Problemlöserin Anne Lamp im Interview

Anne Lamp, Foto: Marc Schultz-Coulon
Anne Lamp, Foto: Marc Schultz-Coulon

Das von der Ingenieurin Anne Lamp mitgegründete Bioökonomie-Start-up Traceless hat ein natürliches Material als Ersatz für Kunststoffe entwickelt, das auf pflanzlichen Reststoffen wie zum Beispiel Getreideresten basiert. Ihr Unternehmen will damit zur Lösung der globalen Plastikverschmutzung beitragen. Im Interview erzählt die studierte Verfahrenstechnikerin, was es mit der von ihr entwickelten Innovation auf sich hat und wie es ihr gelungen ist, als Ingenieurin mit einer guten Idee ein erfolgreiches Start-up mit Wirkung zu gründen. Die Fragen stellte André Boße

Zur Person

Anne Lamp studierte von 2009 bis 2012 Verfahrenstechnik an der Universität Hamburg. Als Werkstudentin war sie von 2010 bis 2013 bei Beiersdorf tätig, bevor sie ab 2015 als Projektingenieurin und später als Team Leader Product and Process Development beim Bioenergieproduzenten Verbio arbeitete. Im September 2020 gründete sie zusammen
mit der Unternehmensberaterin Johanna Baare das eigene Start-up Traceless Materials. Seit 2014 ist sie Expertin bei der NGO Cradle-to-Cradle, die sich der Bildungs- und Vernetzungsarbeit zum Thema Cradle to Cradle – also dem Denken in wirtschaftlichen und
ökologischen Kreisläufen – widmet, mit dem Ansatz, Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung, Politik und Zivilgesellschaft zusammenzubringen.

Frau Lamp, wie definieren Sie ein „Impact-Start-up“, also ein Start-up mit Wirkung?
Für mich sind Impact-Start-ups solche Start-ups, die sich aufmachen, die dringendsten Herausforderungen der Welt zu lösen. Im Vergleich zu konventionellen Start-ups geht es um mehr als nur um das Produkt oder einen Geschäftsplan, sondern um das große Ziel: eine positive Auswirkung auf den Planeten und die Menschen.

Wie kommen Sie mit Ihren Produkten diesem Ziel näher?
Die positiven Auswirkungen unserer Materialien auf die verschiedenen Nachhaltigkeitsindikatoren sind anhand wissenschaftlicher Kriterien in einer Lebenszyklusbewertung gemessen worden, die den gesamten Lebenszyklus von der Rohstoffgewinnung über die Produktion bis zur Entsorgung berücksichtigt. Der Bericht ist öffentlich zugänglich und vergleicht die Auswirkungen unserer Materialien mit den Auswirkungen, die eine gleiche Menge herkömmlicher Kunststoffe auf die Indikatoren fossiler Energiebedarf, Treibhausgasemissionen, Land- und Wasserverbrauch sowie Erzeugung von Kunststoffabfällen haben würde.

Sie haben Ihre Mitgründerin Johanna Baare bei einer Veranstaltung des gemeinnützigen Sozialunternehmens „ProjectTogether“ kennengelernt. Was machte diese erste Begegnung für Sie beide besonders?
Bei der ActOnPlastic-Challenge von ProjectTogether ging es darum, 100 Ideen zur Lösung des globalen Plastikproblems zusammenzubringen. Damals war unsere Unternehmung genau das: eine Idee, begleitet von ersten Projektbeispielen. Ungeachtet des frühen Stadiums reichte ich meine Idee ein, von Seiten des Projekts wurde ich dann mit Johanna zusammengebracht – und es war ein Match. Wir hielten eine Zeit lang virtuelle Treffen ab, bei denen wir die Idee in ein konkretes Geschäftsmodell umwandelten. Als ich einige Jahre später beschloss, meine Idee tatsächlich in einem Unternehmen zu verwirklichen, wusste ich, dass ich Johanna an meiner Seite brauchen würde, um die ehrgeizigen Ziele zu erreichen, die ich mir vorgestellt hatte. Unsere unterschiedlichen Hintergründe und Fachgebiete sowie unser gemeinsamer Glaube an das Erreichen unseres Ziels – eine Zukunft ohne Umweltverschmutzung und Abfall – machten uns zu einem starken Gründerteam.

Warum ist es für Sie als Ingenieurin wichtig, aus der Komfortzone herauszutreten, um ein Unternehmen wie Ihres zu gründen?
Ich habe Verfahrenstechnik studiert, und mit diesem akademischen Hintergrund arbeitet man normalerweise nicht in den nachhaltigsten Branchen. Inspiriert wurde ich durch meine freiwillige Erfahrung bei Cradle-to-Cradle, einer Nichtregierungsorganisation, die sich auf ein Designkonzept konzentriert, das von der Natur inspiriert ist und das Ziel verfolgt, Abfall, wie wir ihn heute kennen, der Vergangenheit angehören zu lassen. Während meines Studiums war die Gründung eines eigenen Unternehmens nie eine Karriereoption gewesen. Was aber nicht heißt, dass es nicht möglich ist, es trotzdem zu tun! Natürlich ist es manchmal beängstigend, aber ich bin glücklich, dass ich nun eine Karriere in einem Bereich anstrebe, an den ich wirklich glaube und in dem ich etwas Positives bewirken kann.

Um ein Unternehmen zu gründen, braucht man eine gute Idee – und einen Markt, um mit dieser Idee Geld zu verdienen. An welchem Punkt sind Sie zu der Überzeugung gekommen, dass es diesen Markt für Ihre Idee gibt?
Die Erkenntnis, dass es Interesse an meiner Innovation gibt, kam eigentlich schon sehr früh, denn das E-Commerce-Unternehmen Otto zeigte sofort Interesse an den ersten Mustern, die ich entwickelt hatte. In den vergangenen Jahren waren wir in der glücklichen Lage, dass unsere Materialien kontinuierlich auf großes Interesse stoßen – von Markeninhabern, Verarbeitern, der Forschung und anderen. Überall suchen die Menschen nach Lösungen für das globale Kunststoffproblem.

Was ist das Besondere an Ihren plastikfreien natürlichen Polymerwerkstoffen? Was also ist die wirkliche Innovation Ihres Verfahrens und Ihrer Ergebnisse?
Traceless gehört zu einer neuen Generation plastikfreier natürlicher Polymerwerkstoffe, die über biobasierte oder biologisch abbaubare Kunststoffe hinausgehen. Das Material basiert auf pflanzlichen Reststoffen aus der Landwirtschaft und enthält zu einhundert Prozent biobasierten Kohlenstoff.

Damit unterstützen wir den Übergang von fossilen zu nachwachsenden Rohstoffen und vermeiden direkte Nahrungsmittelkonflikte. Im Gegensatz zu Neuware ist das Material eine giftfreie und klimafreundliche Lösung, da bei der Herstellung und Entsorgung bis zu 95 Prozent weniger CO₂ ausgestoßen wird. Unsere zum Patent angemeldete Produktionstechnologie spart zudem bei der Herstellung durchschnittlich 83 Prozent des fossilen Energiebedarfs ein. Obwohl Traceless wie Plastik aussieht und sich auch so anfühlt, ist das Material zertifiziert plastik- und mikroplastikfrei und vollständig biokreislauffähig. Es hinterlässt also keine Spuren.

Sie haben das Unternehmen vor drei Jahren gegründet. Was haben Sie in dieser Zeit über das Gründen gelernt?
Dass es um mehr geht als um Businesspläne, Finanzierungsrunden und Produkteinführungen. Für mich ist ein wichtiger Aspekt der Unternehmensgründung das Schaffen von Arbeitsplätzen, also: ein Arbeitgeber zu werden. In den vergangenen Jahren ist unser Team stark gewachsen, und es wird weiter wachsen. Ohne das Team wäre das Unternehmen nicht da, wo wir heute sind. Ich denke, es ist sehr wichtig, kontinuierlich einen Arbeitsplatz zu schaffen, an dem sich alle Mitarbeitenden wohlfühlen, damit wir gemeinsam an der Verwirklichung unserer Vision arbeiten.

Wir können das volle Potenzial unserer Lösung nur dann ausschöpfen, wenn wir uns mit anderen zusammentun: mit Verarbeitern, Markeninhabern, Forschern, Verbrauchern und der Politik.

Um erfolgreich zu sein, muss man Referenzen bei großen Kunden haben. Wie schwierig ist es, diese zu finden und mit ihnen zu arbeiten?
Seit unserer Gründung haben wir klare Ambitionen, unser Material so schnell wie möglich auf den Markt zu bringen. Wir arbeiten an ersten Pilotprodukten aus unserer Materialinnovation, zum Beispiel mit Otto und der Fluggesellschaft Lufthansa. Im Dezember 2020 haben wir ein erstes Pilotprodukt mit dem Modehändler C&A auf den Markt gebracht. Die Unterstützung dieser Markeninhaber bedeutet uns sehr viel, denn sie zeigt, dass wir alle zusammen ein Teil der Lösung sein können, nicht der Verschmutzung.

Wenn Sie Ihre Augen schließen: Wo sehen Sie Traceless in zehn Jahren?
In zehn Jahren haben wir unsere Produktionskapazitäten erfolgreich skaliert und werden Traceless als Drop-in- Lösung an die Kunststoffbeschichtungs-, Verarbeitungs- und Verpackungsindustrie verkaufen, um unser Granulat zu Produkten für die Konsumgüterindustrie weiterzuverarbeiten. Wir halten es jedoch für wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir das volle Potenzial unserer Lösung nur dann ausschöpfen können, wenn wir uns mit anderen zusammentun: mit bahnbrechenden Verarbeitern und Markeninhabern, ambitionierten Forschenden, bewussten Verbraucher*innen und einer Politik, die maßgeschneiderte Maßnahmen einleitet. Angesichts der heutigen Umweltherausforderungen gibt es kein Patentrezept, aber mit einem systemischen Ansatz, bei dem sich viele Lösungen gegenseitig ergänzen und alle Beteiligten einbezogen werden, werden wir erfolgreich sein.

Finden Sie als Leiterin eines Unternehmens noch genügend Zeit für die Arbeit, die Sie als Ingenieurin lieben: Forschung und Entwicklung?
Ich habe tatsächlich oft nicht mehr die Zeit, um selbst an Forschung und Entwicklung zu arbeiten. Zum Glück haben wir ein tolles Produktentwicklungsteam, das jeden Tag an der weiteren Optimierung unserer Materialien arbeitet. Da das Unternehmen wächst, ist es nur ein natürlicher Prozess, mehr und mehr Aufgaben an die verschiedenen Abteilungen des Teams zu übertragen.

Zum Unternehmen

Das Bioökonomie-Start-up Traceless Materials wurde 2020 von Anne Lamp und Johanna Baare in Hamburg gegründet. Das Unternehmen hat eine Technologie entwickelt, mit der es aus Pflanzenresten eine neuartige, nachhaltige Kunststoffalternative herstellt. Das rund 30-köpfige Team hat bereits eine erste Pilotanlage zur Materialproduktion errichtet. Mit dem Ziel, Kunststoffe bald in großen Mengen zu ersetzen, werden die Produktionskapazitäten weiter ausgebaut. Parallel werden ersten Pilotprodukte entwickelt, unter anderem mit dem E-Commerce-Unternehmen Otto und der Fluggesellschaft Lufthansa. Die Umweltauswirkungen der Materialien wurden in einer Lebenszyklusanalyse untersucht. Für seine innovativen Lösungen wurde das Unternehmen mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Gründerpreis, dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis/Next Economy Award, und es wird von der EU gefördert.