Der KI-Praktiker Prof. Dr. Wolf-Tilo Balke im Interview

Prof. Dr. Wolf-Tilo Balke, Foto: privat
Prof. Dr. Wolf-Tilo Balke, Foto: privat

Als Direktor des Forschungszentrums L3S beschäftigt sich der Informatik-Professor Dr. Wolf-Tilo Balke mit der Frage, wie sich Methoden der Künstlichen Intelligenz für Gesellschaft und Wirtschaft einsetzen lassen. Im Interview macht er klar, dass jede KI-Leistung davon abhängt, wie gut der Mensch das System aufgestellt und trainiert hat – was dazu führt, dass dieser Bereich schon jetzt eine Vielzahl an interessanten Job-Perspektiven bietet. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Professor Dr. Wolf-Tilo Balke ist Direktor des Forschungszentrums L3S sowie seit 2008 Professor am Institut für Informationssysteme an der TU Braunschweig. Studiert hat Balke ab 1991 Mathematik in Augsburg, an dieser Uni arbeitete er von 1998 bis 2001 am interdisziplinären Projekt HERON. Seit den 1990er-Jahren forscht er zu Daten und Algorithmen, 2004 stieß er als Associate Research Director zum L3S, zuvor hatte er einen Forschungsaufenthalt an der Universität in Berkeley, Kalifornien, absolviert.

Herr Balke, eine Frage zu Corona. Es gibt Leute, die enttäuscht fragen: Wo bleibt eigentlich der Beitrag der Künstlichen Intelligenz, um diese Pandemie zu beenden? Was erwidern Sie darauf?
Es gibt zahlreiche Projekte weltweit, die mit Hochleistung an intelligenten Verfahren zur COVID-19-Bekämpfung forschen und auch schon Ergebnisse liefern, zum Beispiel Vorhersagen möglicher Wirkstoffe und ihrer pharmazeutischen Eigenschaften. Einerseits sind das Verfahren auf Dokumentenkollektionen wie zum Beispiel der mehr als 60.000 Fachpublikationen umfassende CORD-19-Corpus des Allen Institute For AI in Seattle, andererseits Verfahren, die auf medizinische oder epidemiologische Datensätze zum Beispiel aus dem Forschungsdatenzentrum des Robert Koch Instituts angewandt werden. Der Vorteil liegt hier in der effizienten Verarbeitung und Auswertung massiver Datenmengen, der intelligenten Auswertung sowie Verknüpfung von Fachliteratur und der Zusammenführung von Daten aus heterogenen Quellen.

Wo stößt die Anwendbarkeit dieser Lösungen an ihre Grenzen?
Es gibt natürlich eine Sorgfaltspflicht gegenüber den betroffenen Patienten. Ärzte können nicht einfach ein „von der KI verordnetes“ Medikament einsetzen. In jedem Fall müssen zunächst klinische Studien durchgeführt werden, bei neuen Wirkstoffen ist das ein komplexes Zulassungsverfahren, um unerwünschte Nebenwirkungen zu minimieren. Wenn die Erkenntnisse der KI-Werkzeuge aber auch hier helfen, eine Priorisierung der Tests mit den wahrscheinlich wirksamsten Wirkstoffen zu bewirken, ist schon deutlich mehr erreicht, als wenn man unkoordiniert ausprobieren müsste.

Wo liegt generell das größte Missverständnis unserer Gesellschaft gegenüber Künstlicher Intelligenz?
Ich glaube, diese Frage hängt eng mit Ihrer ersten Frage zusammen. Die Künstliche Intelligenz wird zu oft als Allheilmittel verstanden, nach dem Motto: Ich werfe einfach alle Daten in ein System – und auf geradezu wunderbare Weise sucht die KI genau die für mich interessanten Zusammenhänge heraus, um auf dieser Basis immer die richtigen Entscheidungen zu treffen. Es ist eine oft bestätigte Faustregel, dass jedes technische System nur so gut sein kann wie der Input. KI-Systeme, die auf der Grundlage veralteter, verzerrter, verfälschter Daten arbeiten, werden die Eigenschaften dieser Daten als Realität ansehen – und deshalb manchmal unfaire oder sogar diskriminierende Entscheidungen ableiten.

Wichtig ist es jetzt, jenseits der üblichen technischen Hypes und politischer Parolen eine solide Infrastruktur zu finanzieren und zukunftsfähige, das heißt umfassend gebildete Fachkräfte an den Universitäten auszubilden.

Die Idee Ihres Forschungszentrums ist es, das Internet an die reale Welt anzubinden. Was muss gewährleistet sein, damit dadurch die reale Welt Vorteile erfährt – und keine Nachteile?
„Nur Vorteile und keine Nachteile“ ist natürlich eine Utopie, das muss durch die Formulierung „deutliche Vorteile bei akzeptablen Nachteilen“ ersetzt werden. Und das L3S arbeitet an genau diesen Problemen. Dazu gehört es, einerseits die Forschung voranzutreiben, um international konkurrenzfähig zu bleiben. Andererseits ist die Abschätzung der technischen und gesellschaftlichen Folgen eine wesentliche Aufgabe. Denn man kann eben zwar nicht alle Nachteile vermeiden, es sollte aber eine bewusste Entscheidung darüber möglich sein, worauf man sich einlässt und wie man den Rahmen bestmöglich regulieren kann. Wenn wir also durch unsere Forschung Vor- und Nachteile transparent machen und diese dadurch abgewogen werden können, haben wir viel erreicht.

Die aktuelle Pandemie zeigt uns auf, wie weit die Digitalisierung in Deutschland bereits fortgeschritten ist. Wie lautet ihr Urteil des Fortschritts?
Es wurden in Deutschland sicherlich einige Investitionen in die grundlegende digitale Infrastruktur, in die fokussierte Überarbeitung von Unternehmensprozessen sowie in die Aus- und Weiterbildung von Fachkräften versäumt. Allerdings sehen wir auch immer wieder positive Beispiele für Fortschritte in der Digitalisierung. Wichtig ist es jetzt, jenseits der üblichen technischen Hypes und politischer Parolen eine solide Infrastruktur zu finanzieren und zukunftsfähige, das heißt umfassend gebildete Fachkräfte an den Universitäten auszubilden. Ich glaube nicht, dass uns auf diesem Weg einfache Patentrezepte und schnelle Abkürzungen nützen, stattdessen müssen nachhaltige Prozesse an der Basis angesetzt werden. Das erzwingt, alte verkrustete Strukturen aufzubrechen – weshalb das Vorhaben einiges an Zeit und Geld kosten wird.

Wer sich als junge Fachkraft im Bereich der KI tummeln will, welche Kenntnisse und Fähigkeiten sind für diese Person unabdingbar?
Ich glaube, dass hier ein breiter Raum an Möglichkeiten zur Verfügung steht und man diesen mit verschiedenen Fertigkeitsprofilen erschließen kann – und auch muss. Im Zentrum stehen ganz offensichtlich Informatiker, Wirtschaftsinformatiker und Mathematiker, die technische Grundlagen in innovative Produkte, intelligente Prozesse und effektive Unternehmensstrukturen einbringen. Dazu gehört ein tiefes Verständnis der abstrakten technischen Konzepte, ihres Zusammenspiels und ihrer Möglichkeiten – aber eben auch ihrer Grenzen. Mit einfachen Parolen wie „Ab jetzt alles mit KI!“ ist niemandem geholfen, man benötigt das richtige Augenmaß – und dieses setzt ein tieferes Verständnis der Methoden voraus. Ergänzend werden sich auch die Ingenieurwissenschaften und Wirtschaftsingenieure stärker auf die Anwendung intelligenter Verfahren und Softwarekomponenten fokussieren. Da tut sich gerade viel, auch in der Gestaltung der entsprechenden Studiengänge. Dazu sind auch wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Kompetenzen wichtig, um KI erfolgreich und verantwortungsbewusst in verschiedenen Arbeits- und Lebensbereichen einzusetzen. In jedem Fall verdient es gerade dieses Thema, dass man sich tief mit seinem transformativen Charakter auseinandersetzt. Denn nutzt man es nur als Schlagwort, ohne zu verstehen, was es wirklich bedeutet, richtet man am Ende wahrscheinlich mehr Schaden als Nutzen an.

Für Studierende im MINT-Bereich mit einem entsprechenden Fokus auf maschinellem Lernen, Neuronale Netze, Data Mining oder deren Anwendung in Security, Robotik oder Bio-Informatik sehe ich ein breites und wachsendes Feld von Betätigungsmöglichkeiten.

In welchen Bereichen werden in den kommenden Jahren mit Blick auf die KI ganz neue Job-Profile entstehen?
Wir haben in den vergangenen Jahren bereits die Vorboten gesehen: Big Data Analytics, Network Analysis, Data Science – für diese Themen werden in naher Zukunft einerseits Fachkräfte gebraucht, die intelligente Komponenten und Entscheidungsprozesse als Werkzeuge entwerfen und entwickeln. Andererseits werden Fachkräfte gefragt sein, die neue Werkzeuge zusammen mit den veränderten Prozessen in die betriebliche Praxis tragen. Für Studierende im MINT-Bereich mit einem entsprechenden Fokus auf maschinellem Lernen, Neuronale Netze, Data Mining oder deren Anwendung in Security, Robotik oder Bio-Informatik sehe ich ein breites und wachsendes Feld von Betätigungsmöglichkeiten. Wobei auch für Absolventen im rechts-, wirtschaftsund sozialwissenschaftlichen Bereich mit einem klar technologie-orientierten Fokus große Karrierechancen entstehen werden.

Noch ein Blick in die technische Zukunft: Welche Entwicklungsschritte werden KI-Methoden machen müssen, damit sie noch stärker als heute im Dienst für Mensch und Gesellschaft arbeiten?
Ja, das ist in der Tat die große Frage. Das Potenzial selbstlernender KI-Technologien ist unglaublich, und ich bin sicher, dass viele der derzeitigen Probleme in den Griff zu bekommen sind. Darunter fallen zum Beispiel die mangelnde Erklärbarkeit und Nachvollziehbarkeit KI-basierter Entscheidungen, die Verlässlichkeit und Stabilität intelligenter Werkzeuge, Probleme der Robustheit und Anwendungssicherheit, aber auch Dinge, an die man nicht sofort denkt, wie zum Beispiel ethische Herausforderungen, die sich bei zunehmend autonomen Systemen ergeben. Es wird also auch in den nächsten Jahren noch jede Menge zu tun geben!

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Das L3S als gemeinsame zentrale Einrichtung der Leibniz Universität Hannover und der Technischen Universität Braunschweig arbeitet mit rund 150 Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen daran, den digitalen Wandel zu erforschen, um aus den Erkenntnissen Handlungsoptionen, Empfehlungen sowie Innovationsstrategien für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft herzuleiten. Dazu gehört es einerseits, die Forschung voranzutreiben, um somit international konkurrenzfähig zu bleiben. Andererseits steht auch die Abschätzung der technischen und gesellschaftlichen Folgen im Fokus, insbesondere durch die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus der Soziologie oder den Rechtswissenschaften.

www.l3s.de