Elektronen und Qubits

Mit den Quantencomputern stehen wir am Anfang einer vollkommen neuen Computergeneration. Durch sie verspricht man sich schneller zu Lösungen zu kommen und bisher nicht erreichbare Potenziale in Industrie und Gesellschaft zu erschließen. Von Christoph Berger

Quanteninformatiker Jun.-Prof. Dr. Sevag Gharibian von der Universität Paderborn möchte mit einem neuen Forschungsprojekt einen Beitrag zum besseren Verständnis der Quantencomputer leisten, den neuen Superrechnern. Dieser auf uns zukommenden Computergeneration wird prophezeit, dass sie herkömmliche PCs alt aussehen lässt und Probleme lösen wird, an denen selbst die besten Superrechner bislang scheitern. Nicht umsonst leisten sich die großen Tech-Unternehmen aktuell einen Wettkampf um die Entwicklung der Megarechner. Diese Aufgabe ist herausfordernd, sind Quantencomputer doch schwer zu bauen und zu programmieren. Gharibian will untersuchen, wie sich mithilfe von Quantensystemen die physikalischen Eigenschaften und Prozesse der Natur berechnen lassen. „In der Quanteninformatik arbeiten wir daran, die nächste Computergeneration zu bauen. Heutige Rechner basieren auf der klassischen Mechanik und rechnen mit Bits. Quantencomputer dagegen funktionieren auf Basis der Quantenmechanik und rechnen mit Quanten-Bits, meist Qubits genannt“, erklärt er. Während die klassische Mechanik mathematisch beschreibt, wie groß oder makroskopisch sich Objekte verhalten, widmet sich die Quantenmechanik der Welt des Allerkleinsten: Sie untersucht die mathematischen Gesetze, die bestimmen, wie klein oder subatomar Objekte wie Photonen, also winzige Lichtteilchen, agieren. Als bildhaften Vergleich wählt Gharibian einen Tennisball in Bewegung: Er kann nur an einem Ort sein und einen Zustand annehmen; kleine Objekte wie Elektronen dagegen können gleichzeitig an verschiedenen Orten und in verschiedenen Zuständen existieren. Übertragen auf die Welt der Computer bedeutet das, dass im Chip eines normalen PCs ein Bit durch einen Prozessor, ein klassisches Objekt, modelliert wird. Durch den Prozessor fließt entweder Strom oder nicht. Bei „Strom an“ nimmt das Bit den Zustand 1 an, bei „Strom aus“ den Zustand 0. Im Quantencomputer dagegen ist der Prozessor durch beispielsweise ein Elektron, ein subatomares Objekt, ersetzt. Das Bit wird dann durch das Elektron modelliert, Teil des Elektrons und zum Qubit. Das Qubit kann wie das Bit den Zustand 1 oder 0 annehmen – aber auch gleichzeitig im Zustand 1 und 0 sein sowie in theoretisch unendlichen Zuständen dazwischen. Genau diese auf den ersten Blick schwer greifbare Fähigkeit der Qubits macht Quantencomputer schneller und leistungsfähiger als bisherige Rechner.
Quantencomputer sind derzeit zum einen für die Verarbeitung großer Datenmengen und im Bereich der Kryptographie, der Wissenschaft der Verschlüsselung von Informationen, interessant.
„Quantencomputer nutzen außerdem das quantenphysikalische Phänomen der Verschränkung“, erzählt der Informatiker. So können Qubits quantenverschränkt, also miteinander verknüpft sein. Wird ein Qubit in einen bestimmten Zustand gebracht, ändert sich auch der Zustand der anderen mit ihm verbundenen Qubits. Das geschieht mit Überlichtgeschwindigkeit. Wenn mehrere Qubits miteinander quantenverschränkt sind, kann auch der Quantencomputer mit Überlichtgeschwindigkeit und damit deutlich schneller als aktuelle Computer rechnen. „Quantencomputer sind derzeit zum einen für die Verarbeitung großer Datenmengen und im Bereich der Kryptographie, der Wissenschaft der Verschlüsselung von Informationen, interessant – beispielsweise mit dem sogenannten Shor-Algorithmus, der Mittel der Quanteninformatik nutzt. Zum anderen könnten uns Quantencomputer dabei unterstützen, die Eigenschaften der Materie besser zu verstehen. Dadurch ließen sich etwa neue Medikamente entwickeln und neuartige Nanomaterialien designen“, erklärt der Wissenschaftler. Allerdings ist vieles davon laut Gharibian noch Zukunftsmusik, denn die Entwicklung der Quantencomputer steckt noch in den Kinderschuhen. Forschern in Bristol ist es allerdings in Kooperation mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) im Bereich der absolut abhörsicheren und nicht entschlüsselbaren Kommunikation gelungen, ein Netzwerk aufzubauen, das quantenverschlüsselte Kommunikation zwischen acht Teilnehmern erlaubt. „Wir nutzen eine zentrale Quelle für verschränkte Photonen, mit der die acht Netzwerkteilnehmer über Glasfasern verbunden werden. Die Detektoren der einzelnen Teilnehmer waren für das Experiment alle im selben Raum, aber die Glasfasern, über die die Photonen ausgetauscht werden, verliefen über mehrere Kilometer durch ganz Bristol“, sagt Sören Wengerowsky, der für das Institut für Quantenoptik und Quanteninformation der ÖAW am Experiment beteiligt war. Die Quantenverschlüsselung im Netzwerk funktioniert, indem die zentrale Quelle verschränkte Photonenpaare erzeugt und dann separiert an die Netzwerkteilnehmer verteilt. Diese messen, wann Photonen eintreffen und veröffentlichen die Ankunftszeiten. Doch auch dieses Beispiel zeigt, dass die Quanteninformatik noch am Anfang steht. Ebenso die Bekanntgabe einer Kooperation zwischen der Fraunhofer- Gesellschaft und IBM aus dem März dieses Jahres, die den Zugriff der hiesigen Wirtschaft und Wissenschaft auf einen IBM-Quantencomputer zum Inhalt hat. So sollen die Technologie, Anwendungsszenarien und Algorithmen erforscht und der Kompetenzaufbau sowie Wettbewerbsvorteile generiert werden.
Europa und im Speziellen Deutschland befindet sich derzeit im weltweiten Forschungswettlauf auf Augenhöhe mit den USA und China.
Im Rahmen der Zusammenarbeit wird ein IBM Q System One Quantencomputer in einem Rechenzentrum von IBM Deutschland bei Stuttgart installiert. Das System soll zu Jahresbeginn 2021 in Betrieb gehen und wird das erste seiner Art in Europa sein. Fraunhofer plant, etablierte Partner aus Forschung und Industrie unter dem Dach einer Forschungsinfrastruktur von Fraunhofer-Instituten zusammenzubringen, die als Kompetenzzentren in einem zentral koordinierten nationalen Fraunhofer- Kompetenznetzwerk für Quantencomputing zusammenarbeiten. Dieses hat sich die Weiterentwicklung und den Transfer anwendungsorientierter Quantencomputerstrategien unter vollständiger Datenhoheit nach europäischem Recht zum Ziel gesetzt und wird zunächst mit Kompetenzzentren in voraussichtlich sechs Bundesländern vertreten sein – Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, Berlin, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Immerhin: „Europa und im Speziellen Deutschland befindet sich derzeit im weltweiten Forschungswettlauf auf Augenhöhe mit den USA und China. Das dynamische Wachstum und die vielen offenen Forschungsfragen bedeuten jedoch auch, dass es einer kontinuierlichen Forschungsförderung dieses Gebietes bedarf, um die im internationalen Vergleich gute Ausgangsposition zu halten und auszubauen“, sagt Prof. Dr. Christian Bauckhage, wissenschaftlicher Direktor des Fraunhofer-Forschungszentrums Maschinelles Lernen. Und was bedeutet das für Absolventen, stellt das Thema doch ein Zusammenspiel der Fächer Physik, Mathematik und Informatik dar? Klar ist, dass die Quantentechnologie die Zukunft entscheidend mitgestalten wird. Und da das Bundesministerium für Bildung und Forschung gezielt daran arbeitet, das Bildungsangebot mit der -nachfrage im Bereich der Quantentechnologie in Deutschland enger aufeinander abzustimmen, verheißt das hohe Bedarfe – vor allem um die Technologie von der Wissenschaft in die Praxis zu überführen.

Studiengänge zur Quantentechnologie:

Das Sprachverständnis ist entscheidend beim Programmieren

Was geht in den Köpfen von Programmierern vor, wenn sie Software schreiben? Diese Frage stellten sich Dr. Janet Siegmund, Professorin für Software Engineering an der TU Chemnitz, Dr. Sven Apel, Informatikprofessor am Lehrstuhl für Software Engineering der Universität des Saarlandes, und Dr. André Brechmann, Leiter des Speziallabors für nicht-invasive Bildgebung am Leibniz-Institut für Neurobiologie in Magdeburg.

Während Brechmann als versierter Neurowissenschaftler seine Erfahrung für Experimente in der Funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRI) und Apel als erfahrener Forscher seine Expertise im Bereich Softwareentwicklung in die Untersuchungen einbrachte, fungierte Siegmund mit ihrer interdisziplinären Expertise in Psychologie und Informatik als Bindeglied. Um eine Antwort auf die Frage zu finden, verwendeten die Wissenschaftler bildgebende Verfahren aus den Neurowissenschaften. Genauer gesagt: Das Team nutzte für die Studie die in der Neurowissenschaft bewährte Subtraktionsmethode: Dabei bearbeiten die Probanden im Magnetresonanztomographen zuerst eine Aufgabe, zu deren Lösung sie einen Programmcode-Auszug verstehen müssen. Nach einer kurzen Ruhepause sollten sie einen Code-Schnipsel auf einfache Syntaxfehler überprüfen, was für Programmierer eine Routineaufgabe darstellt, also keine Verständnisfrage war. Dieser Ablauf wurde mehrfach wiederholt. Im Anschluss wurden die Bilder der Hirnaktivität während des Bearbeitens der Routineaufgabe von den Bildern des Verständnistests subtrahiert – was übrig blieb, waren die Hirnregionen, die für den Prozess des Programmverstehens von besonderer Bedeutung sind. Die Ergebnisse stellen eine Überraschung dar, denn es konnte keine Aktivität in Richtung mathematischen oder logischen Denkens erkannt werden. Die Bilddaten zeigen dagegen deutlich, dass bei den Versuchspersonen die Areale der linken Hirnhälfte aktiviert wurden, welche vor allem mit Sprachverständnis assoziiert sind. „Unsere Forschung legt nahe, dass das Sprachverständnis eine zentrale Rolle beim Programmieren spielt. Diese Vermutung äußerte der renommierte niederländische Informatiker Edsger W. Dijkstra bereits in den 1980er-Jahren“; sagt Sven Apel. Die Ergebnisse ihrer Grundlagenforschung konnten die Wissenschaftler in der renommierten Fachzeitschrift „Communications of the ACM“ veröffentlichen, die von der weltgrößten Informatikervereinigung, der Association for Computing Machinery, herausgegeben wird. Die Erkenntnisse des interdisziplinären Teams könnten weitreichende Folgen für das Programmieren haben, etwa beim Design von Programmiersprachen, in der Programmierausbildung oder bei der Beantwortung grundlegender Fragen, etwa, was komplizierten oder einfachen Programmcode ausmacht. Das Team will jetzt herausfinden, worin sich das Programmverständnis bei Experten und Anfängern unterscheidet, also ob sie Programmcode auf verschiedene Weise lesen und interpretieren.

IT und ihre Klima-Doppelrolle

Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) sowie die Digitalisierung können bei der Erreichung der Klimaziele helfen. Fakt ist aber auch, dass der Energieverbrauch der IKT jedes Jahr steigt. Daher besteht Handlungsbedarf. Von Christoph Berger

Im Februar 2020 hatte sich der Energiekonzern Eon in einem Video auf die Suche nach dem grünsten Rechenzentrum der Welt gemacht. Gefunden wurde es im bayerischen Dorf Grotach. Allerdings ist dort keine Rechentechnik angesiedelt, in dem fiktiven Rechenzentrum werden vielmehr Holzrechen hergestellt, ganz natürlich aus Buchenholz und zum Harken von Laub. Mit dem Clip will der Konzern über die Zusammenhänge von Internetnutzung und Klimaschutz informieren. Wie folgenreich dieser Zusammenhang ist, zeigt ein Ergebnis des im 2019 vom Think- Tank The Shift Project veröffentlichten Reports „Lean ICT: Towards digital sobriety“. Für diesen wurden die Auswirkungen der IKT auf die Umwelt untersucht. So nimmt der direkte Energie-Fußabdruck, der den Energieaufwand für die Produktion und Nutzung von IKT-Ausrüstung (Server, Netzwerke, Terminals) beschreibt, jährlich um neun Prozent zu. Die Informations- und Kommunikationstechnologie verursacht weltweit 3,7 Prozent aller Treibhausgasemissionen. Die Krux: Einerseits erscheint Ländern und Unternehmen die Digitalisierung als eine absolute Notwendigkeit – auch, um den Energieverbrauch in vielen Sektoren zu reduzieren. Andererseits werden sowohl die direkten als auch die indirekten Umweltauswirkungen, die sogenannten Rebound-Effekte, im Zusammenhang mit der wachsenden Nutzung von IKT ständig unterschätzt.

Nutzung der Abwärme

Diese beiden Seiten der Digitalisierungsmedaille spiegeln sich auch in den Antworten in einer vom eco – Verband der Internetwirtschaft durchgeführten repräsentativen Umfrage wider. Demnach gehen 56 Prozent der in Deutschland Befragten davon aus, dass digitale Technologien und Anwendungen die Klimabilanz in Zukunft positiv beeinflussen können. Die größten Klimaschutz-Potenziale sehen die Befragten vor allem in den Bereichen Mobilität (32,8 %), Industrie 4.0 (20,5 %) und dem Arbeiten im Home Office (17,3 %). „Mithilfe energieeffizienter und vernetzter Maschinen, Telematik und Mobilitätskonzepten sowie smarten Tools fürs Home Office und Schooling kann die Internetwirtschaft einen entscheidenden Schritt zu mehr Nachhaltigkeit beitragen“, sagt demnach auch Oliver Süme, Vorstandsvorsitzender des Verbands. Dr. Béla Waldhauser, Sprecher der unter dem Dach des eco Verbands gegründeten Allianz zur Stärkung digitaler Infrastrukturen in Deutschland, ging im Rahmen der Vorstellung der Umfrageergebnisse zudem auf die von Bundesumweltministerin Svenja Schulze vorgestellten Pläne für mehr Energie- und Ressourceneffizienz digitaler Infrastrukturen ein. Er sagte: „Natürlich verbrauchen Rechenzentren Energie, aber man muss eben auch die enormen Einsparpotenziale, die digitale Dienste bieten, miteinbeziehen.“ Vor allem aber müsse jetzt die Energiewende in Deutschland beschleunigt und ein höherer Anteil an regenerativen Quellen verfügbar sein, wenn es tatsächlich das Ziel sei, bis 2030 den flächendeckenden klimaneutralen Betrieb von Rechenzentren in Europa zu ermöglichen. Waldhauser weiter: „Ein schnellerer, politisch gesteuerter Ausstieg aus fossilen Energieträgern in Deutschland wird zu einem wesentlich schnelleren Absinken der CO2-Emissionen der durch Rechenzentren verwendeten Energie führen.“ Schon heute würden deutsche Rechenzentren im internationalen Vergleich zu den energieeffizientesten zählen. Er fügte aber an, dass es gerade in puncto Breitbandausbau sowie der Abwärmenutzung von Rechenzentren noch Luft nach oben gebe.

Beachtung des Rohstoffeinsatzes

Wie etwa der Energieverbrauch von Rechenzentren nachhaltiger gestaltet werden kann, zeigte die diesjährige Bergung eines im Juni 2018 vor den schottischen Orkney-Inseln von Microsoft versenkten Rechenzentrums. Das Versuchsfeld im Nordatlantik wurde auch deshalb ausgesucht, weil der Strom dort zu 100 Prozent aus Wind- und Sonnenenergie sowie weiteren ökologischen Quellen erzeugt wird. Ben Cutler, Leiter des Projekts mit dem Namen Natick, denkt nun darüber nach, Unterwasser-Rechenzentren in Offshore-Windparks zu versenken, weil dort selbst bei schwachem Wind genug Elektrizität für solche Zwecke produziert wird. Für den Notfall könne man auch eine Stromleitung vom Land mit den Glasfaserkabeln bündeln, die für den Transport der Daten nötig sind. Daneben brachte die Positionierung auf dem Meeresboden noch andere Vorteile zum Vorschein: Der Meeresboden biete eine stabile und zuverlässige Betriebsumgebung, unter Wasser wären die Komponenten von Rechenzentren keiner Korrosion durch Sauerstoff und Feuchtigkeit ausgesetzt und sie müssten auch keine Temperaturschwankungen oder Erschütterungen durch Personen verkraften, die vielleicht zum Austausch von defekten Komponenten vorbeikommen, heißt es. Insgesamt sei die Ausfallrate laut Unternehmensangaben achtmal geringer als an Land gewesen. Auch ein Konsortium aus Forschung, Industrie und Wirtschaft unter der Leitung des Instituts für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung (IER) der Universität Stuttgart hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Antworten auf die Frage „Wie können Rechenzentren nachhaltiger gemacht werden?“ zu suchen. Im Forschungsprojekt „EcoRZ“ wurden Rechenzentren in Baden-Württemberg unter die Lupe genommen und der Stand der Infrastruktur erfasst sowie Potenziale zur Steigerung der Energieeffizienz, zum Einsatz erneuerbarer Energien und des sparsamen Rohstoffeinsatzes ermittelt. Parallel dazu wurden die möglichen Beiträge von Rechenzentren zur Flexibilisierung des Energiesystems analysiert und Indikatoren für die ökologische, soziale und wirtschaftliche Bewertung der Nachhaltigkeit von Rechenzentren entwickelt. Heraus kam dabei, dass das Setzen auf erneuerbare Energien zum Betreiben von Rechenzentren nur ein Mosaikstein ist. Da Rechenzentren vielmehr jedes Kilowatt an verbrauchtem Strom als Wärme wieder in die Umwelt abgeben würden, komme der Nutzung der Abwärme auf dem Weg zum nachhaltigen Rechenzentrum eine Schlüsselrolle zu. Aufseiten der Betreiber sei es wichtig, dass sie bei der Hardware konsequent auf Nachhaltigkeit achten, so die Empfehlung. Dies umfasse nicht nur den Einsatz erneuerbarer Energien, sondern auch die Materialien und Rohstoffe über die gesamte Produktionskette hinweg, also zum Beispiel einen ressourcensparenden Umgang mit seltenen Erden. Sinnvoll sei es, Nachhaltigkeit in den Leitlinien für die IT-Beschaffung zu verankern. Und auch die Wahl des Standorts könne dazu beitragen, Rechenzentren umweltfreundlicher zu machen: Geeignet seien Regionen mit vergleichsweise niedrigen Durchschnittstemperaturen. Die IKT-Branche kann also selbst noch einiges tun, um nicht nur andere Branchen auf dem Weg zu mehr Klimaschutz zu unterstützen, sondern auch, um selbst „grüner“ zu werden.

InformierT: Kultur-, Buch- und Linktipps

Die App

Cover Die App

Es klingt fast zu gut, um wahr zu sein. Hamburg-Winterhude, ein Haus mit Smart Home, alles ganz einfach per App steuerbar, jederzeit, von überall. Und dazu absolut sicher. Hendrik und Linda sind begeistert, als sie einziehen. So haben sie sich ihr gemeinsames Zuhause immer vorgestellt. Aber dann verschwindet Linda eines Nachts. Es gibt keine Nachricht, keinen Hinweis, nicht die geringste Spur. Die Polizei ist ratlos, Hendrik kurz vor dem Durchdrehen. Konnte sich in jener Nacht jemand Zutritt zum Haus verschaffen? Und wenn ja, warum hat die App nicht sofort den Alarm ausgelöst? Hendrik fühlt sich mehr und mehr beobachtet. Zu Recht, denn nicht nur die App weiß, wo er wohnt. Arno Strobel: Die App. S. Fischer 2020, 15,99 Euro.

Future Museum

Ein Museumsbesuch kann durch den intelligenten Einsatz innovativer Technologien und Smart Services deutlich aufgewertet werden und den Besuchern einen neuen Zugang zu Kunst, Wissen und Geschichte ermöglichen. Das zeigen die neuesten Forschungsergebnisse des Verbundprojekts „Future Museum“, das vom Fraunhofer IAO gemeinsam mit der Museum Booster GmbH ins Leben gerufen wurde. Ein eindimensionales Besuchererlebnis reicht dazu mittlerweile nicht mehr aus. Stattdessen rücken mediale Kommunikation, Besuchereinbindung und die Wissensvermittlung bzw. die Lernerfahrung in den Mittelpunkt. Um das Besuchererlebnis über alle vier Phasen der Visitor Journey möglichst komfortabel zu gestalten, ist der Einsatz von Technologie wie KI und Smart Services ein erfolgversprechender Lösungsansatz.

Standart Skill – Voll Verglitcht!

Cover Standart SkillFür Stanni ist es ein guter Tag. Er spielt ein paar Runden in seinem Lieblingsgame, stellt sogar fast einen Rekord auf. Doch dann verändert sich plötzlich die Spielwelt: Probleme treten auf. Er will sich ausloggen, doch es geht nicht. Stanni steckt fest – mitten in einem Videospiel! Mit einem Mal verspürt er Hunger und Durst, kann schmecken und riechen. Und sich verletzen. Was wie ein ganz normaler Tag begann, wird zum größten Abenteuer seines Lebens. Er ist gefangen im Tal Royal. Um wieder in die echte Welt zurückzukehren, muss Stanni herausfinden, was es mit den Fehlern im Spiel auf sich hat. Und er muss sich beeilen. Autor des Buchs „Voll verglitcht!“ ist Standart Skill, einer von Deutschlands bekanntesten Youtubern. Standart Skill: Voll verglitcht! Riva 2020, 14 Euro.

Das neue Land

Ein neues Land – das klingt wie eine Verheißung. Tatsächlich ist es längst da, dieses neue Land, nur muss es endlich sichtbar werden. Verena Pausder entwirft in ihrem Buch eine faszinierende Skizze der Zukunft, mutig und konsequent. Es ist der Entwurf eines Landes, das nicht mehr auf den Wohlstand der Vergangenheit setzt, sondern mit neuen Technologien, neuen Lebensentwürfen – und vor allem neuen Ideen – das Leben von uns allen verändern wird. „Das Neue Land“ ist so etwas wie die Grundsatzerklärung einer Generation, die endlich Verantwortung übernehmen und den gesellschaftlichen, politischen und ökologischen Umbau weiter vorantreiben will. Dass wir etwas ändern müssen, dass wir digitaler, innovativer, flexibler, neugieriger, mutiger und menschlicher werden müssen, ist bekannt – es mangelt nur an der Umsetzung. Verena Pausder: Das neue Land. Murmann 2020, 20 Euro.

Die digitale Seele

Cover digitale SeeleDank der atemberaubenden Fortschritte maschinellen Lernens scheint die Überwindung des Todes zum Greifen nah zu sein. Weltweit arbeiten Unternehmen daran, aus einer Fülle von Nutzerdaten digitale Doppelgänger*innen entstehen zu lassen. Während sich mehr und mehr Menschen von den Religionen abwenden und die Neurowissenschaften die Idee der Seele für erledigt erklären, erfährt der Glaube an ein Leben nach dem Tod im Digitalzeitalter eine überraschende Renaissance. In ihrem ersten gemeinsamen Buch begeben sich die preisgekrönten Filmemacher Moritz Riesewieck und Hans Block auf eine hochspannende Reise ins digitale Jenseits. Was sie dort vorfinden, ist mal berührend, mal verstörend und oft auch überraschend witzig. Immer aber schwingt die eine große Frage mit: Was passiert mit dem Menschen, wenn ihm seine letzte große Gewissheit genommen wird – die der eigenen Sterblichkeit? Moritz Riesewieck, Hans Block: Die digitale Seele. Goldmann 2020, 20 Euro.

Postdigital

Digitalisierung ist der revolutionäre, quasireligiöse Mythos unserer Zeit. Eine von künstlicher Intelligenz übernommene, in Nullen und Einsen pulverisierte Welt ist das dominante Narrativ. Es fokussiert vor allem auf technische und ökonomische Effizienzsteigerung. Es betrachtet hauptsächlich Märkte, Wettbewerbsdynamiken und den technischen Fortschritt. Doch welche Auswirkungen hat die Digitalisierung für den einzelnen Menschen, für die Gesellschaft? Wie viel Digitalisierung wollen wir in unserem Leben? Oder besser gesagt: wie wollen wir eigentlich leben? Antworten liefert das neue Buch von Andreas Philipp und David Christ. Es lotet die Digitalisierung in einem breiten gesellschaftlichen und sozialethischen Kontext aus und untermauert diesen mit interdisziplinären wissenschaftlichen Erkenntnissen. Anschaulich zeigt es konkrete und attraktive Möglichkeiten für das eigene Handeln und Entscheiden. Andreas Philipp, David Christ: Postdigital. BusinessVillage 2020, 36,95 Euro.

poesie.exe

cover poesie.exeKünstliche Intelligenz ist heute überall. Sie steckt im Smartphone, in medizinischen Geräten oder im Kühlschrank. Sie säubert unseren Haushalt und überwacht Aktienkurse. Auch künstlerische Prozesse werden immer häufiger automatisiert: Maschinen erschaffen Skulpturen, komponieren Musikstücke oder malen Bilder, die für viel Geld versteigert werden. Und natürlich schreiben sie auch Texte. Aber was heißt es, wenn wir sagen, dass eine Maschine kreativ ist? Dadurch, dass in poesie.exe zunächst die Hinweise auf die Urheberschaft des jeweiligen Textes fehlen, kommt es zu einer Art literarischem Turing-Test. Lässt sich noch unterscheiden, ob ein Text von einem Computerprogramm oder einem Menschen verfasst wurde? Und: Spielt das am Ende überhaupt eine Rolle? Dieses Buch enthält Texte von menschlichen Autorinnen und Autoren sowie von Maschinen. Fabian Navarro (Hrsg.): poesie.exe – Texte von Menschen und Maschinen. Satyr 2020, 14 Euro.

Roboter „Solo 8“

Foto: MPI für Intelligente Systeme / W. Scheible
Der vierbeinige Roboter Solo 8 springt aus einer Höhe
von 24 cm auf 65 cm hoch.. Foto: MPI für Intelligente Systeme / W. Scheible

Solo 8 ist ein neuer Forschungsroboter, der als Open-Source-Projekt in Tübingen und Stuttgart entwickelt wurde. Der hundeähnliche, drehmomentgesteuerte Vierbeiner ist zu dynamischen Bewegungen fähig. Er besteht fast ausschließlich aus 3D-gedruckten Bauteilen und kann leicht nachgebaut werden – ideal für die Grundlagenforschung in der Robotik und der Schulung junger Forscher*innen. Ziel des Projekts ist es, Robotik-Laboren auf der ganzen Welt einen leicht zu montierenden Bausatz anzubieten.

Das letzte Wort hat: Dr. Judith Rommel, Chemie-Informatikerin und Zukunftsmacherin

Selbstbestimmung ist ein hoch einzuschätzendes Gut. Und Vielfalt bereichert unsere Gesellschaft. Wegen dieser Gründe bauten Informatikstudierende der Dualen Hochschule Baden-Württemberg im Rahmen eines Forschungsprojekts eine Vermittlungsplattform für neuroatypische Menschen auf. Die Fragen stellte Christoph Berger

Zur Person

Dr. Judith Rommel, Foto: privat
Dr. Judith Rommel, Foto: privat
Dr. Judith Rommel ist innovationsfreudige Zukunftsmacherin. Sie hat in Chemieinformatik promoviert und anschließend mehrere Jahre an der Universität Cambridge in England geforscht. In dieser Zeit wurde sie unter anderem mit einem Feodor Lynen- Stipendium der Alexander von Humboldt- Stiftung ausgezeichnet. Vor kurzem ist sie, unterstützt durch die Leadership Academy der German Scholar Organisation (GSO), nach Deutschland zurückgekehrt und arbeitet momentan an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart (DHBW).
Frau Dr. Rommel, zusammen mit Studierenden des Studiengangs Informatik und in Kooperation mit dem Zentrum für Empirische Forschung bauen Sie eine Online-Vermittlungsplattform für Menschen mit außergewöhnlichen Qualitäten, Talenten und Bedürfnissen auf. Worum geht es dabei? Vereinfacht könnte man sagen, dass wir eine Plattform bauen, deren Ziel es ist, Menschen mit besonderen Bedürfnissen und sehr seltenen Qualitäten auf unkomplizierte Weise mit Arbeitgebern und Vermietern zusammenzubringen. Die Talente und Bedürfnisse fallen dabei vielfältig aus. Es gibt beispielsweise Hochbegabte, die unter anderem schnelle Querverknüpfungen identifizieren können und zugleich sensibel auf Geräusche reagieren, oder Menschen mit Allergien, die 30 Jahre Berufserfahrung mitbringen, jedoch ihren Beruf nun nicht mehr ausüben können. Unsere Plattform soll diese Arbeitnehmer mit Arbeitgebern sowie solche Mieter mit Vermietern möglichst einfach zusammenbringen. Warum braucht es für neuroatypische Menschen eine eigene Vermittlungsplattform? Neuroatypische Menschen haben spezielle Talente und spezifische Wahrnehmungsfähigkeiten, auf Grund natürlicher neurologischer Unterschiede in Gehirn und Nervensystem. Oft reagieren sie auf Umwelteinflüsse anders als neurotypische Menschen. Moderne Jobportale bieten kaum Möglichkeiten, Arbeitgeber zu finden, die solche Talente nutzen wollen und bereit sind, die Arbeitsumgebung individuellen Bedürfnissen anzupassen. Auch auf Arbeitsämtern fühlen sich diese Arbeitskräfte oft allein gelassen. Betroffenen droht im schlimmsten Fall Frühverrentung, oder sie werden trotz ihrer enormen mentalen Leistungsfähigkeit für schwerbehindert erklärt. In unserer Marktforschung konnten wir feststellen, dass solche Fälle häufiger vorkommen als gemeinhin angenommen. Menschen mit Allergien, Sensibilitäten oder außergewöhnlichen Begabungen gibt es zu tausenden, aber keine Plattform, die sich diesen Problemen annimmt und zufriedenstellende Win-Win Situationen beim Wohnen und Arbeiten ermöglicht. Jeder Mensch kann ja in eine solche Situation kommen. Wir kennen alle Geschichten von Bäckern mit Mehlallergien, machen uns aber kein Bild davon, wie hoch der Anteil an Menschen ist, die einen gesundheitsbedingten Bruch in der Arbeitsbiographie erleben. Hierzu zählen Chemikalienallergien oder physische Verschleißerscheinungen, auch die psychischen Erkrankungen nehmen zu. Häufig stehen diese Arbeitskräfte mit einer immensen Berufserfahrung auf der Straße. Auf einem überhitzten Wohnungsmarkt und einem durch Corona unter Druck geratenen Arbeitsmarkt ist es zudem eine riesige Herausforderung, bezahlbaren Wohnraum und einen Arbeitsplatz parallel zu finden. Deshalb bietet unsere Plattform auch einen Wohnungsmarkt an, in dem Mieter und Vermieter Annoncen aufgeben können. Welche Herausforderungen sind für die Informatik-Studierenden mit dem Aufbau der Plattform verbunden? Im ersten Schritt war es für uns wichtig, alle Bedürfnisse und Talente der Nutzer kennenzulernen. Hierzu betreiben wir aktuell Marktforschung und haben damit bereits den ersten Nerv getroffen. Nun gilt es, diese Erkenntnisse im Sinne der Nutzerfreundlichkeit zu bündeln, ohne dabei Qualifikationen unter den Tisch fallen zu lassen. Es steht also noch so einiges an.
Interessierte können an der Umfrage teilnehmen und die Studie so mit weiteren wertvollen Informationen unterstützen.

karriereführer recht 2.2020 – Juristen in der Virtualität

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Cover karriereführer recht 2.2020

karriereführer recht 2.2020 – Juristen in der Virtualität. Wie Homeoffice und Remote Working funktionieren

als wir im März mit der ersten Ausgabe 2020 des karriereführer recht Redaktionsschluss hatten, war Corona zwar schon Thema, ein Shutdown aber noch nicht beschlossen. Doch kurz danach änderte sich Vieles für die Menschen. Und auch für Unternehmen – ebenso für Kanzleien. Durch Kontaktverbote und Verordnungen der Länder zur Eindämmung des Virus‘ wurden sozusagen über Nacht alternative Arbeitskonzepte nötig.

Wurden Homeoffice und Remote Working in der Vor-Corona-Zeit noch kontrovers diskutiert, ging plötzlich kein Weg mehr an den Konzepten vorbei. Und siehe: Die Arbeitsformen funktionieren. Und sie werden auch nach Corona beibehalten werden. Wenn auch in etwas geminderter Ausprägung, denn den Jurist*innen geht es wahrscheinlich wie fast allen: Der persönliche Kontakt fehlt.

Ein Schritt in die Zukunft

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Die Corona-Pandemie zwang Kanzleien zum Umdenken, heute zeigt sich: Homeoffice und Remote Working funktionierten besser als gedacht. Viele der Impulse will man weiternutzen, gesucht wird eine Balance aus Büro- und Heim-Tätigkeit. Klar ist aber auch: Die neue Dynamik der Digitalisierung soll genutzt werden, um weitere Bereiche effizienter zu gestalten.

Remote Working und Homeoffice – für Wirtschaftskanzleien waren das noch vor wenigen Monaten Begriffe, die im Arbeitsalltag keine große Rolle spielten. Der Job fand in den bestens ausgestatteten Büros der Kanzleien statt, es wurde viel gereist: Vielfliegerei statt Arbeit von zu Hause aus. Dann kam Corona – und änderte alles. Wie sehr, zeigt der Facebook-Auftritt der Wirtschaftskanzlei Linklaters. Ein Posting von Ende März verlinkt auf einen Clip auf der Online-Präsenz der Kanzlei. Gezeigt werden darin Senior Partner Andreas Steck und Associate Dr. Julian Emmerich, beide in heimischer Umgebung, ohne Krawatte. Steck sitzt am Klavier, Emmerich steht vor dem Mikro, gemeinsam geben sie „Your Song“ von Elton John.
Das Homeoffice führt einem sehr schnell vor Augen, welche Dinge tatsächlich im Alltag gut tun und wichtig sind – für diese sucht man sich nun Wege, um im neuen Alltag nicht darauf verzichten zu müssen.
„Jams from Home“ ist der Name dieser Clip-Reihe, es folgt Dylans „Knockin On Heavens Door“, gespielt von Partner Klaus Hoenig an der Gitarre und Bilingual Secretary Maite Völtz am Gesang; Associate Viktor Graeme und Marketing Communication Assistant Lisa Danne geben „Hey There Delilah“, eine Ballade der US-Gruppe Plain White T’s. „Remote Working hat ihre Herausforderungen, aber auch seine ungeahnt positiven Seiten“, heißt es in einer Mitteilung der Kanzlei zu den „Jams from Home“. „Wir lernen uns alle noch besser kennen, und der Kreativität sind erstaunlicherweise selbst in dieser Form der Zusammenarbeit kaum Grenzen gesetzt.“ Adriana von Hardenberg, Managing Associate im Bereich Gesellschaftsrecht, erläutert: „Das Homeoffice führt einem sehr schnell vor Augen, welche Dinge tatsächlich im Alltag gut tun und wichtig sind – für diese sucht man sich nun Wege, um im neuen Alltag nicht darauf verzichten zu müssen: Statt Mittagessen und Kaffeepausen mit Kollegen, Telefonate und Chats mit Cappuccino in der Sonne; statt Abendessen mit Freunden, Videokonferenzen und Videoanrufe der Familie.“ Carla Müller, bei Linklaters wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Dispute Resolution, fasste ihre Zeit im Homeoffice mit drei Worten zusammen: „Flexibilität. Effizienz. Ausschlafen.“ Vier Monate lang unterstützte sie ihr Team im Remote-Working-Modus und war positiv überrascht, welche Vorteile diese Arbeitsphase mit sich gebracht hat: „Der größte Vorteil ist aus meiner Sicht die gewonnene Zeit und Flexibilität.“

Homeoffice mit Jams und Flexibilität: Was wird bleiben?

Keine Frage, die Belegschaft von Linklaters hat den (teilweise bis heute anhaltenden) ungewohnten Arbeitsbedingungen etwas Positives abgewinnen können. Vielen Kanzleien geht es ähnlich. Nun stellt sich die Frage: Was bleibt von diesen positiven Erfahrungen übrig, nachdem sich der Job-Alltag in kleinen Schritten wieder normalisiert und diese Normalität eines Tages mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder hergestellt sein wird? Wird Corona ein Wandlungs-Motor sein, der die juristische Arbeit dauerhaft geändert hat? Oder wird die Pandemie nur eine Episode sein, die gezeigt hat, wie es anders gehen könnte – bevor die meisten Kanzleien dann doch wieder auf die üblichen Pfade eingebogen sind?

Virtuelle Gerichtsverhandlungen

Die internationale Kanzlei DLA Piper hat in einer Studie gefragt, wie hoch bei Anwälten die Akzeptanz für virtuelle Gerichtsverhandlungen ist. Alle Umfrageteilnehmer sahen die Autorität des jeweiligen Gerichts auch virtuell gewährleistet. 86 Prozent der Befragten befanden die Software-Lösungen wie Zoom, Bluejeans oder die Netzwerk-Plattform Microsoft Teams für zufriedenstellend. 71 Prozent der Umfrageteilnehmer gaben an, dass die Verfahrensgerechtigkeit gewahrt würde. Kritisch betrachtet wird die Beschränkung der Teilnehmerzahl aufgrund von niedrigen Internet-Bandbreiten in manchen Jurisdiktionen. „Wir haben jüngst – abgesehen von einigen technischen Problemen – gute Erfahrungen mit einer der ersten Online-Verhandlungen beim Landgericht München gemacht”, sagt Prof. Dr. Stefan Engels Partner im Hamburger Büro von DLA Piper. „Wir gehen davon aus, dass virtuelle Verhandlungen auch nach der Covid-19-Pandemie häufiger anberaumt werden. Allerdings: Es bedarf einer speziellen Vorbereitung auf die besondere Situation.“
Joachim Gores ist Partner in der Wirtschaftskanzlei Kümmerlein Rechtsanwälte & Notare in Essen, betreut dort im Schwerpunkt Unternehmenstransaktionen und berät im Gesellschaftsrecht. Auf die Frage, was nach Corona von den Prozessen bleiben wird, die während der Pandemie erprobt worden sind, sagt er: „Telefon- und Videokonferenzen werden auch für Verhandlungen viel häufiger eingesetzt werden. Gerade bei vorbereitenden Terminen, internen Abstimmungen und in Arbeitsgruppen wird man auf moderne Kommunikationsformen stärker zurückgreifen.“ Auch die Möglichkeit, Vertragsdokumente zu teilen und online zu bearbeiten, werde langfristig an Bedeutung gewinnen – mit dem Ziel, eine Balance aus digitalen Innovationen und erprobten Arbeitsweisen herzustellen. „Nach meiner Einschätzung wird am Ende ein sinnvoller Mix aus moderner Technologie und konventioneller Verhandlung das Ergebnis sein“, glaubt Joachim Gores. „Denn eines steht für mich trotz aller positiven Erfahrungen mit einem vollständig online durchgeführten Großprojekt fest: Die direkte Kommunikation von Menschen Auge in Auge sowie die Empathie, die dabei eine große Rolle spielt, sind nicht zu ersetzen.“

München, Düsseldorf, Madrid – aber nur virtuell

Bei dem Großprojekt, das Joachim Gores anspricht, handelte es sich um eine Transaktion mit Unternehmen aus München, Düsseldorf und Madrid. „Ohne Covid-19 wären wesentliche Vorbesprechungen, interne Abstimmungsrunden, aber insbesondere auch die Verhandlungen zu einem großen Teil ‚konventionell‘ durchgeführt worden“, sagt der Partner bei Kümmerlein. „Es hätte größere Arbeitsgruppen gegeben, die einzelne Teile des Projekts zusammen am jeweiligen Standort voranbringen.“ Wegen Covid-19 sei das grundlegend anders gewesen. „Alle Termine, bis auf die Beurkundung des fertigen Vertragswerkes, haben online stattgefunden. Die meisten Projektbeteiligten befanden sich im Homeoffice. Nur vereinzelt wurde die Arbeit auch vom Arbeitsplatz im Büro erledigt.“
Der ganz große Nachteil, insbesondere in Verhandlungen, ist, dass die persönliche Nähe fehlt.
Trotz der tiefgreifenden Veränderungen, die diese Pandemie mit sich gebracht hat, habe man das Projekt in sehr kurzer Zeit zum Erfolg führen können: „Obwohl die Welt und die Wirtschaft von außen betrachtet im Stillstand verharrten, haben wir im Projekt mit Volldampf gearbeitet. Und da die meisten Beteiligten vom Homeoffice aus tätig waren, war eine extreme zeitliche Flexibilität festzustellen.“ Der positive Effekt: Viele Arbeitsstränge konnten parallelisiert werden, limitierende Faktoren wie Arbeitswege oder Büroöffnungszeiten fielen weg. „Im Prinzip lief die Transaktion rund um die Uhr“, sagt Gores.

Unternehmen wollen auch nach der Krise an Homeoffice festhalten

Die Corona-bedingten Anpassungen der Arbeitsorganisation haben vielen Unternehmen gezeigt, dass sich mehr Tätigkeiten für die Arbeit im Homeoffice eignen als bislang angenommen. „Aufgrund der neuen Erfahrungen und Erkenntnisse planen viele Unternehmen, Homeoffice auch nach der Krise intensiver zu nutzen als vor dem Beginn der Corona-Pandemie“, sagt Dr. Daniel Erdsiek, Wissenschaftler im ZEW-Forschungsbereich Digitale Ökonomie.
Lief bei dieser Remote-Transaktion vielleicht sogar alles besser als sonst? Joachim Gores relativiert: „Der ganz große Nachteil, insbesondere in Verhandlungen, ist, dass die persönliche Nähe fehlt.“ Die Möglichkeit, in Telefon- oder Videokonferenzen im Verlaufe langer Verhandlungen eine persönliche Vertrauensbeziehung aufzubauen, fehle fast völlig. „Das Gegenüber, das man überzeugen will und von dem man Entgegenkommen braucht, um zum Erfolg zu kommen, bleibt trotz moderner Kommunikationstechnologie anonym und unnahbar. Auch die Abstimmung auf kurzem Wege mit dem Mandanten oder mit Kollegen bleibt auf der Strecke.“

Remote-Work verlangt mehr Kommunikationsskills

Was Juristen in solchen Situationen bräuchten: „Noch mehr Kommunikationsgeschick als ohnehin schon“. In Verhandlungen und Konferenzen per Video benötige man die kommunikative Disziplin, um in langen Verhandlungen stringent durch die Themen zu führen. Auch die Organisation sei wichtig, sagt Joachim Gores: „Telefon- und Videokonferenzen verleiten dazu, den Teilnehmerkreis sehr großzügig zuzuschneiden. Input ‚von der Seite‘ ist jederzeit möglich. Gerade in dieser Konstellation muss man sehr darauf achten, dass die Kommunikation nicht zerfasert und Entscheidungswege nicht verlassen werden.“ Die Kanzlei SKW Schwarz Rechtsanwälte hat zu Beginn der Pandemie nur wenige Tage benötigt, um die auf fünf Standorte verteilte Belegschaft im Homeoffice zu installieren. „Die Herausforderung war dann, Haushalt und Ablenkung durch die Familie mit der notwendigen Verfügbarkeit und dem hohen Arbeitsanfall für die Kanzlei in Einklang zu bringen“, sagt Matthias Nordmann, als Partner Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht. Was zudem gefehlt habe, waren die sozialen Dimensionen der Arbeit im Office: „Viele Kolleginnen und Kollegen, gerade, wenn sie alleine wohnen, genießen unter normalen Umständen den Gang ins Büro und die soziale Interaktion dort.“

Vorbehalte gegen Homeoffice verschwunden

Wo also wird der Schwerpunkt der anwaltlichen Tätigkeit in Zukunft liegen, vornehmlich zu Hause oder wieder in der Kanzlei? „Eine Kombination aus beidem wird die ideale Lösung sein“, meint Matthias Nordmann. „Während es vor Corona teils noch deutliche Vorbehalte gegenüber dem Homeoffice gegeben hat, wollen wir die Homeoffice-Tätigkeit nun auf jeden Fall beibehalten. Die entsprechenden Spielregeln arbeiten wir gerade aus.“ Wobei es bei der Gestaltung wichtig sei, nicht die Bedürfnisse der Nachwuchskräfte zu vergessen, die neu im Kanzleiteam sind. „Für die Integration junger Kollegen ist es wichtig, dass neben der begrüßenswerten Flexibilisierung der Arbeit weiterhin Aspekte der Kanzleikultur und des gegenseitigen Umgangs nicht zu kurz kommen“ – „kurze, aber intensive“ Meetings im privaten Umfeld sollen dafür sorgen, dass die persönlichen Kontakte bei den Einsteigern nicht zu kurz kommen.

Wie geht Homeoffice?

Der Deutsche Anwaltverein (DAV) bietet auf seiner Homepage ein FAQ, um bislang im Homeoffice ungeübten Kanzleiteams bei der Umstellung auf Remote Work zu helfen. Darunter finden sich auch konkrete Organisationstipps für den Arbeitstag zu Hause und das Zusammenspiel mit den Kollegen: Dazu zählen ein gemeinsamer Morgen-Check-in per Videochat, Bestimmung eines Gatekeepers, der Mail-Eingänge nach Relevanz sortiert und verteilt, sowie eine exakte und transparente Pflege des Fristenkalenders. Generell sei Vertrauen wichtig, bei zeitkritischen oder haftungsträchtigen Informationen kann es aber sinnvoll sein, „auch kanzleiintern mit Empfangsbestätigungen zu arbeiten, damit man sichergeht, dass das Teammitglied im Homeoffice eine wichtige Information zur Kenntnis genommen hat“, heißt es bei den FAQs des DAV.
  Mit Blick auf das Geschäft hat die Homeoffice-Situation bei SKW Schwarz dazu geführt, „dass auch die letzten Prozesse in der Kanzlei vollständig digitalisiert wurden“, wie Matthias Nordmann feststellt. „Nun ist die gesamte Anwalts- und Verwaltungstätigkeit digital möglich.“ So erlaube die elektronische Anwaltssignatur beA die digitale Unterzeichnung und Zustellung von Schriftsätzen und anderen Dokumenten – „dies bedeutet in Zukunft eine deutliche Erleichterung“. Für das Kanzleiteam selbst habe diese Digitalisierung keine große Umstellung bedeutet: „Unsere Anwälte waren es bereits gewohnt, von unterwegs zu arbeiten und technisch entsprechend ausgestattet.“ Bei vielen Mandanten der Kanzlei sei dies jedoch noch nicht der Fall gewesen. „Hier dauerte die Umstellung auf die rein virtuelle Zusammenarbeit häufig wesentlich länger.“

Virtuelle Verhandlungen und Beurkundungen

Matthias Nordmann stellt allerdings auch fest, dass der Weg der Digitalisierung noch keineswegs abgeschlossen ist. „Mit unserer Legal Tech-Tochtergesellschaft arbeiten wir derzeit an der AI-basierten Erstellung von Musterdokumenten.“ Der Ansatz: Die Künstliche Intelligenz liefert bei standardisierten Prozessen fertige Vertragsentwürfe. „Dies wird die anwaltliche Tätigkeit weitern erleichtern und dem Mandanten Kostenersparnisse bringen“, sagt Matthias Nordmann. Und weitere digitale Entwicklungen seien wünschenswert. So glaubt der Partner von SKW Schwarz, dass „mehr virtuelle Gerichtsverhandlungen – bei Zustimmung aller Beteiligten – erhebliche Erleichterungen und Kostenersparnisse mit sich bringen würden“. Auch an der Digitalisierung der notariellen Beurkundung müsse weiter gearbeitet werden: „Warum“, fragt Matthias Nordmann, „kann eine Beurkundung nicht auch durch Einloggen in einen virtuellen Datenraum, sichere Identifizierung der Teilnehmer und schließlich der Verlesung in einer Videokonferenz stattfinden?“ Es wird also klar: Corona hat der Digitalisierung der juristischen Arbeit einigen Rückenwind gegeben – am Ziel angekommen ist der Veränderungsprozess aber noch lange nicht.

Buchtipp: Veränderungsprozesse rechtssicher begleiten

Verwaltungen und Unternehmen wenden zunehmend neue Strategien an, um die Digitalisierung umzusetzen. Dabei ist vermehrt agile Führung die Lösung. „Agile Arbeit – Chancen und Risiken für Arbeitnehmer“ erläutert verschiedene Methoden agiler Arbeitsweisen (von Scrum bis Design Thinking), gibt Praxisbeispiele und zeigt die Vor- und Nachteile dieser auf. Ebenso werden die Voraussetzungen für derartige Transformationsprozesse, wie die Unternehmenskultur und das erforderliche Mindset, beleuchtet. Marcus Schwarzbach: Agile Arbeit – Chancen und Risiken für Arbeitnehmer. Walhalla 2020, 19,95 Euro
     

Der Anwalt & Literat Georg M. Oswald im Interview

Georg M. Oswald arbeitet in einer Münchener Anwaltskanzlei zu den Schwerpunkten Familien- und Erbrecht. Wer gerne liest, kennt ihn dazu als Schriftsteller. Bekannt geworden ist er als Autor von Romanen über das Großwerden in Bayern oder die Problematik von Liebesbeziehungen. Im Buch „55 Gründe, Rechtsanwalt zu werden“ brachte er seine beiden Jobs zusammen. Im Interview erzählt Oswald, welche Gründe er im Zuge der Pandemie ergänzen würde und warum das Geschichtenerzählen eine juristische Kernkompetenz ist. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Georg M. Oswald, Jahrgang 1963, studierte Rechtswissenschaften an der Uni München. Eine erste Station als Anwalt trat er bei der Deutschen Bank an, seit 1994 ist er als Rechtsanwalt zugelassen. Ein Jahr später veröffentlichte er mit der Erzählungen-Sammlung „Das Loch“ sein literarisches Debüt, mit dem Roman „Alles, was zählt“ wurde er 2000 einem größeren Publikum bekannt. Von 2013 bis 2016 war er Leiter des Berlin Verlags, seit 2017 ist er wieder in München, wo er als Anwalt mit den Schwerpunkten Familien- und Erbrecht sowie allen Bereichen des Scheidungs-, Sorge- und Unterhaltsrechts tätig ist.
Herr Oswald, gibt es einen fiktiven Anwalt aus einer Fernsehserie oder einem Film, bei dem Sie gedacht haben: „Das ist endlich mal ein angenehmer Repräsentant meiner Berufsgruppe“? Ich muss zugeben, in Filmen und Serien interessieren mich eher die unangenehmen Repräsentanten. Sie sind interessanter und, im Fall meines Lieblingscharakters, unterhaltsamer: Saul Goodman in „Breaking Bad“ und in „Better Call Saul“ ist da mein absoluter Favorit. Warum sollten Juristen generell gute Geschichtenerzähler sein? Juristen haben es immer mit Sachverhalten zu tun, die sie juristisch beurteilen müssen. Deshalb gehört es zu ihren wichtigsten Aufgaben, sie nachvollziehbar und überzeugend zu schildern. Guten Geschichtenerzählern hört man lieber zu als schlechten. Untechnisch gesprochen sind juristische Sachverhalte nichts anderes als Geschichten, die nach ganz bestimmten Regeln erzählt werden müssen. Je verständlicher, eleganter, überzeugender das geschieht, desto besser. Die Digitalisierung ändert die Arbeit in vielen Kanzleien, die gegenwärtige Pandemie hat einigen Aspekten der Transformation neue Dynamik gegeben. Welche Chancen für den juristischen Beruf sehen Sie in der Digitalisierung? Insbesondere in der Justiz wäre es wünschenswert, den Schriftverkehr mit den Gerichten zu digitalisieren. Er findet immer noch ausschließlich per Briefpost und Fax statt. Es wäre wirklich schön, wenn sich dies bald änderte. Und welche Fehler sollten dabei unbedingt vermieden werden? Die Transparenz für die Verfahrensbeteiligten darf nicht verloren gehen. Für Laien sind juristische Verfahren ohnehin oft schwer verständlich. Wenn sie dann noch das Gefühl hätten, mit ihren Anliegen in einem undurchdringlichen digitalen Wust zu landen, wäre das kontraproduktiv.
Heute denke ich, dass sich die Unabhängigkeit der Justiz auch in dieser Extremsituation behaupten konnte.
Wie beurteilen Sie die Rolle des Rechts und der Juristen im Zuge der Corona- Krise, das Heft in der Hand hatten ja eher die Politik, unterstützt von Expertinnen und Experten aus dem Bereich der Medizin oder auch der Wirtschaft – hat das Recht sich hier selbstbewusst genug positioniert? Meinem Eindruck nach schon. Zunächst waren es allerdings vor allem politische und medizinisch-virologische Fragen, die geklärt werden mussten. Es ging um die Einschätzung, wie groß die Gefährdungslage tatsächlich ist und welche Maßnahmen dagegen die richtigen sind. Es kam in der Folge zu massiven Grundrechtseinschränkungen. Ich war anfangs schon irritiert, denn für meinen Geschmack wurden diese Einschränkungen zu unkritisch hingenommen. Nach und nach wurde die verfassungsrechtliche Einordung des Geschehens dann ja auch juristisch diskutiert, und inzwischen kommt auch die Justiz mehr und mehr zum Zuge. Mittlerweile gibt es schon eine ganze Reihe auch höchstrichterlicher Rechtsprechung, welche die Corona-Maßnahmen einer differenzierten Überprüfung unterzieht. Heute denke ich, dass sich die Unabhängigkeit der Justiz auch in dieser Extremsituation behaupten konnte. Wir sehen in vielen Ländern und nicht zuletzt in Deutschland eine gesellschaftliche Spaltung mit verschiedenen, sich unversöhnlich gegenüberstehenden Lagern. Was kann das Recht dazu beitragen, diese Spaltung zu überwinden – und stattdessen den Dialog zu fördern? Das Recht kann den Raum definieren und schützen, in dem der gesellschaftliche Diskurs stattfinden darf und soll. Das Bundesverfassungsgericht spricht in diesem Zusammenhang von einem „Meinungskampf“. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass sich unter konkurrierenden Meinungen am Ende die beste, überzeugendste durchsetzen werde. Deshalb ist das Phänomen, das Sie ansprechen, so Besorgnis erregend. Denn wenn keiner mehr dem anderen zuhört, wenn also Argumente nicht mehr ausgetauscht werden können, dann entfällt eine notwendige Grundbedingung der demokratischen Meinungs- und Willensbildung.
Als das Grundgesetz 1949 in Kraft trat, stand in Artikel 3 bereits „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Trotzdem durften damals in der Bundesrepublik Frauen ohne Zustimmung des Ehemannes noch nicht einmal ein Bankkonto eröffnen.
Angetrieben von Bewegungen wie #metoo oder #Blacklivesmatter werden verschiedene Bereiche der Gesellschaft nach Strukturen untersucht, die Sexismus, Rassismus, Diskriminierung fördern. Sollte sich das deutsche Rechtssystem auch einem solchen „Test“ unterziehen? Ja, sicher. Mindestens ebenso wichtig wie die Überprüfung von Strukturen ist aber, dass die Bürger von ihren Rechten Gebrauch machen. Als das Grundgesetz 1949 in Kraft trat, stand in Artikel 3 bereits „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Trotzdem durften damals in der Bundesrepublik Frauen ohne Zustimmung des Ehemannes noch nicht einmal ein Bankkonto eröffnen. Das heißt, auch Rechte, die man auf dem Papier schon hat, müssen in der Praxis oft erst erkämpft werden. Deshalb ist es wichtig, vorhandene Strukturen immer wieder einer Revision zu unterziehen und zu prüfen, ob sie dem aktuellen Diskussionsstand angemessen sind. Sie haben in einem Buch 55 Gründe aufgezählt, Rechtsanwalt zu werden. Angenommen, der Verlag würde eine Neuauflage planen: Um welche Gründe würden Sie das Buch ergänzen? Ein neuer Grund wäre es sicherlich, dass einem das juristische Handwerkszeug dabei helfen kann, die aktuellen Geschehnisse rund um die Pandemie richtig einzuordnen. Die Corona-Krise hat für große Verunsicherung in der Bevölkerung gesorgt, und es gibt nicht wenige, die plötzlich an allen Ecken dunkle Mächte am Werk sehen. Ich hingegen finde es erstaunlich positiv, wie schnell es der Justiz gelungen ist, mit den neuen Gegebenheiten umzugehen und ihre Rolle darin zu finden. Als Rechtsanwalt besitzt man die Möglichkeit, das mitzugestalten. Abschließend, wer in einem Roman alles über den Kern der Arbeit eines Juristen erfahren möchte, der sollte welches Buch lesen? Fjodor Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“, Franz Kafkas „Der Process“, Charles Dickens‘ „Bleak House“: Wer diese drei Romane liest, bekommt eine gute Vorstellung davon, worum es im Recht geht, um was und wie vor Gerichten gestritten wird, wie der Justizapparat arbeitet und wie sich die Menschen, die mit ihm in Berührung kommen, dabei fühlen. Das sind alles bereits ältere Bücher… J a, aber es macht gar nichts, dass diese Romane zwischen 100 und 150 Jahre alt sind: Die wesentlichen Fragestellungen, die sie behandeln, sind weitgehend unverändert geblieben.

Zur den Büchern

Oswalds aktueller Roman „Vorleben“, erschienen 2020, erzählt von der noch recht frischen Beziehung einer Journalistin mit einem Musiker, die auf die Probe gestellt wird, als die Protagonistin bei ihrer Recherche auf beunruhigende Informationen aus der Vergangenheit ihres Partners stößt. Wie sehr kann das „Vorleben“ die Gegenwart belasten? Zum Thema Recht hat Oswald neben „55 Gründe, Rechtsanwalt zu werden“ 2018 das Buch „Unsere Grundrechte. Welche wir haben, was sie bedeuten und wie wir sie schützen“ veröffentlicht.