachbüchern über die Künstliche Intelligenz gehört „Die Simulation“ von Matthias Clostermann zu den besonders interessanten: Der Autor lässt seinen Protagonisten eine KI erfinden, die in der Lage ist, die wirkliche Welt lebensecht zu simulieren. Ist das endlich der Ausweg aus dem harten wahren Leben? Schon bald merkt der Held, dass diese Simulation erstens süchtig macht und zweitens nicht dazu führt, dass die wirklichen Probleme verschwinden. Im Gegenteil … Matthias Clostermann: „Die Simulation: Die perfekte Illusion. Die perfekte Droge.“ Books on Demand 2020, 11,99 Euro.
Dr. Philipp Hennig ist Professor für die Methoden des Maschinellen Lernens an der Universität Tübingen sowie Co-Sprecher von Cyber Valley, Europas größtem Forschungskonsortium im Bereich der KI mit Partnern aus Wissenschaft und Industrie. Im Interview erzählt er, warum sich die KI-Forschung für andere Wissenschaften öffnet und was uns die künstliche über die menschliche Intelligenz verrät. Zudem mahnt er davor, die weitere Entwicklung zu negativ zu betrachten: Ein wenig Vorfreude auf das, was KI leisten kann, täte Europa gut. Die Fragen stellte André Boße.
Zur Person
Philipp Hennig studierte ab 2001 in Heidelberg Physik, wo er das Studium 2007 mit dem Diplom abschloss. Danach ging er nach Cambridge, wo er am Lehrstuhl des Naturphilosophen und Universalgelehrten Sir David MacKay promovierte. Seine berufliche Karriere begann 2011 beim Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme in Tübingen, wo er vom Research Scientist zum Gruppenleiter aufstieg – und zwischendrin eine sechsmonatige Elternzeit einlegte. Seine Stelle als Professor der Uni Tübingen trat er 2018 an. Philipp Hennig ist darüber hinaus Co-Sprecher der Cyber Valley Initiative. Seine Lieblings-KI in der Science- Fiction ist Marvin, der „paranoide Androide“ aus Douglas Adams’ „Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“: „Er ist nach eigenen Angaben fünfzigtausendmal schlauer als ein Mensch. Das macht ihn aber nicht zu einer Bedrohung für die Menschen. Im Gegenteil: Man muss ihn von anderen Computern fernhalten, weil sie bei Herstellung einer Verbindung mit ihm ob der offensichtlich tiefgründigen Erkenntnis in Depression verfallen.“
Herr Dr. Hennig, können Sie sich noch an Ihren „Erstkontakt“ mit der Künstlichen Intelligenz erinnern? Für meine Physik-Diplomarbeit musste ich eine Simulation eines Elektronen-Mikroskops programmieren. Dabei stieß ich auf eine faszinierende Forschungsgemeinschaft, die sich damit beschäftigte, wie Computer-Modelle die Welt aus Daten lernen können. Damals war das noch eine Nische. Auf der ersten KI-Konferenz, die ich dann als Doktorand besuchte, waren 500 Leute – die meisten davon Doktoranden wie ich. Eine Gruppe von ihnen hatte eine Ferienwohnung gemietet und dort eine spontane Party organisiert. Danach kannte ich die halbe Konferenz. Zu derselben Veranstaltung fuhren vor der Pandemie übrigens zuletzt zehntausende Menschen.
Welches landläufige Vorurteil über Künstliche Intelligenz stört Sie am meisten? Es gibt eine Vorstellung, bei KI-Systemen handele es sich um magische, unkontrollierbare Automaten, die man irgendwo in die Steckdose stöpselt – und die dann so lange mit wachsendem Hunger Daten verschlingen, bis sie mehr wissen, als sie wissen sollen. In Wahrheit funktioniert die Künstliche Intelligenz aber ja nur, wenn ein intelligenter Mensch vor dem Computer sitzt. Lernende Maschinen sind Computerprogramme, die von Menschen geschrieben werden. Es ist zwar richtig, dass wir zum Erfolg dieser Maschinen auch Infrastruktur, Rechenkapazitäten und Zugang zu Daten brauchen. Mehr als alles andere jedoch brauchen wir gut ausgebildete junge Menschen, die nicht nur den jüngsten Hype mitbekommen, sondern die grundlegenden mathematischen Zusammenhänge verstanden haben.
Sie sind von Hause aus diplomierter Physiker. Warum ist eine klassische naturwissenschaftliche Ausbildung ein Vorteil, wenn man später tief in die KI einsteigen will? Ich beschreibe maschinelles Lernen, also die zeitgenössische Form der KI, gerne als die Mechanisierung der naturwissenschaftlichen Methode. Die klassische Rolle des theoretischen Physikers ist es ja, sich Reihen an Messdaten anzuschauen und darin Ordnung, Gesetze und Prinzipien zu erkennen, die sich dann auf eine Formel reduzieren lassen, mit der man die Ergebnisse zukünftiger Experimente vorhersagen kann. Lernende Maschinen machen genau das – nur, dass sie nicht auf eine Formel, sondern auf ein Computerprogramm reduzieren. Sie machen das nicht nur mit präzisen Labormessungen, sondern mit allen Daten, die unsere Gesellschaft beschreiben.
Ändert sich durch diesen Blick auf die KI die Informatik? Ja, sehr grundlegend. Die Informatik war früher das Feld der formalen Sprachen und abstrakten Muster. Mit KI sind die Daten zu einem zentralen Objekt geworden. Mit ihnen ist die ganze Komplexität, aber auch alles Wunderbare des Menschlichen in diesem technischen Feld angekommen. Ich rede heute mit den Studierenden in meinen Vorlesungen genauso über algorithmische Fairness, gesellschaftliche Verantwortung und Datenschutz wie über stochastische Prozesse und Funktionsräume. Und ich sehe mit Freude, dass diese neue Rolle der Informatik auch eine neue Generation an Studierenden anzieht, die sich nicht nur mit den althergebrachten Klischees des Computernerds identifizieren, sondern auch eine soziale Verantwortung verspüren. Auch deshalb würde ich heute vielleicht das Informatikstudium der Physik vorziehen.
In Bereichen wie Bild- und Spracherkennung ist der Durchbruch im Prinzip geschafft. In anderen Bereichen, wie dem autonomen Fahren, hat so mancher die Dynamik des Möglichen überschätzt.
Ihr Standort Tübingen wird im Rahmen des „AI Breakthrough Hub“ eine hohe Fördersumme erhalten. Warum ist Geld Geld ist vor allem wichtig, weil wir in Deutschland und Europa in einer enorm dynamischen internationalen Entwicklung große Anstrengungen unternehmen müssen, um überhaupt den Anschluss zu halten und unsere eigenen Chancen zu nutzen. Natürlich sind dazu auch Investitionen in Hardware nötig. Vor allem aber geht es darum, Orte zu schaffen, an denen motivierte junge Menschen eine Chance für sich und ihre Ideen sehen. Es geht da auch um die Erreichung einer kritischen Masse: Für die Promovierenden in meiner Gruppe ist es enorm wertvoll, auf unserem Campus zu fast jedem Teilund Anwendungsbereich der KI einen Experten zu finden, mit dem sie Fragen und Ideen schnell und kompetent diskutieren können. Übrigens gehören dazu nicht nur Informatiker, sondern auch Philosophen, Ethiker sowie Partner aus den angewandten Wissenschaften, die teils mit uns im selben Gebäude arbeiten. Kurze Wege und gebündeltes, breites Fachwissen – das sind die Zündfunken, aus denen eine Kettenreaktion entstehen kann.
Bezogen auf den Titel „AI Breakthrough Hub“, wie ist denn der Stand der Dinge, wann „bricht die KI denn durch“? In Bereichen wie Bild- und Spracherkennung ist der Durchbruch im Prinzip geschafft. In anderen Bereichen, wie dem autonomen Fahren, hat so mancher die Dynamik des Möglichen überschätzt. Da wird es wohl länger dauern als man zunächst erwartet hatte. Aber vielleicht eben auch nicht. Mit revolutionären Technologien scheint es ja oft so, dass Vorhersagen erst lange viel zu optimistisch – und dann ganz plötzlich veraltet sind. In jedem Fall aber liegen die wirklich umwälzenden Effekte dieser Technologie noch vor uns. Sie werden dabei aus Fortschritten bestehen, in denen KI als Katalysator im Hintergrund wirkt. Zum Beispiel mit einer Vielfalt an neuen aus großen Datenmengen gewonnenen medizinischen Erkenntnissen. Oder an neuen, mit KI-Suchverfahren entdeckten Materialien mit ungeahnten physikalischen Eigenschaften. Viele Menschen werden diese Fortschritte gar nicht als direkte Ergebnisse der KI wahrnehmen. Dennoch werden sie eher dort erzielt werden, wo Expertise in Datenanalyse und Modellierung leicht zu finden ist.
Vielleicht sollten wir uns weniger Gedanken darüber machen, ob uns die Maschinen irgendwann überlegen sein könnten, sondern uns darauf vorbereiten, dass sie uns die Banalität unserer eigenen „Intelligenz“ aufzeigen.
KI nimmt sich, grob gesagt, das menschliche Gehirn als Vorbild. Was haben Sie in diesem Feld zuletzt gelernt, was Sie wirklich nachhaltig erstaunt hat? In der jüngeren Vergangenheit sind vermehrt KI-Systeme wie der Textgenerator GPT-3 und der Bildgenerator DALL-E aufgetaucht, die mich, wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen, mit einer vermeintlichen „Kreativität“ überrascht haben. Bei genauerer Untersuchung kommt dann oft die Vermutung auf, dass diese Systeme, etwas herablassend gesagt, „nur“ zwischen unglaublichen Mengen an Trainingsdaten interpolieren. Aber wer sagt, dass menschliche Gehirne das nicht auch so machen? Manchmal habe ich die leise Ahnung, dass uns eine Art kopernikanische Wende in unserem Selbstbild bevorstehen könnte: Vielleicht sollten wir uns weniger Gedanken darüber machen, ob uns die Maschinen irgendwann überlegen sein könnten, sondern uns darauf vorbereiten, dass sie uns die Banalität unserer eigenen „Intelligenz“ aufzeigen.
Denken Sie, dass die künftigen Generationen bei Krisen wie der aktuellen Pandemie oder auch der Klimakrise auf die Hilfe von KI-Lösungen bauen können? Bislang hat die Pandemie der KI-Community vor allem eine Lektion in Demut erteilt. Zu Beginn gab es viel Selbstbewusstsein, Tatendrang – und durchaus auch gute Ideen. Hochdetaillierte Echtzeitmodelle von Infektionsketten in etwa, oder automatisierte Infektions-Diagnosen auf Basis eines Husters ins Telefon. Dass daraus weniger geworden ist als erhofft, sollte aber kein Grund zur Häme sein, sondern vielmehr Anlass zu fragen, woran diese Ideen gescheitert sind.
Was ist Ihre Vermutung? Oft lag es wohl nicht an den Möglichkeiten der Technik, sondern daran, dass die nötigen Trainingsdaten aus Datenschutzgründen unzugänglich blieben oder die Anwendung der neuen Methoden nicht in die Prozesse unseres Gesundheits- und Verwaltungssystems passen. Wenn eine Gesellschaft bewusst und konkret entscheidet, dass bestimmte Verwendungen von Daten unerwünscht sind, dann ist das okay. Mir fällt aber auch auf, dass wir in Europa vor allem darüber sprechen, welche KI-Anwendungen verboten werden sollten. Wir sprechen zu wenig darüber, welche Verwendung von Daten wir im Interesse der Allgemeinheit, nach umfangreicher gesellschaftlicher Debatte und mit klaren Regeln und Zielen konkret angehen sollten.
KI-Forschung für Künstliche Faulheit
Mit seiner Forschungsgruppe arbeitet Philipp Hennig daran, Rechenalgorithmen für die KI zu entwickeln, die lernende Maschinen effizienter, zuverlässiger und einfacher zu bedienen machen. „Maschinelles Lernen ist noch sehr energiehungrig“, sagt er zum Hintergrund. „KI-Systeme mögen zwar Go spielen wie ein Großmeister, sie verbrauchen dabei aber mindestens tausendmal so viel Energie wie ihr menschlicher Gegner.“ Stark vereinfacht liege das daran, dass die Informatik noch nicht gut verstanden habe, was die internen Rechenaufgaben einer KI schwer oder leicht macht. „Wir suchen also nach Konzepten, mit denen die Maschine selbst besser erkennen kann, wie gut sie ihre Aufgabe erfüllt – um dann auch mal früher damit aufzuhören.“ Anders gesagt: Der KI soll beigebracht werden, auch mal faul zu sein.
Künstliche Intelligenz (KI) beschäftigt mittlerweile die meisten Unternehmen in Deutschland. Allerdings berichten sieben von zehn renommierten deutschen Firmen, dass sie bisher kaum einen oder keinen Einfluss von KI auf ihr Geschäft verzeichnen. Das ist das Ergebnis einer Studie der Personalberatung Odgers Berndtson und appliedAI. von Sabine Olschner
Die künstliche Intelligenz konnte bisher nur in wenigen Fällen die hohen Erwartungen der Unternehmen erfüllen. Das liegt vor allem daran, dass KI – anders als bisherige Technologien wie „Mobile“ oder „Big Data“ – kein fertiges Produkt ist, sondern eine Basistechnologie, die sich auf alle Geschäftsprozesse auswirkt und an eigenen Unternehmensdaten trainiert werden muss. Um KI erfolgreich einzusetzen, müssen sich vor allem Vorstände und Aufsichtsräte selbst damit befassen, so das Ergebnis der Studie „Artificial Intelligence for Boards“.
Die KI-Technologie soll in den kommenden Jahren weit verbreitet zum Einsatz kommen. Doch viele Unternehmen bleiben bisher bei Pilotanwendungen stecken, fand die Studie heraus. Ursache hierfür seien oft falsche Erwartungen und fehlendes Know-how. Für die Nutzung von KI sei noch wichtiger als bei der Integration anderer Technologien, dass die verschiedenen Bereiche in einem Unternehmen zusammenarbeiten. Eingespeiste Unternehmensdaten verändern die Lernprozesse der KI. Daten und Software sind dann nicht mehr voneinander trennbar, was die Skalierbarkeit von KI zu einer Herausforderung macht. Darüber hinaus bringt KI völlig neue Risiken mit sich: Befindet sich in den Daten, die der Lösung zugrunde liegen, ein Fehler, zieht sich dieser durch die gesamte Lösung hindurch.
Um den Transformationsprozess von KI im Unternehmen voranzutreiben, brauchen alle Vorstandsmitglieder Grundwissen über die Technologie. Maschinelles Lernen, „Deep Learning“, Datenmengen und -strukturen sowie die Interpretation von Ergebnissen dürfen keine Fremdwörter für den Vorstand sein. Jedes Vorstandsmitglied sollte seinen Verantwortungsbereich auf dessen Status und Ziele hin überprüfen. Aus diesen Einzelsichten ergibt sich ein Gesamtbild, das die Auswirkungen der KI auf das Unternehmen zeigt.
Angesichts der Vielzahl an neuen Aufgaben und Herausforderungen kann es für Unternehmen sinnvoll sein, eine neue Rolle auf Vorstandsebene zu definieren, die den Vorstand bei der KI-Transformation unterstützt, empfiehlt die Studie. Der Chief AI and Data Officer (CAIDO) kann Initiativen vorantreiben und als Sparringspartner für die übrigen Vorstandsmitglieder fungieren. Seine Aufgaben: den Reifegrad bezüglich KI im Unternehmen untersuchen und Prioritäten setzen, als Role Model den Wandel vorantreiben und sicherstellen, dass die notwendigen Voraussetzungen in Bezug auf Daten, der Infrastruktur für Maschinelles Lernen, Talent und Organisation erfüllt sind.
appliedAI
ist aktuell die größte Initiative ihrer Art in Europa mit mehr als 50 Partnerschaften aus Wissenschaft, Technologie und Industrie, dem öffentlichen Sektor und ausgewählten Start-ups. Ihre Mission: Fachkenntnis miteinander teilen, um Unternehmen und die Gesellschaft für das KI-Zeitalter zu qualifizieren und die Anwendung von Künstlicher Intelligenz in Deutschland zu beschleunigen.
Wäre es grundsätzlich möglich, eine superintelligente Künstliche Intelligenz (KI) zu kontrollieren? Mit dieser Frage beschäftigten sich Computerwissenschaftler und Philosophen in der Studie „Superintelligence cannot be contained: Lessons from Computability Theory“. Dabei nimmt der Studientitel schon die Antwort vorweg: Nein. von Christoph Berger
Zugegeben: Das Szenario ist konstruiert. Und (noch) existiert es nur in der Theorie. Die Wissenschaftler gehen in ihrer Annahme von einer KI aus, deren Intelligenz dem Menschen überlegen ist und die selbstständig alles lernen kann. Zudem ist sie an das Internet angeschlossen und hat Zugriff auf alle Daten der Menschheit: Sie kann alle bestehenden Programme ersetzen und alle ans Internet angeschlossenen Maschinen kontrollieren. Würde sich eine solche KI für das „Gute“ einsetzen oder die Menschheit vernichten und die Erde übernehmen? „Eine superintelligente Maschine, die die Welt kontrolliert, klingt nach Science- Fiction. Doch schon heute gibt es Maschinen, die bestimmte wichtige Aufgaben selbstständig erledigen, ohne dass Programmier*innen komplett verstehen, wie sie das gelernt haben. Daher stellt sich für uns die Frage, ob das für die Menschheit irgendwann unkontrollierbar und gefährlich werden könnte“, sagt Manuel Cebrian, Leiter der Forschungsgruppe „Digitale Mobilisierung“ am Forschungsbereich Mensch und Maschine am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Co-Autor der Studie.
Bisher wurden weltweit zwei Ideen entwickelt, wie sich eine superintelligente KI beherrschen lassen könnte. Entweder werden die der KI zur Verfügung stehenden Ressourcen eingeschränkt. Das würde bedeuten, dass man sie vom Internet und anderen technischen Geräten abschottet, also den Kontakt zur Außenwelt blockiert. Dies hätte allerdings auch zur Folge, dass die Fähigkeiten der KI deutlich geringer wären und sich die großen Probleme der Menschheit nicht lösen lassen. Die zweite Option besteht darin, die KI von vornherein zu motivieren, nur Ziele zu verfolgen, die im Interesse der Menschheit liegen. Zum Beispiel könnten ethische Regeln einprogrammiert werden.
Die an der Studie beteiligten Forscher zeigen jedoch, dass all diese Ideen ihre Grenzen haben. Auch sie versuchten einen theoretischen Algorithmus zu konzipieren, der sicherstellen sollte, dass eine superintelligente KI unter keinen Umständen der Menschheit schadet. Dieser Algorithmus simuliert zunächst das Verhalten der KI und stoppt sie, wenn er es als schädlich erachtet. Eine genaue Analyse dieses Algorithmus zeigte jedoch, dass nach aktuellem Stand der Computerwissenschaften ein solcher Algorithmus nicht programmiert werden kann. „Bricht man das Problem auf einfache Grundregeln aus der theoretischen Informatik herunter, zeigt sich, dass ein Algorithmus, der einer KI befehlen würde, die Welt nicht zu zerstören, sich womöglich aufhängen würde. Man wüsste dann nicht, ob der Algorithmus die Bedrohung noch analysiert oder ob er aufgehört hat, die schädliche KI einzudämmen. Das macht diesen Algorithmus praktisch unbrauchbar“, sagt Iyad Rahwan, Direktor des Forschungsbereichs Mensch und Maschine.
Auf Basis dieser Berechnungen sei es somit nicht möglich, einen Algorithmus zu programmieren, der erkennt, ob eine KI der Welt Schaden zufügen würde oder nicht. Hinzu komme, dass möglicherweise nicht einmal erkennbar sei, ob eine Maschine superintelligent ist. Denn, ob eine Maschine eine dem Menschen überlegene Intelligenz besitzt, lasse sich nach aktuellen Erkenntnissen ebenfalls nicht berechnen, so die Forscher.