Als studierte Juristin mit langjährigen Erfahrungen in der Digitalwirtschaft und im Management besitzt Sophie Martinetz die optimale Expertise, um die Potenziale von KI im Rechtsmarkt zu analysieren. Sie tut dies als Forscherin an der Wirtschaftsuniversität Wien – und als Praktikerin mit der Plattform Future-Law. Im Interview erklärt sie, wo KI in der Rechtsabteilung und im Kanzleialltag unterstützen kann, warum kleinere Kanzleien aufpassen müssen und wie Legal Tech die Demokratie stärken kann. Die Fragen stellte André Boße
Zur Person
Sophie Martinetz studierte von 1995 bis 2000 Rechtswissenschaften in Wien. Nach einer internationalen Karriere in Berlin und London im Rechts-, Finanz- und Managementbereich kehrte sie nach Wien zurück, wo sie 2017 Future-Law gründete, ein beratendes Legal Tech-Netzwerk für den deutschsprachigen Raum. 2021 wurde sie als Brutkasten-Innovator of the Year nominiert, als Women of Legal Tech 2020 ausgezeichnet und gewann im selben Jahr auch den European Tech Women Award. Sophie Martinetz ist Kolumnistin und Herausgeberin und (Co-) Autorin zahlreicher Fachbücher- und Artikel zu den Themen Legal Tech und Digitalisierung der Rechtsbranche. Sie ist Co-Gründerin und Direktorin des Legal Tech Centers an der Wirtschaftsuniversität Wien.
Warum ist Legal Tech eine Innovation, die zu einer Revolution führen kann?
Interessant ist die Frage, warum Systeme mit generativer Künstlicher Intelligenz in Kanzleien besonders gut funktionieren. Die Antwort ist ganz einfach: Juristerei ist Text, und KI-Language Models funktionieren am besten mit Sprache. Der revolutionäre Aspekt entsteht auch dadurch, dass sich im Bereich der digitalen Textverarbeitung in den vergangenen Jahren wenig geändert hat. Jetzt aber greift die generative KI ein, und besonders für Juristen und Juristinnen ergibt sich ein großer Produktivitätsgewinn.
Wie genau?
Indem nun auch enorm große Datenund Textmengen einfach und niederschwellig handhabbar werden. Und von diesen gibt es in Rechtsabteilungen und Kanzleien mehr als genug. Erstens gibt es sehr lange Dokumente. Hier hilft mir die KI, diese ganz banal zusammenzufassen. Das bedeutet nicht, dass ich mir später die wichtigen Stellen nicht noch einmal selbst anschauen muss. Aber ich erhalte sehr schnell einen ersten guten Überblick. Zweitens gibt es in Kanzleien unglaublich viele Dokumente. Schon in einer mittelgroßen Kanzlei mit zehn bis 20 Juristen finden sich rund zehn Millionen digitaler Dokumente, bei den Großen und in Rechtsabteilungen liegt ein Vielfaches davon. Auf dieses Wissen zugreifen zu können, bedeutete früher großen Aufwand. Man muss es so ehrlich sagen: Dieses Wissen lag meistens ungenutzt herum.
Haben Sie ein konkretes Beispiel aus dem Alltag von Juristinnen?
Angenommen, es geht um eine juristische Klausel in einem Vertrag, also um sehr feine Details. Ich habe im Hinterkopf, dass ich diese Klausel vor einigen Jahren schon einmal erfolgreich formuliert hatte, aber wann genau war das, vor drei, vier Jahren oder ob es die Klausel in die finale Vertragsversion geschafft hat…? Früher hätte ich der Assistenz sagen müssen: Schau doch mal die Dokumente einer gewissen Zeitspanne durch. Heute hilft mir die KI. Beim Suchen. Und, noch wichtiger: beim Finden. Und das ist nicht unerheblich: Es gibt eine Studie, nach der Wissensarbeiter pro Woche neun Stunden damit verbringen, Informationen zu suchen. Das ist ein ganzer Arbeitstag, und den verkürze ich mir mit Hilfe der KI.
Wie ändert sich dadurch der Personalbedarf in Kanzleien oder Rechtsabteilungen?
Früher gab es in den Kanzleien rund vier Assistentinnen oder Assistenten, die einer Partnerin oder einem Partner zugearbeitet haben. Sie haben zum Diktat geschrieben, Vorbereitungen erledigt, Dinge gesucht, alle diese typischen Bürotätigkeiten. Heute teilen sich vier Partner eine Assistenz. Denn die Partnerinnen erledigen heute vieles selber. Mit Hilfe der KI können sie wieder frei gespielt werden für kernjuristische Arbeiten. Auch in der Rechtsabteilung ist das ein Thema. Die Jurist:innen verbringen viel Zeit mit nicht juristischen Tätigkeiten, die nun von der KI erledigt werden können: ersetzt werden viele administrative Tätigkeiten wie Suchen und Finden, juristische Texte für andere Fachabteilungen oder Mandantinnen verständlich aufzubereiten, wie ein richterliches Urteil zu interpretieren und einfach darzustellen ist. Das ist eine Hauptaufgabe von Juristinnen. Wichtig dabei ist: Die KI ersetzt zwar die Assistenz, sie ersetzt aber nicht die juristische Denkarbeit.
„Ich habe hier sieben Argumente für ein bestimmtes juristisches Vorgehen, finde nun für mich sieben Argumente dagegen.“
Inwieweit kann die KI auch qualitativ helfen?
Indem sie für mich Argumente findet, fürs Für oder Wider. Ein Auftrag an sie könnte lauten: „Ich habe hier sieben Argumente für ein bestimmtes juristisches Vorgehen, finde nun für mich sieben Argumente dagegen.“ In diesem Feld ist die KI wirklich gut. Nicht, dass ich diese Argumente nicht auch selbst finden könnte. Aber: Die KI macht das schneller, sodass ich mich als Juristin unmittelbar damit beschäftigen kann, was aus dem Für und Wider folgt. Hinzu kommt, dass die KI eine Kanzlei beim Business Development unterstützen kann.
Wie tut sie das?
Indem sie dafür sorgt, dass beim gezielten Einsatz gewisse Prozesse so funktionieren, wie sie bei einer gut laufenden Firma ablaufen müssen. Das kann zum Beispiel das ganz einfache Auslesen von Metadaten sein, um einen Akt als Rechtsabteilung gut abzulegen. In der Kanzlei betrifft das die buchhalterischen Bereiche, aber auch das Marketing oder die Personalabteilung. Aber, Achtung: Die KI ist nicht dafür da, Personalentscheidungen zu treffen. Überhaupt, ein automatisiertes Entscheiden ist nicht Sinn der Sache, denn die KI ersetzt den juristischen Menschenverstand nicht, sie unterstützt ihn. Ein wichtiger Aspekt ist auch der Umgang mit den Mandanten. Wenn Sie als Klient zum ersten Mal mit einer Kanzlei in Kontakt kommen, dann müssen Sie auch weiterhin alle Ihre Dokumente einbringen, dazu Ihren Pass und so weiter. Allerdings muss das heute alles nicht mehr zwingend vor Ort eingesehen und geprüft werden, das kann schon sehr reibungslos in digitalen Tools inklusive KI geprüft und freigegeben werden. Für Kanzleien wäre es daher sinnvoll, diese Prozesse so zu verändern, dass der Klient viele dieser Vorarbeiten bereits online von zu Hause aus erledigen kann. Hier geht es um digitale Services im Sinne der Mandanten.

Beobachten Sie, dass sich durch die Technik das Verhältnis zwischen Mandant: innen und Anwält:innen ändert?
Ja, das Net-Doktor-Syndrom erwischt auch den Rechtsmarkt. Ärzte kennen das, da kommt ein Patient, der sagt: „Schauen Sie mal, ich habe hier ein Muttermal, ich glaube, das ist Krebs, das sagen mir Google oder ChatGPT.“ Analog dazu kommen Mandanten mit der Aussage in die Kanzlei: „Die KI zu Hause hat mir gesagt, ich bekomme 80.000 Euro, weil mir dieses oder jenes widerfahren ist.“ An dieser Stelle ist juristische Überzeugungsarbeit notwendig, dahingehend, dass das Recht komplex und individuell ist. Aber ich glaube, es ist generell gut, dass Mandanten mit größerem Selbstbewusstsein zum Anwalt gehen. Es gibt eine Umfrage, nach der 70 Prozent der Befragten in Deutschland angeben, sie würden niemals zu einem Anwalt gehen. Vor allem aus Angst vor den Kosten: Man verzichtet lieber auf sein Recht, als sich in diesen Strudel hineinzubegeben. Und das ist ein Problem, denn der freie Zugang zum Recht ist einer der wesentlichen Faktoren für eine Demokratie. Damit das Rechtssystem funktioniert, müssen die Menschen das Gefühl haben: „Wenn ich im Recht bin, dann soll mir dieses Recht auch zu gesprochen werden.“ Fühlen die Menschen hier eine Ohnmacht, ist das nicht gut für die Teilhabe, für die Demokratie.
Noch immer werden Anwälte häufig nach Stundensätzen bezahlt. Ist das im Zeitalter von LegalTech noch zeitgemäß?
In vielen Fällen nicht, nein. Hier muss umgedacht werden, wobei der Rechtsmarkt noch nicht in allen Bereichen bereit dafür ist. Studien zeigten, dass die großen Kanzleien nur wenig Befürchtungen haben, wenn zukünftig nicht mehr nach Zeit, sondern nach dem Wert der juristischen Arbeit bezahlt wird. Die kleineren Kanzleien haben diese Befürchtungen jedoch sehr wohl. Wobei diese Sorgen wiederum dazu führen, dass dort KI-Lösungen nicht eingesetzt werden, aus Angst, dadurch das bisherige Bezahlmodell nach Stundensatz zu torpedieren. Das ist natürlich ein Problem, weil diese Kanzleien dadurch den Anschluss verpassen. Und die Mandantinnen in den Rechtsabteilungen erwarten sich vom Einsatz der KI natürlich einen Synergieeffekt. Die generative KI ist da – und sie geht auch nicht mehr weg. Dadurch stellt sich im Recht übrigens eine Generationenfrage, der wir uns stellen müssen.
Wie lautet sie?
Die älteren Generationen beschäftigen sich nicht gut genug mit dem Thema. Der Nachwuchs tut das schon – jedoch braucht er dingend den Input der erfahrenen Juristinnen und Juristen. Denn sie sind es, die auch heute noch das Wissen und auch die passenden Prozesse weitergeben. Gerade im Zeitalter der KI: Die Menschen mit ihren Erfahrungen und Kenntnissen sind wichtig, werden sogar noch wichtiger werden. Daher ist es entscheidend, den Austausch zu fördern und gemeinsam Anwendungsfälle umzusetzen. Nur dann kann Legal Tech in den Kanzleien und der Rechtsabteilung das volle Potenzial entfalten.
WU Legal Tech Center
Das von Sophie Martinetz mitgegründete Legal Tech Center an der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien versteht sich als das erste Hochschulzentrum in Österreich an der Schnittstelle zwischen juristischer Praxis und rechtswissenschaftlicher Forschung im Bereich der Legal Tech. Es hat sich zur Aufgabe gemacht, die Rechtsdogmatik mit der Rechtstatsächlichkeit zu verknüpfen und Studierenden das Thema Digitalisierung und KI im Rechtsbereich für ihren beruflichen Erfolg näher zu bringen. „Im Zentrum des WU Legal Tech Center steht herauszufinden, welchen Einfluss Digitalisierung, Privatisierung und Ökonomisierung auf den Rechtsbereich haben“, heißt es auf der Homepage. Dabei seien die Chancen und Risiken von Legal Tech die zwei Seiten derselben Medaille. Klar sei: „Eine technisch und ökonomisch bestmöglich informierte rechtswissenschaftliche Begleitung von Legal Tech ist unverzichtbar.“