Anzeige
Start Blog Seite 183

Neuer Weg – neue Risiken

0

Das Internet als unerschöpfliche Informations- quelle ermöglicht es einem Bewerber, sich im Vorfeld einer Bewerbung oder eines Bewerbungsgesprächs unkompliziert über den potenziellen Arbeitgeber zu informieren. Es dürfte mithin keine Überraschung sein, dass auch Arbeitgeber auf das Internet zurückgreifen, um über eine Bewerbung hinausgehende Informationen über einen Bewerber zu erhalten oder potenzielle Kandidaten zu rekrutieren. Von Gabi Müllejans.

Darf ein Arbeitgeber über einen Bewerber in den Social Media recherchieren?
Bei der Zusammenstellung der Informationen aus den Social Media handelt es sich um eine Erhebung personenbezogener Daten nach dem Bundesdatenschutzgesetz (BDSG), die nur dann zulässig ist, wenn ein Bewerber dieser zustimmt oder das Gesetz einen Erlaubnistatbestand vorsieht. Bei sozialen Netzwerken sind Daten in vielen Fällen nur begrenzt zugänglich. Erforderlich ist oftmals eine Registrierung oder eine Verknüpfung mit dem Profil des Bewerbers. Bei freizeitorientierten sozialen Netzwerken wie Facebook und Co., bei denen die private Nutzung im Vordergrund steht, wird eine Erhebung von Daten überwiegend als unzulässig angesehen, da der Schutz der privaten Daten überwiege. Bei berufsorientierten Netzwerken wie Xing, LinkedIn und Co., die hauptsächlich der Darstellung von beruflichen Qualifikationen dienen sollen, wird die Erhebung von Daten eher als zulässig bewertet. Bewirbt sich ein Bewerber über ein soziales Netzwerk bei einem Arbeitgeber und gibt hierbei sein Profil frei, kann dies als Einwilligung in die Erhebung dieser Daten gesehen werden. Eine Datenerhebung kann zudem insbesondere nach § 32 BDSG auch ohne Einwilligung zulässig sein, wenn die Datenerhebung für die Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses erforderlich ist. Die Bewerbungsphase wird hierbei als Vorstufe eines Beschäftigungsverhältnisses angesehen.

Darf ein Arbeitgeber Bewerber über ein soziales Netzwerk rekrutieren?
Die Rekrutierung von Mitarbeitern wird zunehmend aktiv von Unternehmen oder externen Dienstleistern über das Internet betrieben. Die Ansprache eines Kandidaten durch ein Unternehmen stellt datenschutzrechtlich ebenfalls eine Erhebung von Daten dar. Die Ansprache erfolgt schließlich nur dann, wenn ein Unternehmen die Informationen eines Kandidaten im Hinblick auf eine freie Stelle positiv abgeglichen hat. Eine Einwilligung des Kandidaten in die Erhebung der Daten ist fraglich, weil nicht der Kandidat, sondern der potenzielle Arbeitgeber einen Kontakt herstellt. Die Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses (§ 32 BDSG) ist zu diesem Punkt nicht absehbar. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung ist nicht klar, ob eine Bewerbung beziehungsweise ein Beschäftigungsverhältnis entstehen wird. Ein Unternehmen sollte hier ferner eine unlautere Belästigung von Kandidaten nach dem Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb im Hinterkopf behalten.

Was sollte ein Arbeitgeber bei der Rekrutierung über Social Media beachten?
Der Arbeitgeber sollte zunächst das an der Rekrutierung beteiligte Personal hinsichtlich der Erhebung von Daten schulen. Liegt dem Arbeitgeber keine Einwilligung eines Bewerbers bzw. potenziellen Kandidaten vor, sollten die Grenzen der zulässigen Datenerhebung eingehalten werden. Bei der Bewerberauswahl sind insbesondere die Vorgaben des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) zu beachten. Benachteiligungen aufgrund der Rasse, der ethischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion, der Weltanschauung, der Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität des Bewerbers sind unzulässig. Ferner wird insbesondere in der einschlägigen Literatur gefordert, dass nur solche Informationen bei der Online-Recherche abgefragt werden sollten, die auch im Rahmen eines Bewerbungsgesprächs zulässig wären. Der Arbeitgeber darf diese Kriterien nicht in die Entscheidung für oder gegen einen Bewerber einfließen lassen. Eine nachweisbare diskriminierende Auswahl ist rechtlich angreifbar und kann zu Schadensersatzansprüchen führen.

Was sollte ein Bewerber bei der Bewerbung über Social Media beachten?
Ein Bewerber, der über Social Media an einen Arbeitgeber herantritt oder sich intensiv über Social Media präsentiert, sollte im Rahmen eines Bewerbungsverfahrens ein besonderes Augenmerk auf die leicht zugänglichen Daten legen. Verknüpft sich ein Bewerber mit einem potenziellen Arbeitgeber und ermöglicht somit eine freie Zugänglichkeit seiner Daten, kann dies als Einwilligung zur Erhebung der Daten gesehen werden. Der Bewerber sollte hierbei im Vorfeld die Informationen, die sich aus einem Netzwerkprofil ergeben, kritisch hinterfragen und nur dann die Daten frei zugänglich machen, wenn er keine Bedenken gegen eine Verwendung hat. Insbesondere im Gegensatz zu einer unzulässigen Frage in einem Bewerbungsgespräch, die durch einen Bewerber nicht oder auch unzutreffend beantwortet werden darf, können die Antworten auf eben diese Fragen in sozialen Netzwerken frei abrufbar sein. Ein Arbeitgeber wird diese Informationen sicherlich nicht in eine etwaige Begründung einer Absage einfließen lassen. Diese Informationen könnten faktisch jedoch eine Entscheidung beeinflussen.

Interview mit Prof. Dr. Stefan Sporn

0

Eigentlich wollte Prof. Dr. Stefan Sporn Journalist werden. In die Medien zog es ihn nach seinem Jura-Studium tatsächlich, doch nicht – wie zuvor als freier Mitarbeiter – in die Redaktion, sondern in andere Abteilungen der Mediengruppe RTL, in der Juristen spannende Aufgaben finden. Was genau Juristen in einem Medienkonzern tun und welche Fähigkeiten dabei verlangt werden, verrät der 42- Jährige, der heute den Geschäftsbereich Internationaler Vertrieb leitet, im Interview. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Stefan Sporn, 1970 in Hannover geboren, studierte Jura in Hannover und Köln und legte 2000 seine Promotion an der Uni Mainz ab. Von 1990 bis 2000 arbeitete er zudem als freier Journalist für Medien wie die Nachrichtenagentur dpa (u. a. aus Südafrika), private Radiosender und öffentlich-rechtliche Fernsehsender. 2000 kam er zur Mediengruppe RTL nach Köln, wo er zunächst als Projektmanager in der strategischen Unternehmensentwicklung tätig war. Über eine leitende Position im Lizenzhandel kam er auf seine heutige Position als Leiter des Geschäftsbereichs Internationaler Vertrieb. Der 42-Jährige berät nebenberuflich als „Of Counsel“-Partner die Kölner Kanzlei AHS Rechtsanwälte und lehrt Medien- und Urheberrecht an der Uni Mainz sowie an der FH Köln, wo er seit März 2013 Honorarprofessor ist.

Herr Prof. Dr. Sporn, Sie arbeiten bei der Mediengruppe RTL. Sind Sie hier einer der wenigen juristisch Denkenden unter vielen Kreativen?
Zunächst einmal: In dieser Mediengruppe finden Sie die gesamte Bandbreite von Menschen. Das Unternehmen ist sehr bunt aufgestellt. Und Sie finden hier auch überall Juristen. Nicht nur in der Rechtsabteilung, wo man sie vermutet.

Die Medien bieten also für Juristen vielfältige Einstiegsmöglichkeiten.
Genau. Wer das traditionell juristische Feld mag, ist in der Rechtsabteilung sicherlich gut aufgehoben. Wobei es auch dort darauf ankommt, das juristische Wissen um medienspezifisches Know-how zu erweitern. Wer zum Beispiel als Presserechtler einsteigt, muss erkennen, ob und wann ein Film oder eine Aussage in den Medien Persönlichkeitsrechte verletzt. Medienarbeitsrechtler hingegen müssen wissen, wie sich die Arbeitsverträge von freien und festen Journalisten unterscheiden. Der Einstieg in ein Medienunternehmen wie RTL ist aber auch auf der kreativen Seite möglich. Als juristischer Redakteur oder Reporter aus Gerichtssälen. Oder auch als ganz normaler Journalist. Wichtig zu wissen ist, dass ein solcher Quereinstieg nur sehr selten ohne praktische Erfahrungen in den Medien funktioniert.

Sie haben vor Ihren Examen beides gemacht: Jura studiert und journalistisch gearbeitet. Wann fiel die Entscheidung für den Juristen und gegen den Journalisten?
Zufall. Wie so oft im Leben. Ich habe mich zehn Jahre lang als Journalist verstanden, der nebenbei Jura studierte, sein Referendariat absolvierte und promovierte. Der Journalismus hat mich während dieser Jahre ernährt. Er war mein Berufsziel. Dann erhielt ich ein Job-Angebot von RTL, das weder journalistisch noch juristisch war. Es handelte sich um eine Stelle in der strategischen Unternehmensentwicklung. Ich fand das spannend – und habe zugesagt.

Was macht ein strategischer Unternehmensentwickler in einem Medienunternehmen?
Alles besser wissen – und zwar ohne dass eine besondere Qualifikation dieses Besserwissen rechtfertigen würde. (lacht)

Dem Journalismus nicht unähnlich.
Der Juristerei aber auch nicht. Aber im Ernst, das passte schon. Ich war in dieser Position ein interner Unternehmensberater. Die Themen waren vielfältig, von der Verschlankung der Organisation bis hin zur Entwicklung neuer Geschäftsmodelle. Es kam darauf an, sich schnell in Themen einzuarbeiten und zielgerichtet Probleme zu lösen.

Man trifft Juristen generell in sehr vielen Branchen und an sehr vielen Positionen. Sind Juristen für Quereinstiege besonders gut geeignet?
Ich denke schon. Die juristische Ausbildung ist so gestaltet, dass man sich schon während des Studiums auf eine große Bandbreite einstellen muss. Es gibt während des Studiums kaum Möglichkeiten, sich in eine bestimmte Richtung zu spezialisieren. Man kann also nicht von vornherein sagen: Ich werde Strafrechtler – und fokussiere mich nur auf Themen, die in dieser Hinsicht für mich relevant sind. So funktioniert das Jura-Studium nicht. Juristen an der Uni müssen mehr oder weniger alles können. Daraus ergibt sich eine geistige Flexibilität. Eine Prägung, die man sich als Jurist immer bewahren sollte, weil sie hilft, sich immer wieder auf neue Situationen einzustellen.

Wie ging es für Sie bei RTL weiter?
Ich wechselte von der strategischen Unternehmensentwicklung in den Lizenzhandel. Damit kam ich der klassischen Juristerei wieder näher, weil es verstärkt um Urheberrecht geht. Im Fokus standen aber ökonomische Fragen. Zum Beispiel: Kann ich mir eine Serie, die ich unbedingt will, finanziell leisten?

Heute sind Sie verantwortlich für den Geschäftsbereich Internationaler Vertrieb. Was ist hier Ihre Aufgabe?
Ich kümmere mich zusammen mit meinem Team um die internationale Verbreitung der deutschen Sender der Mediengruppe RTL. Dazu verhandeln wir überwiegend mit Kabelnetzbetreibern und Telekommunikationsunternehmen Verträge zur Einspeisung in die ausländischen Netze. Es kann sich aber auch um den Empfang auf Kreuzfahrtschiffen oder in Hotels handeln. Nun sind wir ein Free-to-air-Sender, das heißt, jeder, der will und die technischen Voraussetzungen dafür hat, kann uns grundsätzlich unverschlüsselt empfangen. Das ist im Grunde eine gute Sache, wird aber zum Problem, wenn nicht eine Privatperson, sondern ein Unternehmen uns ungefragt in sein Netz einspeist, um ein eigenes Geschäft mit unseren Sendern zu machen. Häufig handelt es sich dabei um ausländische Hotels, die ihre Zimmerpreise durch ein internationales TV-Programm rechtfertigen, unsere Sender einspeisen – uns aber nicht um Erlaubnis fragen. Das ist Piraterie – und die bekämpfen wir, weil sie das Urheberrecht verletzt. Meine Aufgabe ist es, unser geistiges Eigentum zu schützen. Wir erhalten unsere Programminhalte ja auch nicht umsonst, sondern als Teil einer Kreativkette.

Das Urheberrecht steht seit längerem im Fokus. Wie beurteilen Sie die Diskussion?
Aus meiner Sicht haben sich die Regeln des Urheberrechts bewährt. Verändert haben sich die Nutzungsarten und -gewohnheiten sowie die Übertragungswege. Beispiel Internet: Das Internet ist schwer zu regulieren. Das darf aber nicht dazu führen, dass man sagt: „Hier ist alles erlaubt, und auch das Urheberrecht ist freizugeben.“ Das Urheberrecht muss – wie jedes andere Rechtsgebiet auch – behutsam weiterentwickelt und gegebenenfalls modernisiert werden. Eine Aufgabe, der sich Juristen, die sich für die Medien interessieren, mit Leidenschaft widmen sollten.

Welchen generellen Rat mit Blick auf erfolgreiche und spannende Karrieren können Sie Juristen kurz vor dem Einstieg ins Berufsleben geben?
Für Juristen gilt, was hier für alle gilt: Bloß keine falschen Kompromisse eingehen. Man sollte nur das tun, wofür man wirklich brennt. Dann klappt es auch mit der weiteren Karriere. Eine möglichst klare Vorstellung davon, wie ein zukünftiger Traumjob aussieht, ist dabei eine entscheidende Orientierung. Wer auch nach dem zweiten Examen immer noch nicht weiß, mit welchem Ziel er Jura studiert hat, sollte sich sehr schnell darüber klar werden oder lieber umgehend umsatteln.

Zum Unternehmen

Die Mediengruppe RTL Deutschland mit Sitz in Köln erreicht mit ihren Programmen täglich mehr als 30 Millionen Menschen. Neben den Free-TV-Sendern RTL, VOX, n-tv und RTL Nitro sowie Beteiligungen an RTL II und Super RTL gehören die drei digitalen Spartenkanäle RTL Crime, Passion und RTL Living zum Portfolio des Unternehmens. Das Tochterunternehmen RTL interactive bündelt interaktive und transaktionsbasierte Geschäftsfelder jenseits des klassischen Fernsehens. Dazu zählen zum Beispiel die Bereiche Online und Mobile, Telefonund SMS-Mehrwertdienste, Licensing sowie Games Publishing. Die Mediengruppe RTL Deutschland gehört zur RTL Group mit Sitz in Luxemburg, einer Tochter des Bertelsmann-Konzerns.

Bildung für sich, nicht für den Titel

0

Titel bauen Karrieren? Diese Zeiten sind vorbei. Wenn Kanzleien heute Zusatzausbildungen verlangen, dann nicht wegen der Etikette, sondern weil sie Beleg dafür sind, was ein Jurist kann. Es gibt auch Sozietäten, die kaum Wert auf Titel legen – aber andere Ansprüche haben. Von André Boße

Niemand mag es, wenn der Wecker schellt. Gut, dass es die Schlummertaste gibt, die einem noch fünf Minuten in den weichen Federn schenkt. Viele versinken dann noch einmal kurz in den Träumen. Juristen jedoch, die mitten in der Promotion stecken, machen mitunter ganz andere Erfahrungen. Sie stecken so sehr im Thema ihrer Doktorarbeit, dass ihnen manchmal morgens im Halbschlaf ein Licht aufgeht. Dr. Jens Schönfeld ist das so ergangen, als er 2004 in Bonn promovierte. „Man gewinnt sehr viel Selbstvertrauen in sein Können, wenn man morgens aufwacht und eine gute Idee für die Doktorarbeit hat“, sagt der 43-jährige Rechtsanwalt und Partner der Kanzlei Flick Gocke Schaumburg. Klar, bei der Promotion geht es auch um den Titel. Um den Dr. jur. auf der Visitenkarte. Doch Schönfeld ist davon überzeugt, dass die Promotionszeit dabei hilft, sich selber auf die Schliche zu kommen. „Man lernt dann eine Menge über sich selbst“, sagt er. „Man erlebt ein Auf und Ab zwischen Selbstzweifeln und Erfolgserlebnissen.“ Und häufig sei diese Selbsterfahrung wichtiger als der Doktortitel selbst.

Juristen kennen heute eine Vielzahl von Zusatzausbildungen, Abschlüssen und Titeln. Vom klassischen Dr. jur. über den LL.M. und MBA bis hin zu immer neuen Fachanwaltsthemen. Wer sich in den großen deutschen Kanzleien umhört, merkt schnell, dass die Sozietäten unterschiedlich auf Titel und zusätzliche Qualifikation blicken. Es gibt Kanzleien, die nur wenig Wert auf die Kürzel vor und nach dem Namen legen. Für andere ist der Dr. jur. weiterhin Standard – und das, obwohl die Promotionsquote der Juristen in Deutschland nur bei gut elf Prozent liegt. Die Kanzlei Flick Gocke Schaumburg ist eine dieser Sozietäten. „Man lernt bei der Promotion eine Reihe technischer Dinge, die für die Arbeit als Anwalt sehr wichtig sind“, sagt Jens Schönfeld. „Zum Beispiel, wie man ein Thema auf den Punkt bringt, wie man sich selbst und seine Arbeit organisiert oder wie man einen Text vernünftig schreibt. Wer diese Erfahrung gemacht hat, geht nach meiner Meinung organisierter und strukturierter auch an Projekte im Beruf heran.“ Fast alle der knapp 90 Partner der Kanzlei haben promoviert. Wer als Einsteiger noch keinen Doktortitel hat, wird motiviert, die Promotion berufsbegleitend nachzulegen. „Das kann gelingen, wenn man das 3:3:1-Prinzip verfolgt: drei Tage Arbeit, drei Tage Promotion und ein Tag in der Woche Entspannung“, so Schönfeld. „Man braucht dafür Selbstdisziplin. Aber wenn man ein gutes Thema hat, das zu einem passt und das man auch mit der beruflichen Praxis verknüpfen kann, kann das gut funktionieren.“

Für das berufliche Vorankommen ist die Promotion besonders dann sinnvoll, wenn man in eine Kanzlei einsteigt, die viel Wert auf wissenschaftliches Arbeiten legt. Ob das der Fall ist, zeigt zum Beispiel ein Blick auf die Partner- und Anwaltsliste auf der Homepage: Je höher die Dr.-Quote, desto mehr Wert wird die Sozietät auf den Titel legen.

Doktortitel öffnet Türen
Einen Vorteil bietet der Doktortitel zudem den Nachwuchsjuristen, die nicht in einer großen Kanzlei starten möchten. „Einzelpraxen oder kleinere Boutiquen stärken durch den Doktortitel die Sichtbarkeit im Anwaltsmarkt“, hat Dr. Matthias Dombert festgestellt. Seine Kanzlei Dombert Rechtsanwälte hat sich als kleineres Team auf Fragen des Verwaltungs- und Verfassungsrechts spezialisiert. Alle Partner haben promoviert – auch, weil der Doktortitel den Juristen die Türen zu den Hochschulen öffnet. „Die Außenwirkung einer Promotion zeigt sich vor allem im Zusammenhang mit der Nachwuchsgewinnung“, sagt Dombert, der auch Honorarprofessor für Öffentliches Recht an der Uni Potsdam ist. „Sie ermöglicht uns einen leichteren Zugang zu Universitäten – ein Vorteil, der gerade für eine Boutique unseres Zuschnitts nicht zu unterschätzen ist.“

LL.M. – aber bitte im Ausland
Bei den großen Wirtschaftskanzleien geht der Trend hingegen dahin, dass die Promotion gerne gesehen, aber nicht vorausgesetzt wird. „Der Doktortitel liefert den Beleg für die Fähigkeit, wissenschaftlich zu arbeiten. Entsprechend wird er bei der Einstellung honoriert. Er ist aber keine Einstellungsvoraussetzung – zumal sich nicht empirisch belegen lässt, dass promovierte Anwälte erfolgreicher sind als nicht-promovierte“, sagt Dr. Stephan Brandes, Partner der Wirtschaftssozietät SZA mit Büros in Mannheim und Frankfurt. Generell sind in seiner Sozietät alle relevanten zusätzlichen Titel willkommen: Der Master of Business Administration (MBA), den laut Brandes jedoch eher wenige Bewerber vorzuweisen haben, sowie der Master of Laws (LL.M.) – wenn dieser im Ausland erreicht wurde. „Dann nämlich steht der LL.M. für Sprachkenntnisse und Lebenserfahrung in einem fremden Kulturkreis“, so der SZA-Partner.

Generell begrüßen die Kanzleien, dass die Palette an wichtigen Weiterbildungen für junge Juristen deutlich breiter geworden ist. Grund dafür sind die gestiegenen Erwartungen der Mandanten. „Für Berufsanfänger in einer Wirtschaftskanzlei ist es heute geradezu Pflicht, die unternehmerischen Aspekte hinter den rechtlichen Fragestellungen der Mandanten zu verstehen“, sagt Torsten Schneider, Director Human Resources bei der Kölner Rechtsanwaltsgesellschaft Luther. Das Anforderungsprofil der Wirtschaftskanzlei: Einsteiger müssen sich mit betriebswirtschaftlichen Fragestellungen auskennen, ein Verständnis für die Abläufe in Unternehmen mitbringen, im Idealfall auch die Trends in einzelnen Branchen kennen und in der Lage sein, Nicht-Juristen komplexe rechtliche Fragestellungen zu erklären. „Allerdings bereitet die juristische Ausbildung darauf nicht vor, und auch typische Managementfähigkeiten lernt man nicht im Studium“, sagt Schneider. Bei Luther setzt man auf die interne Weiterbildung in der hauseigenen Academy. „Diese Programme begleiten junge Anwälte auf dem Karriereweg“, so der Personalverantwortliche.

Promotion als „Privatvergnügen“
Für ein Lernen ohne Titeljagd plädiert Dr. Christian Czychowski, Fachanwalt für IT-Recht sowie Urheber- und Medienrecht bei der Kanzlei Boehmert & Boehmert, eine der größten deutschen Kanzleien für geistiges Eigentum. Der Jurist, obwohl selber promoviert, hält Titel schlicht für nicht notwendig. Der Doktortitel wird in seiner Kanzlei als eine Art „Privatvergnügen“ gesehen, der keine großen Auswirkungen auf den Werdegang in der Sozietät hat. Selbst die drei neuen Fachanwaltstitel, die für die Kanzlei Relevanz besitzen (Gewerblicher Rechtsschutz, Urheber- und Medienrecht sowie Informationstechnologierecht) werden nicht zwingend von den Bewerbern gefordert. „Wir unterstützen allerdings Nachwuchskräfte, indem wir einen Großteil der Kosten für die Fachanwaltskurse übernehmen.“ Wichtiger als die Aufdrucke auf den Visitenkarten ist Czychowski die informelle Weiterbildung. „Wie ein Arzt muss auch ein Jurist auf der Höhe der Zeit bleiben“, sagt er. „Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten, sei es der Besuch von hochkarätigen Symposien, die Lektüre von relevanten Zeitschriften, der Besuch von insbesondere internationalen Konferenzen und natürlich der persönliche Austausch in der Community.“

So unterschiedlich die diversen Kanzleien die Bedeutung von Titeln und formalen Zusatzqualifikationen einschätzen, so einig sind sie sich darin, dass die Zeiten vorbei sind, in denen ein Titel per se eine gute Karriere bedeutete. „Wer heute auf erfolgreiche Anwaltskarrieren blickt, wird feststellen, dass Titel genauso an Bedeutung verloren haben wie die Frage nach Herkunft und Geschlecht“, bewertet Luther-Personalchef Schneider – zumal sich rechtliche Rahmenbedingungen und technologische Trends so schnell änderten, dass sich, so Schneider, „keiner mehr darauf verlassen kann, dass sein Fachwissen in ein paar Jahren noch von gleicher Bedeutung wie heute ist“. Woher man weiß, was einem fehlt? Da hilft die kontinuierliche Reflexion des eigenen Tuns – Feedback von anderen inklusive. „Aber machen Sie bitte nicht den Fehler, ausschließlich gegen Ihre Schwächen anzukämpfen“, wendet sich Schneider direkt an den ambitionierten Nachwuchs. „Der Abbau von Schwächen ist mühsam und wegen der meist nur kleinen Fortschritte häufig demotivierend. Größeren Erfolg hat man damit, relevante Stärken auszubauen und Wissenslücken zu schließen.“ Dann kommt es schneller zu Erfolgserlebnissen – und das gefällt dem Nachwuchs genauso wie gestandenen Partnern.

Zurück ins Leben

Back to Life e. V. wurde von Stella Deetjen gegründet, einer Deutschen, die 1996 während einer Indienreise eine Straßenklinik für Leprakranke errichtete. Seitdem ist Deetjen in Indien und Nepal unterwegs, um Hilfsprojekte zu initiieren, die benachteiligten Menschen den Weg zu Selbstbestimmung und Selbstständigkeit ebnen sollen. Aufgezeichnet von Stefan Trees.

Zur Person

Stella Deetjen
Projekt: Back to Life e. V.
Ort: Nepal/Indien
Web: www.back-to-life.org

Zum ersten Mal in meinem Leben begegnete ich während meiner ersten Indienreise Leprakranken in Benares. Sie saßen bettelnd am Straßenrand, ausgestoßen von der Gesellschaft. Tagelang schlich ich an ihnen vorbei und wagte immer nur einen kurzen scheuen Blick aus den Augenwinkeln.

Wie alles begann
Als ich einmal mit starken Bauchschmerzen auf den Treppen saß, die zum heiligen Fluss Ganga führen, kam ein alter, weißhaariger Mann auf mich zu. Er war offensichtlich lepraerkrankt, sah mich an und fragte, ob er mir helfen könne. Mir verschlug es die Sprache, denn ich war die reiche Touristin, und eigentlich hätte ich ihm Hilfe anbieten müssen und nicht er mir. Er segnete mich, schenkte mir einen liebevollen Blick, der mich in Herz und Seele traf und berührte meinen Kopf. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt rein gar nichts über Lepra. Dennoch hatte ich keine Angst vor dieser Berührung, weil er mir mit seiner Geste so viel menschliche Wärme gab.

Am nächsten Tag suchte ich den alten Mann auf, um ihm zu danken, und bald gesellten sich weitere Leprakranke zu uns. Ein junger Mann, der ein wenig Englisch sprach, zeigte mir, wie wunderbar er trotz fehlender Finger zeichnen konnte, indem er sich Bleistift oder Pinsel mit einer Bandage in seiner Handinnenfläche fixierte. Ich ging los und kaufte Stifte und Papier, und von dem Tag an malten wir gemeinsam. Stets saßen andere Leprakranke um uns herum, sie brachten Tee und wollten teilnehmen. Die Freude, dass ich mich für sie interessierte, war ihnen deutlich anzumerken. Wir freundeten uns an und sie ließen mich immer tiefer in ihr Leben blicken. Manche ernannten sich zu meinem Großvater, zu meinem kleinen oder großen Bruder oder zu meiner Schwester.

Schnelle Entscheidung
Wochen später sperrte die Polizei alle leprakranken Männer der Straße in einen Lastwagen. Ich verstand nicht, was da passierte, und sah die Angst in den Augen dieser Menschen, die außer ihrer Freiheit nichts mehr besaßen. Die Polizisten antworteten mir, Betteln sei illegal und die Männer würden ins Gefängnis gebracht werden. Ich hatte Angst, dass ich die Männer, die ich meine Brüder nannte, nie wiedersehen würde. Meine Entscheidung dauerte nur einen Augenblick, und ich stieg zum Entsetzen der Polizisten mit in den Lastwagen. Sie befahlen mir, wieder auszusteigen, doch einmal in der Mitte der Unberührbaren wurde ich für diesen Moment zu einer der ihren.

Die Männer wurden in ein Lager gebracht, ich dagegen durfte gehen. Sofort suchte ich mir einen indischen Anwalt und verschob meine geplante Rückkehr nach Europa. Drei Monate lang versuchte ich täglich alles, um sie aus ihrer Gefangenschaft zu befreien, ging zum Bürgermeister und zum Richter von Benares – ohne Erfolg. Erst ein Presseartikel, der in fast jeder indischen Zeitung erschien, brachte den Durchbruch, und sie wurden freigelassen.

Fotos: Back to Life e. V.
Fotos: Back to Life e. V.

Zugleich begegnete ich einer Schweizer Ärztin, die mich aufklärte, dass Lepra in jedem Stadium heilbar ist. Sie schenkte mir 100 Dollar, die zum Grundstein meines Projektes wurden, denn als ich mich von den Leprakranken verabschieden und ihnen den Geldschein geben wollte, baten sie mich: „Bitte geh nicht in dein Land zurück. Wir brauchen Medizin, Häuser, unser Leben zurück!“ Und wie es so ist, wenn Dinge geschehen sollen, suchte mich eine holländische Krankenschwester auf, die eigentlich zu Mutter Teresa nach Kolkata wollte, und bot mir für einige Monate ihre Hilfe an. Also starteten wir die erste Straßenklinik für Leprakranke und ihre (Straßen-) Kinder. Den Verein, den ich darauf hin gründetet, nannte ich „Back to Life“ – Zurück ins Leben.

Ausbildung außerhalb
Um den Waisen, Halbwaisen und leprabetroffenen Straßenkindern eine Zukunft zu ermöglichen, haben wir mittlerweile zwei Kinderheime sowie ein Day-Care-Center ins Leben gerufen, die 120 Kindern und Jugendlichen ein sicheres Zuhause bieten mit allem, was für uns so selbstverständlich ist: gesundes, regelmäßiges Essen, medizinische Fürsorge, Schulbildung und dem sicheren Gefühl, in einer Familie zu leben.

Eigentlich dachte ich, dass ich nach zwei Jahren nach Europa zurückkehren würde, solange dauerte damals die Lepratherapie. Doch ein Projekt wuchs aus dem anderen, und ich blickte immer tiefer in die Nöte dieser Menschen, die durch unsere Hilfe zur Selbsthilfe schließlich ins Leben zurückkamen. So wurde mir „Back to Life“ zur Lebensaufgabe, die ich gerne erfülle. Ein großes Team unterstützt mich tatkräftig dabei.

Nach fast 20 Jahren freuen wir uns über viele Früchte der mittlerweile sieben Projekte von Back to Life e. V., mit denen wir 75.000 Menschen erreichen: In Indien engagieren wir uns weiterhin für die Leprabetroffenen und leisten medizinische und soziale Hilfen. Unsere ersten Straßenkinder, die wir vor über zehn Jahren in unsere Kinderheime aufgenommen haben, haben bereits Abitur und Studium absolviert und stehen auf eigenen Füßen.

Auch im verarmten Nachbarland Nepal sind wir mittlerweile tätig. Unsere Projektdörfer liegen in Mugu, am Rande des Himalayas im Hochgebirge an der Grenze zu Tibet in einer der ärmsten und unzugänglichsten Regionen der Welt. Keine Straße verbindet das Gebiet mit der Außenwelt und die Lebensbedingungen dort sind mittelalterlich: Es gibt keinerlei Infrastruktur wie Strom, Straßen oder medizinische Hilfe für die 55.000 Menschen in diesem Gebiet, deren Lebenserwartung bei nur 36 Jahren liegt. Die Kindersterblichkeit ist eine der höchsten weltweit.

Zukunft ermöglichen
Um die Lebensbedingungen dauerhaft zu verändern, reichen unsere Projektaktivitäten vom Bau von Schulen und Gemeinschaftshäusern über Schulungen zu Themen wie Landwirtschaft, Hygiene und Gesundheit sowie Einkommensgenerierung bis hin zu medizinischer Versorgung, Mikrokreditvergabe und aktivem Umwelt- und Ressourcenschutz. Außerdem fördern wir die Ausbildung von Hebammen, medizinischem Personal sowie künftigen Fachleuten in der Landwirtschaft. Die jungen Frauen und Männer erhalten außerhalb Mugus ihre Ausbildung und kehren dann in die Region zurück, um dort tätig zu werden.

Unsere Programme sind langfristig angelegt, sie greifen ineinander und sind immer auf die tatkräftige Beteiligung der Dorfbewohner ausgerichtet, ihre Lebensumstände aus eigener Kraft langfristig zu verbessern. Nach drei bis fünf Jahren können sie auf eigenen Füßen stehen und werden nicht abhängig von unserer Hilfe.

Bisher erreichen wir rund 18.000 Menschen im Mugu, das ist ein Drittel der dortigen Bevölkerung. Weil das ganz hervorragend funktioniert, möchten wir unsere Hilfe zur Selbsthilfe auf ganz Mugu ausweiten.

Aufgestiegen zur Aktuarin

Ein Erfahrungsbericht von

Annelene Seibert, 28 Jahre
Finanz- und Wirtschaftsmathematik an der TU München
eingestiegen 2009 in die Versicherungsbranche als Praktikantin
aufgestiegen 2012 bei Munich Re zur Aktuarin

„Wie viel kostet einen Popstar die Prämie für die Versicherung seiner Welttournee?“ Mit dieser Frage öffnete sich für mich die vermeintlich abstrakte Welt der Versicherung. Bei einer Recruiting-Veranstaltung hatte ich Vertreter von Munich Re getroffen und an einem Workshop teilgenommen. Wir Studenten sollten uns dabei in die Rolle eines Underwriters versetzen, also der Person, die die Prämie für einen Vertrag berechnet und diese mit dem Kunden verhandelt. Ein anschauliches und interessantes Beispiel, das meine Neugier auf die wirkliche Versicherungswelt weckte.

Mein Weg zur Rückversicherung
Die Rückversicherung ist dabei gerade unter Studenten nicht sehr bekannt. Ich werde oft gefragt, wo denn der Unterschied zwischen einer „normalen“ Versicherung und der Rückversicherung liegt. Die Arbeit der Rückversicherung beginnt meist dort, wo die Kapazitäten der Erstversicherung erschöpft sind. Wo Risiken zu groß oder komplex werden, kommt die Rückversicherung ins Spiel und übernimmt entweder einzelne Risiken (fakultative Rückversicherung) oder ein ganzes Portfolio (obligatorische Rückversicherung) von der Erstversicherung. Das ist zum Beispiel der Fall bei Großveranstaltungen wie der Fußballweltmeisterschaft, Großbauprojekten oder bei Naturkatastrophen wie Hurrikanen oder Erdbeben. Sogar Piraterie als Risiko in der Schifffahrt gehört als ein spannendes Thema zu meinem Arbeitsalltag.

In meinem Studium der Finanz- und Wirtschaftsmathematik an der TU München hatte ich im Hauptstudium erste Vorlesungen zur Versicherungsmathematik besucht. Schließlich bewarb ich mich erfolgreich für ein Praktikum bei Munich Re. Am Ende der Semesterferien lagen zwei intensive und erfahrungsreiche Monate hinter mir. Nach dieser Zeit war es für mich und meine geleistete Arbeit eine tolle Auszeichnung, dass ich für das Studentenbindungsprogramm „Munich ReMember“ vorgeschlagen wurde. Meine Erfahrung im Praktikum, das kollegiale Team, in dem ich tätig war, aber auch mein erster Eindruck von der Unternehmenskultur haben mich in meinem Wunsch bestärkt: Ich wollte auch nach Studienabschluss in diesem Unternehmen arbeiten.

Erstellung von Pricingmethoden
So blieb ich in engem Austausch. Dafür sorgte das Bindungsprogramm des Unternehmens mit Mentoring und Einladungen zu internen Veranstaltungen, aber vor allem der persönliche Kontakt zu den ehemaligen Kollegen. So habe ich zufällig bei einem Mittagessen mit einer ehemaligen Kollegin von einer offenen Stelle im Corporate Pricing erfahren – in genau dem Bereich, in dem ich bereits mein Praktikum absolviert hatte. Ich wusste somit, dass sich die Kollegen dort unter anderem mit der Erstellung von Pricingmethoden und den zugehörigen Softwaresystemen beschäftigen. Die Aufgaben hatten mich während meines Praktikums bereits interessiert, in dem Team hatte ich mich sehr wohlgefühlt, weshalb ich mich sofort auf die Stelle bewarb.

Nur zwei Monate später, nach Abschluss der letzten Diplomprüfungen, hatte ich meinen ersten Arbeitstag als Junior Actuary im Corporate Pricing. Seitdem arbeite ich insbesondere an der (Weiter-)Entwicklung von mathematischen Methoden und Systemen zur Berechnung von Prämien, speziell für fakultatives Propertygeschäft, also zum Beispiel für die Versicherung einer großen Hotelkette gegen Schäden durch Feuer- und Naturgefahren. Ein spannendes Feld, wie ich finde, wird doch die Berechenbarkeit von Naturgefahren für unser Geschäft immer bedeutsamer. Die von uns erstellten Methoden werden von den Kollegen im Underwriting angewendet, um Prämien zu berechnen und mit den Erstversicherern zu verhandeln. Deshalb gehören zu meinen Aufgaben auch der Underwriting-Support sowie die Schulung der Underwriter zur mathematischen Funktionsweise der Systeme.

Mehr Verantwortung
Nach etwa zwei Jahren wurde ich zur Aktuarin befördert. Ein Aufstieg, der neue Aufgaben und auch mehr Verantwortung mit sich brachte. So übertrug mir mein Chef beispielsweise die Projektleitung für das Update eines unserer Propertytarife. Ein Projekt, bei dem ich mit Kollegen aus dem gesamten Haus zusammenarbeiten konnte, aber es auch galt unterschiedliche Interessen zu berücksichtigen. Zu meiner Arbeit als Aktuarin gehört heute etwa auch die Bewertung, ob ein Pricingmodell mit mathematisch korrekten Annahmen erstellt wurde. Hierbei helfen mir die Fachkenntnisse, die ich in der Ausbildung zum Aktuar bei der Deutschen Aktuarvereinigung erworben habe, die ich letzten Herbst erfolgreich abschließen konnte. Hier habe ich verschiedene Gebiete der Versicherungsmathematik nochmal grundlegend und theoretisch erlernt. Die Kosten dieser Weiterbildung wurden komplett von meinem Arbeitgeber übernommen.

Er unterstützt nicht nur die Ausbildung zum Aktuar und andere Zusatzqualifikationen. Mitarbeiter sollen sich fachlich und methodisch weiterbilden können. Von diesem breiten Schulungsangebot mache ich gerne Gebrauch und plane regelmäßig mit meiner Führungskraft, welche Seminare für mich und meine Funktion sinnvoll sind.

Kollegen aus aller Welt
Viele Studenten denken wahrscheinlich, dass man als Mathematikerin nur selten seinen Computer und Arbeitsplatz verlässt, aber in meiner Funktion ist auch Kommunikation äußerst wichtig: Corporate Pricing hat viele Schnittstellen ins Haus und Kontakte zu den internationalen Standorten. Ich lerne deshalb in Meetings und Telefonaten Kollegen aus allen möglichen Fachbereichen und aus allen Ecken der Welt kennen. Ich arbeite in meinem Team sehr projektbezogen, nur wenige Aufgaben wiederholen sich regelmäßig. Aus diesem Grund empfinde ich meine Arbeit als äußerst abwechslungsreich.

Insgesamt gibt es im Unternehmen von der Schadenreservierung bis hin zur Risikomodellierung sehr unterschiedliche Tätigkeitsfelder für Mathematiker. Deshalb denke ich, dass mir als Aktuarin auch in der Zukunft nie langweilig werden wird.

E-Mail für Dich

Von: Peter Nicolai, Absolvent der Chemischen Biologie
Gesendet: 28. August 2013
An: Studenten und Absolventen der Naturwissenschaften
Betreff: Naturwissenschaftler in der IT-Beratung

Liebe Leserinnen und Leser,

seit gut einem Jahr arbeite ich als Technology Specialist beim IT-Dienstleister Computacenter. Meine Aufgabe besteht darin, Unternehmen zu beraten, wie sie ihre IT-Prozesse optimieren können. Daher vermuten die wenigsten, dass ich Chemische Biologie studiert habe. Mein Berufseinstieg ist aber ein gutes Beispiel dafür, wie vielfältig die Möglichkeiten für Naturwissenschaftler sind.

Schon in der Schule habe ich mich für Chemie und Biologie begeistert. Daher lag ein Studium der chemischen Biologie für mich nahe. Bei meiner Masterarbeit am Max-Planck-Institut habe ich aber schnell festgestellt: Eine Laufbahn in der Forschung ist für mich nicht der richtige Weg. Der Praxisbezug fehlte, und ich habe einfach viel zu selten konkrete Ergebnisse meiner Arbeit gesehen. Im Studium konnte ich aber schon in einer studentischen Unternehmensberatung und damit in die Kundenberatung reinschnuppern – das fand ich spannend. Dass ich dann ausgerechnet in der IT-Beratung gelandet bin, lag am IT-Dienstleister Computacenter. Das Unternehmen ist spannend, und die ersten Gespräche waren sehr nett. Und das Gesamtpaket aus Weiterbildung, Zusatzleistungen, Unternehmenskultur und Gehalt stimmte einfach. Daher habe ich vor einem Jahr dort mit einem sechsmonatigen Traineeprogramm begonnen.

Zugegeben, der Weg in die IT war für mich nicht so weit – Forschungsprojekte werden durch Computersysteme gestützt, und ich habe ein starkes technisches Interesse. Und aus meinem Studium kommt mir im Job insbesondere die naturwissenschaftlich- analytische Ausbildung zugute. Ich gehe komplexe Aufgaben beispielsweise anders an als Kollegen mit einem wirtschaftswissenschaftlichen Hintergrund. Die unterschiedlichen Ansätze helfen uns bei der Teamarbeit, da sie sich gegenseitig befruchten.

Am meisten Spaß macht mir im Job der Kontakt zu Menschen und zu unseren Kunden. Beispielsweise stand ich bei einem Migrationsprojekt, bei dem eine Software auf eine neuere Version aktualisiert wurde, im ständigen Austausch mit zahlreichen Ansprechpartnern beim Kunden, um deren Anforderungen im neuen System abzubilden. Außerdem finde ich es einfach spannend, verschiedene Unternehmen zu beraten – jede Aufgabenstellung ist anders und der Job damit extrem abwechslungsreich.

Daher ist mein Tipp an Euch: Wenn Ihr gern mit Menschen umgeht, ein technisches Grundverständnis und die Bereitschaft mitbringt, Euch in die Materie einzuarbeiten, findet Ihr auch als Naturwissenschaftler einen Einstieg in die ITBeratung. Quereinsteiger bereichern die IT-Branche. Die Orientierungsphase, in welche Richtung es gehen soll, kann unter Umständen etwas länger dauern, aber davon sollte man sich nicht entmutigen lassen.

In diesem Sinne: Bleibt neugierig und offen!

Viel Erfolg und beste Grüße,
Peter Nicolai
Technology Specialist
Computacenter AG & Co oHG
www.computacenter.de

Stimmt die Chemie?

Dr. Meike Roth, 31 Jahre, ist Laborleiterin der Anwendungsentwicklung beim Chemieunternehmen Celanese Emulsions und arbeitet zusammen mit ihren Kollegen an der Entwicklung neuer Dispersionen für die Anwendung als Klebstoffe im Lebensmittelbereich.

Dr. Meike Roth, Foto: Celanese Emulsion
Dr. Meike Roth, Foto: Celanese Emulsion
Eine gewisse Begabung für Mathematik zeigte sich bei mir schon im frühen Kindesalter. Mein Interesse für Naturwissenschaften, insbesondere Chemie, musste dann erst während der Mittelstufenzeit durch eine kompetente und engagierte Lehrerin geweckt werden. Hatte mich der Chemieunterricht bei meinem vorherigen Lehrer schlicht und ergreifend nicht interessiert, war ich durch den neuen und spannenden Chemieunterricht der 9. Klasse auf einmal Feuer und Flamme für dieses Fach. Lange überlegte ich, ob mein Werdegang mich zu einer Chemie- und Sportlehrerin am Gymnasium führen sollte. Schließlich entschied ich mich gegen meine Vorliebe zum Sport und zu einem reinen Chemiestudium, wohl um in meinem späteren Beruf ein höheres Maß an Flexibilität und Aufstiegschancen geboten zu bekommen.

Arbeiten auf internationaler Ebene
Ein Praktikum während meines Chemiestudiums am Max-Planck-Institut für Polymerforschung eröffnete mir später die Möglichkeit, meine Diplomund meine Doktorarbeit dort zu schreiben. In dieser Zeit bekam ich die Chance, viele verschiedene Konferenzen zu besuchen und meine Arbeit auf internationaler Ebene vorzustellen. Schon damals gefiel mir der Kontakt zu den unterschiedlichsten Menschen und zu vielen verschiedenen Kulturen. So wurde mir schnell klar, dass mein zukünftiger Job mir Ähnliches bieten sollte.

Nach meiner Promotion 2010 bewarb ich mich dann erfolgreich bei der Celanese Emulsions. Besonders freute ich mich, dass ich während meines Vorstellungsgespräches gefragt wurde, ob ich mich selbst eher in der Forschung oder in der Anwendungstechnik mit direktem Kundenkontakt sehen könnte. Die Antwort fiel mir nicht schwer, und so eröffnete sich für mich die Möglichkeit, meine kommunikativen Fähigkeiten, gepaart mit meinem Chemiehintergrund in der Rolle als Laborleiterin der Anwendungsentwicklung einzubringen. Nach einer großzügigen Einarbeitungszeit von vier Monaten in der Forschung zu dem Thema Emulsionspolymerisation nahm ich meinen Platz in der Anwendungstechnik mit Projekten zum Thema Klebrohstoffe ein. Als besondere Herausforderungen stellten sich hierbei das Anleiten eines eigenen Labors, der Umgang mit Patenten sowie das Erlernen und Beachten diverser rechtlicher Direktiven und Regularien heraus.

Seit zwei Jahren stelle ich nun in meiner Position das Bindeglied zwischen der Forschungs- und Entwicklungseinheit sowie der Anwendungstechnik dar. Dies bedeutet für mich einerseits, die enge Zusammenarbeit und Kommunikation mit den Forschern in verschiedenen Projekten sowie andererseits die Abstimmung mit dem Marketing, den Besuch von Messen und Konferenzen und den Kontakt zu Kooperationspartnern und Kunden. Von Anfang an gefiel mir hierbei, dass ich nicht nur mitbekam, welche Innovationen wir in der Forschung entwickeln, sondern auch, wie deren Eigenschaften in der praktischen Anwendung getestet werden und darüber hinausgehend wie der Austausch mit Kunden und Instituten außerhalb des Unternehmens vonstattengeht.

Oft ist die Verwendung unserer Dispersionen im Klebstoffbereich nicht ausschließlich von deren klebetechnischen Eigenschaften abhängig, sondern wird zusätzlich von nationalen und internationalen Rechten bestimmt. Ein Thema, mit dem ich mich in diesem Bereich besonders auseinandersetze, ist die lebensmittelrechtliche Betrachtung von Verpackungsklebstoffen. So muss verhindert werden, dass unerwünschte Substanzen aus dem Verpackungsmaterial in das Lebensmittel migrieren beziehungsweise dies nur in vorgeschriebenen Grenzwerten vorkommt. Um das Migrationspotenzial unserer Dispersionen abschätzen zu können, haben wir deshalb im letzten Jahr von einem akkreditierten Institut Migrationsmessungen durchführen lassen. Die positiven Ergebnisse konnte ich dann auf der „World Adhesives Conference“ in Paris während eines Vortrages präsentieren.

Über den Tellerrand schauen
Zusätzlich zu meinen täglichen Aufgaben im Unternehmen bin ich seit Juni 2012 gewähltes Mitglied der Technischen Kommission für Papier und Verpackungsklebstoffe des Klebstoffverbandes IVK. Dieses Amt hat mir sehr geholfen, mich in die Thematik „Lebensmittelkontaktklebstoffe“ einzuarbeiten. Zusätzlich ermöglichte es mir, über meinen eigenen Tellerrand hinauszublicken und erneut mit interessanten Menschen in Kontakt zu kommen.

Lebensmittelrechtlicher Status von Klebstoffen

Unter Migration wird im Bereich der Chemie das Wandern niedermolekularer Stoffe, wie beispielsweise von Weichmachern, an die Oberfläche von Kunststoffen oder in umgebende Stoffe bezeichnet. Dies ist in toxikologischer Hinsicht besonders relevant bei Lebensmittelverpackungen, Arzneimitteln und Spielzeug.

Der lebensmittelrechtliche Status von Klebstoffen besagt, dass der „Inverkehrbringer“ verpackter Lebensmittel eine gesamtheitliche Entscheidung treffen muss, ob ein Material und/oder ein Gegenstand unbedenklich ist im Sinne der Verordnung EG Nr. 1935/2004 des europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Oktober 2004 über Materialien und Gegenstände, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in Berührung zu kommen. Hierzu benötigt er von allen Partnern ausreichend Informationen.

Quelle: www.klebstoffe.com

Jung und erfolgreich bei: Daiichi Sankyo

Name: Dr. Ilona Schreck
Position: Wissenschaftlerin
Stadt: Martinsried (bei München)
Alter: 32
Studiengang: Biologie
Abschlusszeitpunkt: Diplom (Biologie) im Okt. 2005, Promotion im Dez. 2009
Interessen: Sport, Reisen
Berufliches Ziel: weiterhin an spannenden Projekten arbeiten

„Alle Ding‘ sind Gift und nichts ist ohn‘ Gift; allein die Dosis macht, dass ein Ding‘ kein Gift ist.“ Dieses Zitat von Paracelsus begleitet mich schon seit Beginn meines beruflichen Werdegangs. Die Wirkung und damit immer verbunden auch die Toxizität von Substanzen auf den menschlichen Körper faszinieren mich sehr.

Das Interesse an der Pharmakologie und vor allem der Toxikologie wurde während meines Biologiestudiums an der Albert-Ludwig-Universität Freiburg geweckt. Meine Kenntnisse in der Toxikologie konnte ich während der Promotion in Karlsruhe am Institut für Toxikologie und Genetik vertiefen. Dabei untersuchte ich die Wirkung von Umweltgiften auf die Zelle, speziell die Erbgut schädigende Wirkung und das damit verbundene Krebsrisiko. In einer anschließenden zweijährigen Post-doc- Stelle am selben Institut war ich an der Etablierung eines Verfahrens beteiligt, dass die toxische Wirkung von Substanzen im Hochdurchsatzverfahren analysieren kann. Während dieser Zeit bin ich schließlich über eine Online- Stellenanzeige auf das japanische Pharmaunternehmen Daiichi Sankyo aufmerksam geworden.

Seit einem Jahr bin ich nun als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung ADME/TOX (Administration, Distribution, Metabolism, Excretion und Toxikologie) des Tissue and Cell Research Center München (TCRM) tätig, welches zu Daiichi Sankyo gehört. Auch in meiner jetzigen Tätigkeit habe ich mit den Begriffen Dosis, Wirkung und Toxizität täglich zu tun. Die Untersuchung von Parametern, wie ein Medikament aufgenommen, im Körper verteilt, abgebaut und ausgeschieden wird, spielt bei der Entwicklung von neuen Arzneistoffen eine wichtige Rolle. Auch mögliche toxische Nebenwirkungen sollten vor dem Einsatz am Menschen geklärt sein. Für unsere Untersuchungen verwenden wir im TCRM hauptsächlich menschliches Gewebe und Zellen.

Meine Aufgaben bestehen vor allem darin, Wirkstoffinteraktionen, also Wechselwirkungen mit anderen Arzneistoffen oder körpereigenen Stoffwechselprozessen und daraus resultierende Nebenwirkungen, sowie eine mögliche Toxizität der Substanzen zu identifizieren. An der Arbeit begeistert mich vor allem die Verbindung von praktischem Arbeiten, eigenverantwortlichem Projektmanagement und der intensive Kontakt mit unseren japanischen Kollegen.

Für die Zukunft wünsche ich mir weitere spannende Herausforderungen im Bereich der Wirkstoffentwicklung, mit dem Ziel, Arzneimittel sicherer zu machen.

„In der Biologie liegt die Hoffnung“

Interview mit Dr. Andreas Weber

Dr. Andreas Weber, Biologe, Philosoph und Publizist, glaubt daran, dass Naturwissenschaften die Welt verbessern können. Die Voraussetzung: die Disziplinen nicht rein technisch und objektiv deuten, sondern immer das Leben und die großen Zusammenhänge im Blick behalten. Die Fragen stellte André Boße.

Herr Dr. Weber, heute hat fast jedes Unternehmen ein Nachhaltigkeitskonzept oder einen Green-Business-Plan. Nehmen Sie das ernst – oder sind das nur schöne Worte?
Ich nehme das sehr ernst. Nicht unbedingt wegen der schönen Formulierungen, sondern weil in den großen Unternehmen auch auf Führungspositionen hochintelligente Menschen sitzen, die entdeckt haben, dass wir uns eine andere Auffassung von der Wirklichkeit erarbeiten müssen. Hinzu kommt, dass es immer mehr kleine und alternative Unternehmen gibt, die anders wirtschaften und damit Erfolg haben.

Was bedeutet „anders“?
Ihnen geht es um gutes Wirtschaften, das die Gemeinschaft bereichert. Ich glaube an die Kraft starker Individuen, die in innovativen Start-ups, aber auch innerhalb eines Konzerns am Wandel mitarbeiten.

Paradox: Immer mehr sehen, dass sich etwas ändern muss. Doch gehandelt wird nur sehr zögerlich.
Diese Diskrepanz ist riesengroß. Wer als Einsteiger erkennt, dass der sozioökonomische Wandel nötig ist, kann in Konzernen tatsächlich daran verzweifeln, wie langsam diese Erkenntnis in unternehmerisches Handeln umgesetzt wird. Daher empfehle ich Einsteigern, zunächst einmal für sich selber herauszufinden, wer sie sind und sein möchten. Hat man darauf eine Antwort gefunden, geht es darum, eben genau so zu sein.

Woran erkenne ich denn, wer ich bin und was ich will?
Das ist in der Tat gar nicht so einfach. Wer jung ist und in einem Unternehmen einsteigt, erkennt vielleicht lange gar nicht, dass er etwas tut, das gar nicht seinem Bedürfnis entspricht. Aber irgendwann fliegt das auf. Und dann kommt es zu Burnout und Mobbing, Aggressionen und sogar Depressionen. Ich empfehle daher, sich früh einen guten Coach zu suchen. Jemanden, der gut zuhören kann – und mit dem man sich zusammen auf die Suche nach sich selbst macht.

Wenn ich nun als Naturwissenschaftler feststelle, dass ich mit daran arbeiten möchte, eine bessere Welt zu gestalten …
… dann muss ich in die Wirtschaft, denn sie ist die Schlüsselstelle für die großen Veränderungen. Gandhi hat gesagt: „Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.“

Glauben Sie als Biologe, dass Erkenntnisse dieser Disziplin in der Lage sind, für einen sauberen und nachhaltigen Fortschritt zu sorgen?
In der Biologie liegt eine große Hoffnung, aber nur dann, wenn wir beginnen, sie richtig zu verstehen. Das heißt, dass wir biologische Vorgänge nicht zuerst als Beispiele technischer Effizienz verstehen, sondern als Manifestation von Lebensgeschichten. Biotechnik ist Technologie als Lebensleistung von fühlenden Subjekten und kann daher nicht ohne die Dimensionen von Sinn, Gemeinschaft und Gegenseitigkeit gedacht werden. Wenn wir uns nur technisch an der Biologie orientieren, werden wir Irrtümer begehen und schon begangene multiplizieren – wie etwa in der grünen Gentechnik, die die schlimmsten Herbizidresistenzen bei Unkäutern hervorgebracht hat, die es je gab.

Junge Naturwissenschaftler stehen vor dem Spagat, die eigenen Werte und die eigene Verantwortung für das Tun mit den Forderungen der Unternehmen nach Effizienz und schnellen Lösungen zu vereinbaren. Wie kann das gelingen – gerade, wenn man als Naturwissenschaftler den Anspruch hat, die Welt zu verbessern?
Das kann nur gelingen, wenn jeder der Stimme seiner eigenen Integrität gehorcht. Die Effizienz-Orientierung ist eine Sirenenstimme, die dazu aufruft, den Blick für die eigene und fremde Lebendigkeit zu verlieren. Die große Hoffnung liegt darin zu erkennen, dass weder Physik noch Biologie objektive Wissenschaften sind, sondern den Beobachter zu einem untrennbaren Teil des Geschehens machen.

Warum ist es für naturwissenschaftliche Talente wichtig, sich komplett anderen Dingen zu öffnen, zum Beispiel der Kunst und Kultur?
Es ist vor allem wichtig, dass sich die Naturwissenschaften den in ihnen bereits enthaltenen Dimensionen öffnen. Nehmen Sie die Quantenmechanik. Aus ihr geht klar hervor, dass jedes Ereignis im Universum mit allen anderen verbunden ist. Das ist seit 100 Jahren Standard – und doch verhalten sich alle so, als gelte noch das Newton’sche Universum, das zwischen Gesetzen und Dingen trennt, zwischen Beobachtern und Objekten. Die Biologie zeigt, dass jeder Lebensvorgang auch ein Ausdrucksgeschehen ist. In diesem Sinne ist die Kunst nichts dem Leben Fremdes, sondern die menschliche Variante einer grundsätzlichen Tatsache.

Bücher von Andreas Weber

Biokapital. Die Versöhnung von Ökonomie, Natur und Menschlichkeit.
Berlin Verlag 2008. ISBN 978-3827007926. 9,95 Euro.

Minima Animalia. Ein Stundenbuch der Natur.
Think oya 2012. ISBN 978-3927369689. 22,80 Euro.

Chemiepreis mit Reifezeugnis

Der Meyer-Galow-Preis für Wirtschaftschemie ist kein Wissenschaftspreis. Er verbindet Chemieforschung und Markteinführung – und legt Kriterien an, anhand derer sich glatt ein Karriereplan aufbauen ließe. Im März 2013 wurde er das erste Mal in Wuppertal verliehen – an die Chemikerin Dr. Susanne Röhrig. Von Petrina Engelke.

Gelassenheit, Heiterkeit, Mitgefühl: Diese Eigenschaften müssen Chemiker vorweisen können, die sich Hoffnungen auf einen Meyer-Galow-Preis machen. Doch für Luschen ist das nichts. „Wenn wir alle beschließen, dass wir uns auf die Matte setzen und nur noch meditieren, dann bricht die ganze Volkswirtschaft zusammen“, sagt Prof. Dr. Erhard Meyer-Galow, Stifter des Preises. „Ich bin für fleißiges Arbeiten, viel lernen, auch leisten, aber eben mit einer inneren Haltung, die zu einem äußeren Erfolg führt, der mir und auch anderen inneren Frieden bringt und niemandem schadet.“ So zeichnet seine Stiftung Chemiker aus, die etwas an den Markt gebracht haben, das die Menschheit dringend braucht und das nachhaltig angelegt ist. Zudem müssen sie als Forscher, Erfinder oder Marktgenies obendrein besagte innere Reife mitbringen.

Für diese Kriterien findet sich in Meyer- Galows eigener Karriere erst einmal gar keine Zeit. Mit 26 ist er schon promovierter Chemiker, leitet bald die Forschung für die Gewinnung von Nichteisenmetallen aus Manganknollen vom Boden des Pazifiks und rast von dort stets im Schnellverfahren ins Top- Management. Doch mit Mitte 40 verliert er seinen Vorstandsposten, auch seine Bilderbuch-Ehe zerbricht. Mit der Krise kommt die Sinnfrage, und für Meyer-Galow führt sie nicht nur zu 25 Minuten Zen-Meditation pro Tag, sondern auch zu einem neuen Lebens- und Managementstil, den er in seinem Buch „Leben im goldenen Wind“ beschreibt.

Buchtipp

Erhard Meyer-Galow: Leben im Goldenen Wind.
Frieling & Huffmann 2011. ISBN 978-3828029460. 26,90 Euro
www.leben-im-goldenen-wind.de

Während des Schreibens keimt die Idee, einen Preis zu stiften. „Wir leben in einer Zeit, in der Manager auf der Beliebtheitsskala kurz vor den Politikern stehen, also ganz unten“, stellt Meyer- Galow fest. „Ich setze mit dem Preis ein Zeichen, um sichtbar zu machen, wie Chemie in den Markt gebracht wird, welche Innovationen mir wichtig sind und wie Leute meiner Vorstellung nach in dieser Industrie künftig wirken sollten.“

2012 schrieb er diesen Preis zum ersten Mal aus. Bewerben kann sich niemand, Kandidaten müssen von anderen vorgeschlagen werden. Zusammen mit einem fünfköpfigen wissenschaftlichen Beirat filtert Meyer-Galow aus den Vorschlägen zunächst die drei besten Innovationsleistungen. Die definiert er so: „Es gibt viele Produkte aus der Chemie, bei denen es ganz nett ist, sie zu haben, zum Beispiel Duftstoffe und Deos. Aber wir zeichnen etwas aus, auf das die Menschen warten, weil die derzeitige Situation absolut unbefriedigend ist.“

Preisträgerin 2012

Dr. Susanne Röhrig, Foto: Bayer HealthCare
Dr. Susanne Röhrig, Foto: Bayer HealthCare

Der Meyer-Galow-Preis für Wirtschaftschemie 2012 wurde am 19. März 2013 in Wuppertal an die Chemikerin Dr. Susanne Röhrig von Bayer HealthCare verliehen. Die 43-Jährige wurde für ihren Beitrag bei der Entdeckung und Entwicklung des neuartigen Gerinnungshemmers Rivaroxaban ausgezeichnet.

Im ersten Auswahlverfahren erfüllte ein Medikament die Vorgabe. Die Gesundheits-Chemikerin Susanne Röhrig hat aus ihrer Forschung heraus einen oralen Thrombose-Hemmer entwickelt. Mit marktüblichen Medikamenten für Thrombosen und Embolien gab es zuvor Dosierungsprobleme, für manche Altersgruppen waren sie sogar zu gefährlich. So holte ihr Produkt hohe Jury-Bewertungen beim Kriterium, der Gesellschaft etwas dringend Nötiges beschert zu haben. Doch zunächst standen noch zwei weitere, ebenso beeindruckende Innovationen auf der Kandidatenliste. Meyer-Galow führte ausführliche Gespräche mit den dreien, begleitete sie einen Tag lang bei der Arbeit, nahm ihren Führungsstil ebenso wie ihre Einstellung zum Leben unter die Lupe. Am Ende machte der menschliche Faktor Susanne Röhrig zur Siegerin: Im März 2013 erhielt sie den Preis. „Frau Röhrig hat über mehrere Jahre beharrlich Synthesewege gesucht für ein Molekül, obwohl die Wissenschafts- Community weltweit gesagt hat: Das kann gar nicht klappen. Sie hat trotzdem immer weitergemacht.“

Ein solcher Erfolg hat eben viel mit dem Charakter zu tun. Meyer-Galow rät deshalb dazu, die innere Entwicklung bewusst voranzutreiben. Und zwar täglich. Mit Zen-Meditation oder Gebet, Cello-Spielen oder intensivem Musikhören, aufmerksamem Waldspaziergang und so fort. „Wenn Sie Ihre menschliche Reifeentwicklung fördern, verlieren Sie auch in Ihrer Karriere nicht so viel Energie“, sagt Meyer Galow. „Sie suchen stets Win-Win-Situationen, andere spüren diese große Empathie, und das macht Sie prädestiniert für den Business-Erfolg.“

Zudem schärfen tägliche Achtsamkeitsübungen die Fähigkeiten beim Setzen von Prioritäten immens, so Meyer- Galow. Sie bereiten den Nährboden für Führungsqualitäten und schaffen die Voraussetzung, um Intuition fließen zu lassen. Das hält Meyer-Galow gerade bei Chemikern für wichtig. „Naturwissenschaftler sind sehr kopflastig. Aber die Intuition kommt nicht aus dem Kopf. Sie kommt aus einem Raum, den die Quantenphysik nach Heisenberg und Dürr das leere, kooperative Hintergrundfeld nennt.“

Bei vielen Managern aus Meyer-Galows Generation musste erst eine Krise kommen, ehe sie sich mit diesem Raum und sich selbst befassten. Ganz anders beim Nachwuchs: „Die Generation Y ist sehr fleißig, sehr begabt, aber sie fragt auch danach, wo sie arbeitet, welchen Sinn das hat, ob sie genug Freiraum hat für Familie und Freunde, inneres Wachstum und Hobbys.“ Nach Meyer- Galows Auffassung hat sie damit gute Chancen auf Erfolg.

Der Meyer-Galow-Preis für Wirtschaftschemie

Prof. Dr. Erhard Meyer-Galow, Foto: Privat
Prof. Dr. Erhard Meyer-Galow, Foto: Privat
  • Vergabe: jährlich, Vorschläge jeweils bis 1. Juli
  • Kandidaten: müssen von anderen vorgeschlagen werden und im deutschen Sprachraum arbeiten
  • Leistung: Chemische Produkt- oder Prozessinnovation erfolgreich am Markt eingeführt
  • Auswahlkriterien: Nachhaltigkeit des Produkts/Prozesses; Notwendigkeit für die Gesellschaft; menschliche Reife des Kandidaten
  • Jury: Prof. Dr. Erhard Meyer-Galow und ein fünfköpfiger wissenschaftlicher Beirat
  • Preisgeld: 10.000 Euro

Bakterien beim Plaudern stören

Thien Ngoc Tran Nguyen studiert in Tübingen Medizin und schreibt ihre Doktorarbeit über die Bekämpfung von Bakterieninfektionen. Für ihren Vortrag über ihr Forschungsgebiet erhielt sie beim FameLab- Wettbewerb in Deutschland den ersten Preis. Von Christiane Martin

Thien Ngoc Tran Nguyen, Foto: Stadtmarketing Karlsruhe GmbH
Thien Ngoc Tran Nguyen, Foto: Stadtmarketing Karlsruhe GmbH

Kopf: Thien Ngoc Tran Nguyen,
22 Jahre, Medizinstudentin und FameLab-Gewinnerin in Deutschland 2013

Mit einer runden kugelförmigen Deckenlampe und einer Lichterkette schafft Thien Ngoc Tran Nguyen es in drei Minuten auch medizinischen Laien zu erklären, wie man verhindern kann, dass winzig kleine Staphylococcus-Bakterien uns mit Pickeln, Entzündungen und Vergiftungen quälen. „Man stört ihre Kommunikation – ganz einfach“, erklärt die 22-jährige Medizinstudentin in ihrem Kurzvortrag beim FameLab-Wettbewerb – einem internationalen Wettbewerb für Wissenschaftskommunikation – im März 2013 in Bielefeld, und sie schwenkt die Lampe. „Wir wissen, dass die Bakterien sich über Botenstoffe verständigen. Um das sichtbar zu machen, kann man fluoreszierende Farbstoffe in das Bakterium einschleusen“, fährt Tran fort und knipst die Lichterkette im Inneren der Lampe an. Nun sehe man, was die Bakterien tun, und könne sie gezielt stören. Das Publikum belohnt den anschaulichen Vortrag mit Applaus, der FameLab-Veranstalter mit dem ersten Preis beim Deutschland-Finale.

Mit Peter Higgs im VIP-Raum
„Ich war total sprachlos“, erinnert sich Tran. „Und natürlich glücklich.“ Schließlich bedeutete ihr Sieg in Bielefeld, dass sie am internationalen Finale in Cheltenham teilnehmen durfte. Hier trafen sich im Juni 2013 die Gewinner von 21 Länder-Wettbewerben – überwiegend aus Europa, aber etwa auch aus Hongkong –, um ihr Forschungsgebiet, dieses Mal in Englisch, wortgewandt und verständlich in drei Minuten zu beschreiben. „Auch wenn ich in Cheltenham keinen Preis bekommen habe – dabeisein war alles“, sagt Tran. Im VIP-Raum habe sie James Watson, den Entdecker der DNA, und den berühmten Physiker Peter Higgs kennengelernt. „Schon dafür hat es sich gelohnt“, resümiert sie lachend.

Die Tübinger Medizinstudentin war im Rahmen eines Promotionskollegs ihrer Universität auf den FameLab-Wettbewerb gestoßen und empfiehlt die Teilnahme jedem ihrer Kommilitonen, der – wie sie – gern über sein Forschungsgebiet spricht. „Das, was man erforscht, will man auch kommunizieren. Man ist begeistert davon, gefesselt und will es vermitteln. Das geht bei FameLab hervorragend“, sagt Tran.

Neuartige Medikamente entwickeln
Die Faszination für ihre Forschung liegt auf der Hand, wenn man die große Relevanz für zukünftige Behandlungsmethoden von Infektionen berücksichtigt. Thien Ngoc Tran Nguyen ist Doktorandin am Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene an der Uniklinik Tübingen. Bis zum Frühjahr 2014 wird sie sich noch ganz den Staphylococcus-Bakterien und deren Kommunikation widmen. Grundlagenforschung nennt man das, was Tran im Kreise ihrer Kollegen betreibt. „Wir stehen noch ganz am Anfang, aber Ziel ist es, irgendwann ganz neuartige Medikamente zur Behandlung von bakteriellen Infektionen zu entwickeln“, erklärt die angehende Doktorin der Medizin. Im Gegensatz zu Antibiotika, die die Bakterien – gute wie schlechte – zerstören, sollen die neuen Medikamente einfach nur die Rezeptoren für die Botenstoffe blockieren, so die Kommunikation der Bakterien verhindern und sie unschädlich machen. „Die Staphys sind nämlich nur im Team stark“, bringt Tran es mal wieder kurz und knackig auf den Punkt.

Dass sie sich für die Bekämpfung von Infektionskrankheiten interessiert, hat einen praktischen Hintergrund: Tran kann sich gut vorstellen, später mal in einem Entwicklungsland zu arbeiten. „Am liebsten in Vietnam, wo meine Eltern herkommen“, sagt sie. In Ländern wie diesem würden Infektionskrankheiten eine große Rolle spielen. Aber auch in Deutschland sei der Kampf gegen Bakterien längst nicht gewonnen, wie die immer häufiger auftretenden multiresistenten Erreger zeigen würden. Es bleibt also dort wie hier genug zu tun für engagierte Forscher wie Thien Ngoc Tran Nguyen.

FameLab

FameLab ist ein vom British Council veranstalteter internationaler Wettbewerb für Wissenschaftskommunikation, der seit 2011 auch in Deutschland ausgetragen wird. Unter dem Motto „Talking Science“ stehen hier Wissenschaftler auf der Bühne und vermitteln einem öffentlichen Publikum von Laien möglichst unterhaltsam und verständlich – und in lediglich drei Minuten – ihr Forschungsgebiet. Zur Präsentation ist nur erlaubt, was am Körper getragen werden kann – sei es ein Kontrabass, ein aufblasbarer Delfin oder eine Lampe plus eine Lichterkette wie im Fall der diesjährigen Deutschlandsiegerin Thien Ngoc Tran Nguyen.

Filmtipp

Videos der diesjährigen Vorträge und weitere Infos unter: www.famelab-germany.de

Interview mit Dr. Dahai Yu

Der Internationale

Dr. Dahai Yu wurde in Shanghai geboren und studierte Chemie in Hamburg. Heute sitzt er im Vorstand des Spezialchemiekonzerns Evonik Industries. Für das Unternehmen ist Asien und insbesondere China ein enorm wichtiger Markt. Als Experte für Deutschland und China erklärt der 52-Jährige, worauf es bei internationalen Forscherkarrieren ankommt und wie Spezialchemie auf globale Megatrends reagiert. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Dr. Dahai Yu wurde am 1. August 1961 in Shanghai geboren. Ab 1981 studierte er an der Uni Hamburg Chemie, nach dem Diplom 1986 promovierte er 1989. Seine Konzernkarriere begann er 1990 als Laborleiter Zentralfoschung bei der Degussa. Nach weiteren Stationen wurde er 1999 Direktor Unternehmensentwicklung, von 2001 bis 2003 leitete er das Controlling des Unternehmensbereiches Fine & Industrial Chemicals. 2006 ging Dahai Yu für fünf Jahre als Präsident Evonik Greater China Region zurück in seine Geburtsstadt Shanghai. 2011 kehrte der 52-Jährige nach Deutschland zurück und ist seitdem Mitglied des Vorstands des Essener Konzerns.

Herr Dr. Yu, das Unternehmen Degussa – die Wurzel für das heutige Spezialchemiegeschäft von Evonik – wagte schon in den 1930er-Jahren den Weg nach China und war damit ein Pionier der Globalisierung. Zahlt sich dieser zeitliche Vorsprung noch heute aus?
Unsere Vorgängergesellschaften haben in der asiatischen Region viele Handelsbeziehungen aufgenommen, von denen wir noch heute profitieren. Mit der Herstellung von Spezialchemikalien in Asien hat Evonik dann bereits Ende der 1970er-Jahre begonnen. Viele weitere Aktivitäten folgten, heute haben wir in China eine starke Präsenz und sind an rund zehn Produktionsstandorten aktiv. Asien macht 40 Prozent des weltweiten Spezialchemiemarktes aus und verspricht – gerade in China – überdurchschnittliche Wachstumsraten. Das ist natürlich ein riesiges Potenzial.

Für den deutschen Chemikernachwuchs ist es also durchaus angebracht, sich Gedanken über einen Karriereschritt nach China oder Asien zu machen?
Auf jeden Fall, denn China ist als ein globaler Wachstumsmarkt gerade auch für viele junge Nachwuchschemiker interessant. Ich kann generell nur jedem empfehlen, einige Zeit im Ausland zu verbringen – das gilt nicht nur für China.

Was bringt ein Auslandsaufenthalt konkret?
Es ist von Bedeutung, die kulturellen und geschäftlichen Unterschiede in den verschiedenen Weltregionen zu erkunden. Daraus ergeben sich Chancen, die man später für seine persönliche Weiterentwicklung nutzen kann.

Wie fördern Sie im Unternehmen internationale Karrieren und worauf kommt es dabei an?
Unsere Forschungs- und Entwicklungsabteilung ist weltweit dezentral an mehr als 35 Standorten aufgestellt und orientiert sich eng an den Bedürfnissen der jeweiligen Märkte und Kunden. Zudem fördern wir den internationalen Einsatz unserer Mitarbeiter durch gezielte Talententwicklungsprogramme. Besonders mit Blick auf China gilt: Eine gute Personalentwicklung und loyale Mitarbeiter, die sich sehr eng mit dem Unternehmen identifizieren, sind auch ein wichtiger Faktor beim Schutz des geistigen Eigentums. Denn natürlich müssen wir auch in China selbst Forschung und Entwicklung betreiben; aktuell investieren wir erneut mehr als 20 Millionen Euro in die Erweiterung unseres Forschungszentrums in Shanghai, das wir im Herbst eröffnen wollen.

Sie kennen das Know-how und die Mentalität von Forschern und Entwicklern aus Deutschland und China. Wo liegen die Unterschiede?
Ich bin tatsächlich oft in China. Für die asiatischen Kollegen ist es wichtig zu sehen, dass sich der Vorstand aus der deutschen Konzernzentrale auch um die Kollegen vor Ort kümmert – das gilt nicht nur für die Forschung und Entwicklung, sondern für alle Abteilungen. Generell ist es wichtig, als Führungskraft in China im Gespräch „größere Ohren und einen kleineren Mund“ zu haben. Und man sollte auch zwischen den Zeilen lesen können. Ein deutlicher Unterschied zwischen Deutschland und China ist auf jeden Fall die stärkere Emotionalität im Geschäftsleben: Asiaten wollen nicht nur wissen, was ihr Gegenüber im Business ausmacht, sondern auch, was ihn als Menschen auszeichnet.

Warum ist die Spezialchemie in Ihren Augen eine wichtige Schlüsselindustrie für die Zukunft?
Die Spezialchemie leistet einen wichtigen Beitrag für globale Megatrends. Genauso haben wir uns als Unternehmen darauf eingestellt und vier starke globale Megatrends erkannt, bei denen wir mit unserem Spezialchemiegeschäft und unseren Produkten eine gewichtige Rolle spielen: Gesundheit, Ernährung, Ressourceneffizienz und Globalisierung. Die Menschen in Asien geben immer mehr Geld für Gesundheitsvorsorge, Körperpflege und gesunde Ernährung aus. Mit der zunehmenden Weltbevölkerung wächst der Bedarf an sparsamen Verfahren, die die Ressourcen schonen. Und als vierter Punkt führt die Globalisierung dazu, dass sich Produkte verändern und klassische Werkstoffe durch neue Materialien ersetzt werden. Überall hier kann und wird die Spezialchemie ihren Beitrag leisten.

Wobei die Spezialchemie häufig eher versteckt und in der zweiten Reihe stehend wichtige Innovationen vorantreibt.
Ja, nehmen Sie moderne Autoreifen: Als weltweit einziger Hersteller bieten wir der Reifenindustrie das Verstärkungssystem Silica und Organosilan an. Ohne diese Komponenten lässt sich der Rollwiderstand nicht verringern – und je niedriger der Rollwiderstand, desto geringer der Spritbedarf und damit auch die Kohlendioxidemissionen. Ein anderes Beispiel sind unsere Aminosäuren: Wir bieten alle vier wichtigen Aminosäuren für die Tierernährung an, Methionin, Lysin, Threonin und Tryptophan – wobei wir einige dieser Aminosäuren fermentativ herstellen, also auf biotechnologischer Basis.

Sie waren von 2001 bis 2003 auch im Controlling tätig. Wie kann es gelingen, Forschung und Entwicklung auf der einen und Budgetierung und ökonomische Effizienz auf der anderen Seite zusammenzubringen? Sollte sich ein junger Chemiker dafür BWL-Wissen aneignen?
Es geht nicht um reines BWL-Wissen. Als global aufgestelltes Unternehmen tut man gut daran, die Entwicklung unserer jungen Führungskräfte durch gezielte Maßnahmen zu fördern. Das machen wir mit einem umfassenden Ansatz, der die Mitarbeiter langfristig ans Unternehmen binden soll. In China spielt beispielsweise die Zusammenarbeit mit der in Shanghai ansässigen China Europe International Business School eine wichtige Rolle.

Sie haben als Vorstand sicherlich einen vollen Kalender mit vielen Businessterminen. Längst ist der Anzug Ihre Berufskleidung – nicht mehr der weiße Kittel. Vermissen Sie die Arbeit im Labor?
Ich stehe heute tatsächlich nicht mehr selbst im Labor und forsche. Die Zeit als Forscher war sehr interessant und erfüllend und meine jetzige Aufgabe als Vorstand ist auch wichtig. Ich halte es für sehr wichtig, den Kontakt zu unseren Mitarbeitern und Kunden zu pflegen. Wo immer es möglich ist, spreche ich mit ihnen über ihre Arbeit beziehungsweise Geschäfte, ihre Ziele und Projekte. Die Eindrücke, die ich dabei gewinne, bilden eine wichtige Grundlage für meine Entscheidungen.

Zum Unternehmen

Evonik Industries mit Sitz in Essen ist ein weltweit führendes Unternehmen der Spezialchemie. Der Konzern ist global tätig und verfügt über Produktionsanlagen in 24 Ländern. Das Unternehmen fasst seine Spezialchemie in drei Bereichen zusammen: Das Segment „Consumer, Health & Nutrition“ produziert Spezialchemie schwerpunktmäßig für Anwendungen in Konsumgütern, in der Tierernährung und im Pharmabereich. Das Segment „Resource Efficiency“ bietet umweltfreundliche und energiesparende Systemlösungen. Im Fokus des Segments „Specialty Materials“ steht die Herstellung von polymeren Werkstoffen und Zwischenprodukten, insbesondere für die Kunststoff- und Gummi-Industrie. Evonik beschäftigt derzeit weltweit rund 33.000 Mitarbeiter, darunter rund 2500 Mitarbeiter in den F&E-Abteilungen an 35 Standorten.