Ein Virus, das antreibt und Fragen aufwirft

Foto: AdobeStock/ vectorfusionart
Foto: AdobeStock/ vectorfusionart

Die Pandemie verursachte in der Bauindustrie keine Vollbremsung. Doch alles beim Alten bleibt in der Branche dennoch nicht: Die nahe Zukunft wird zeigen, wie sich die Auftragslage entwickelt, wie attraktiv und produktiv die Unternehmen sind. Der Schlüssel zum Erfolg: eine bessere Risikobewertung dank digitaler Methoden und grüner Transformation. Ein Essay von André Boße

„Vergleichsweise gut“ – das klingt nicht nach einem Urteil, das überbordende Freude auslöst. Eine „vergleichsweise gute“ Mathe-Arbeit ist eher eine drei minus, das „vergleichsweise gute“ Spiel eines Fußballteams klingt nicht danach, als habe der Club hoch gewonnen. Wenn also nun gesagt wird, die deutsche Bauwirtschaft sei bislang „vergleichsweise gut“ mit der Pandemie fertiggeworden, so wie es zum Beispiel die Branchenexperten von der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG feststellen: Soll man sich dann darüber freuen? Und weitergedacht, welche Perspektiven hat sich der Bau für das kommende Jahr erarbeitet, das – davon muss man ausgehen – weiterhin von großen Unsicherheiten geprägt sein wird, in gesundheitspolitischer wie in ökonomischer Hinsicht?

Gebaut wurde weiter – das beruhigte

Zum ersten Punkt: Grund zur Freude ist durchaus gegeben, zumal wenn man bedenkt, dass die Bauwirtschaft mit ihren Facharbeitern und Bauingenieuren 2020 eine stabilisierende Rolle für die gesamte Wirtschaft der Bundesrepublik eingenommen hat. Viele werden sich noch an das Frühjahr 2020 erinnern: Als rund um Ostern das Leben in der Bundesrepublik in großen Teilen ruhen musste, ging die Arbeit auf den Baustellen in der Regel weiter – und zwar mit funktionierenden Hygienekonzepten. Für viele Menschen besaß dieser Fortgang der Dinge eine beruhigende Wirkung: Gebaut wird trotz Virus – das ist ein gutes Zeichen, es geht weiter voran.

Bauen in der Post-Corona-Welt I

Das Virus wird die Gesellschaft, Ökonomie und Arbeitswelt auch über die eigentliche Pandemie hinaus ändern. Man muss nur auf den Megatrend New Work schauen, um zu erkennen, welche Auswirkungen das auf die Baubranche haben wird: Home-Office und virtuelle Meetings sorgen dafür, dass der Bedarf an Business-Hotels und Bürogebäuden geringer werden wird. Wo die Nachfrage steigen könnte: Gewinnt der sichere Urlaub in Deutschland weiter an Bedeutung und gelten Immobilien weiterhin als gute Investitionen, werden mehr Ferienhäuser gebaut.

Bauen in der Post-Corona-Welt II

Schon 2019 gab es für die Baubranche eine schleppende und zurückgehende Ausschreibungslage beim Straßenbau zu beklagen. Es ist davon auszugehen, dass die Pandemie diesen Trend noch verstärkt, insbesondere, wenn es sich um nicht wirklich dringende Maßnahmen handelt. Möglich ist zudem ein Paradigmenwechsel: In den großen Städten gibt es den politischen Trend, die Dominanz des Autos nicht nur zu hinterfragen, sondern ihr Ende baulich einzuleiten. Die Zukunft könnte Bauprojekten gehören, die Autostädte in rad- und fußgängerfreundliche Kommunen verwandeln.

Die Bauwirtschaft hat in dieser Phase nicht nur die Ökonomie der Bundesrepublik gestützt, sie nahm darüber hinaus auch eine psychologische Funktion ein. So weit, so gut. Mit dem Blick auf das, was 2021 kommen wird, spricht Juan Carlos Klug, Partner bei KPMG, jedoch eine Warnung aus: Dass der Bau unbeeindruckt weitergemacht habe, als andere stoppen oder innehalten mussten – dieser Eindruck sei grundsätzlich richtig, treffe aber nicht vollumfänglich zu: Zwar wurden und werden auch aktuell viele derjenigen Bauprojekte umgesetzt, die bereits vor Corona in Angriff genommen wurden. „Aber trotz drehender Kräne, polternder Presslufthämmer und kletternder Arbeiter – erste Signale für eine Abkühlung der Baubranche zeichnen sich ab.“ Juan Carlos Klug, bei KPMG Experte für Bau- und Infrastrukturprojekte, findet dafür mehrere Gründe.

Zum einen stehen viele Unternehmen der Bauindustrie vor einem verschärften Personalproblem: Reisebeschränkungen und Quarantäneverordnungen sorgen auch weiterhin dafür, dass die Gestaltung der sowieso schon engen Dienstpläne zeitweise zur Herausforderung wird. Auch hier gilt: Ein Ende dieser personalpolitischen Ausnahmesituation ist Ende 2020 noch nicht abzusehen. Hinzu kommt hier, dass sich der Fachkräftemangel der Baubranche zuletzt weiter verstärkt hat: Die Volkswirte von der Förderbank KfW haben in einer Fachkräfteanalyse Berufe identifiziert, in denen die durchschnittliche Vakanz bei freien Stellen länger als 200 Tage andauert. 28 solcher „Mangelberufe“ hat die KfW im Research-Papier von Juni 2020 gefunden, „13 der Mangelberufe mit 200 und mehr Vakanztagen – also fast die Hälfte – sind Bauberufe.“

Ende des deutschen Baubooms?

Nicht absehbar sei zudem, so Juan Carlos Klug, wie sich die Auftragslage für neue Projekte in den kommenden Monaten entwickeln werde. Seine Prognose: Die Corona-Krise bedeutet möglicherweise das Ende des „deutschen Baubooms, wie wir ihn kannten“: „Vor einigen Monaten wurde beispielsweise noch überall dort, wo ein Stein hingeworfen wurde, ein Hotel gebaut. Jetzt ist die Situation eine ganz andere: Bauherren und -unternehmen schauen bei zukünftigen Projekten genauer hin.“ Vor allem die Finanzierung werde harten Prüfungen unterzogen, die Bauwirtschaft stehe vor einer Phase, in der die Risikobewertung nach schärferen Kriterien vorgenommen werde – wobei das nicht nur die Bauherren und ihre Projekte betreffe, sondern auch die Unternehmen. „Die Risikobereitschaft der Branche wird unter der Corona-Krise nachhaltig leiden, und dies wird Veränderungen forcieren“, sagt Juan Carlos Klug. „Ein proaktives Risikomanagement wird beispielsweise eine gewichtigere Rolle in den Bauprojekten einnehmen: Um Unterbrechungen der Lieferketten zu vermeiden, könnten Bauunternehmen beispielsweise dazu übergehen, die Lieferketten zu verschlanken und zu regionalisieren oder die just-in-time-Praxis der letzten Jahre wieder mehr durch eine vorausschauende Lagerhaltung zu ersetzen.“

Digitalisierung hilft beim Risiko-Management

Just-in-time: Dahinter steckt die smarte Idee, mit Hilfe digitaler Logistik-Tools die Materialbeschaffung so zu planen, dass alles genau dann am Bau ankommt, wenn es benötigt wird. Dieser Ansatz steht also für höchste Effizienz. Wenn die Experten nun wieder ein Zurück zur „vorausschauenden Lagerhaltung“ erwarten, steht die Branche damit nicht vor einer Phase, in der Innovationen zurückgedreht werden, wieder konservativ geplant wird? Eine globale Studie der Beratungs- und Prüfungsgesellschaft Deloitte rät dringend davon ab, im Zuge der Risikovermeidung die Digitalisierung in Frage zu stellen. „Global Powers of Construction“ heißt die Publikation, in der die Experten Ansätze finden, wie sich die verschiedenen Herausforderungen für die Baubranche meistern lassen. Die zentrale Feststellung: Digitale Methoden sind keinesfalls Teil des Problems, sondern der Schlüssel für die Lösung. Weil sich mit ihnen in folgenden Feldern Risiken vermindern lassen:

  1. Planung und Angebot

Was will der Bauherr und was können wir mit welchen Partnern leisten? Was wird es kosten und wie lange wird es dauern? Hinter jeder dieser Fragen versteckt sich ein enormes Risikopotenzial. Reduzieren lässt es sich mit Hilfe digitaler Methoden wie Künstlicher Intelligenz oder Big Data-Analysen, die den planenden Bauunternehmen dabei helfen, Szenarien aufzuzeigen oder durchzuspielen – nicht nur auf Basis von Kalkulationen, sondern auch von echten Erfahrungswerten aus anderen Projekten.

  1. Lieferkette

Gerade weil die Supply-Chains in Zeiten der Pandemie verletzlicher sind (man denke hier auch an die Produktionsausfälle bei Lieferanten in Ländern mit noch härteren Lockdowns), sind digitale Tools wichtig, um sensible Stellen zu identifizieren sowie klug zu planen. Eine wichtige Rolle nimmt dabei laut der Deloitte-Studie die Plattformökonomie ein: Sie gibt den Lieferketten die notwenige Flexibilität, Engpässe oder Komplettausfälle zu vermeiden – und trotzdem die Effizienz zu gewährleisten. Denn eines ist klar: Hamstermentalität und überfüllte Lagerhallen sind keine sinnvolle Alternative.

  1. Fachkräftemangel

Die allermeisten Digital Natives wünschen sich einen Job, in dem sie ihre digitalen Alltagskompetenzen anwenden können.

Zu wenig Leute zu haben, das ist auf dem Bau besonders fatal: In kaum einer anderen Branche kommt es so sehr auf die Leistungsfähigkeit der Belegschaft an, ein Mangel an Fachkräften ist daher kaum zu kompensieren. Zwar sind dem Grad an Automatisierung auf dem Bau Limits gesetzt, dennoch ist beim Einsatz von digitalen Methoden weiterhin Luft nach oben. Wichtig ist den Studienautoren dabei: Diese Tools dürfen nicht zum Selbstzweck werden, sondern müssen sehr genau an die Bedürfnisse der Fachkräfte angepasst werden. Nicht unterschätzt werden dürfe dabei die Signalwirkung einer digitalisierten Bauindustrie: Die allermeisten Digital Natives wünschen sich einen Job, in dem sie ihre digitalen Alltagskompetenzen anwenden können. Die Baubranche gewinnt für den dringend benötigten Nachwuchs an Attraktivität, wenn sie in Sachen Digitalisierung nicht zu weit hinter den Konkurrenzarbeitgebern aus den Bereichen Industrie und Dienstleistung zurückfällt.

  1. Transparenz, Ethik und Nachhaltigkeit

Um beim Nachwuchs zu bleiben: Wer heute in den Beruf einsteigt und um die Begehrlichkeiten der Branchen weiß, schaut bei der Auswahl des Arbeitgebers sehr genau hin. Im Fokus stehen nicht nur Verdienst und Karrierechancen, mindestens genauso wichtig sind Aspekte wie: Welche Freiheiten habe ich? Welchen Sinn erfüllt meine Arbeit? Bin ich für ein Unternehmen tätig, dessen ethische Standards ich erkenne und hinter denen ich stehen kann? Und nimmt es die Megatrends Klimaschutz und Nachhaltigkeit tatsächlich ernst? Digitale Methoden, allen voran BIM, schaffen in diesen Zukunftsfeldern die nötige Transparenz, damit junge Interessierte Antworten auf diese Fragen finden.

Wird Corona zum Digitalisierungs-Boost?

Die Bedeutung der Bauwirtschaft

Die McKinsey-Studie„The next normal in construction – how disruption is reshaping the world’s largest ecosystem“ zeigt: Die Corona-Pandemie kann nun zu einem wirklichen Umbruch in der gesamten Branche führen und bestehende Trends wie Digitalisierung, neue Produktionsverfahren und Konsolidierung weiter beschleunigen. Dies hat Auswirkungen über die Branche hinaus: Mit einem Anteil von 13 Prozent am Welt-Bruttoinlandsprodukt – in Deutschland sind es rund 10 Prozent – ist das Ökosystem Bauen einer der größten Wirtschaftsfaktoren. Eine produktivere Bauwirtschaft ist deshalb auch gesamtgesellschaftlich wünschenswert – ein wesentlicher Anteil aus den aktuell diskutierten Konjunkturpaketen wird voraussichtlich in den Infrastrukturausbau fließen, während der Wohnungsbau schon länger oben auf der politischen Agenda steht.

Klar ist, dass eine kluge und bedarfsorientierte Digitalisierung der Bauwirtschaft die Attraktivität und Produktivität der Branche erhöhen wird. Spannend ist es nun zu verfolgen, inwieweit die Pandemie diese Entwicklung befördert. Es sei zu erkennen, sagt Michael Müller, Leader des Bereichs Real Estate bei Deloitte, dass die Covid-19-Pandemie einen „verstärkten Einsatz neuer industrieller und digitaler Technologien beschleunigt und Bereiche wie künstliche Intelligenz und Analytik ihr großes Potenzial für das Bauwesen in den kommenden Jahren umso stärker werden ausspielen können.“ Somit würde die Corona-Krise wie ein Boost funktionieren, der sinnvolle und notwendige Veränderungen antreibt, mit dem Resultat, dass die Branche gestärkt und fit für die Zukunft aus dieser Ausnahmesituation herauskommt. Jedoch wird der Bauindustrie dieser positive Effekt nicht in den Schoß fallen: Mehr denn je geht es darum, die Zukunft zu gestalten – mit einer klugen Balance aus Lust auf Veränderung und Fokus auf die bewährten Stärken.

Wie das gelingen kann, skizziert Kai-Stefan Schober, Senior Partner bei der Unternehmensberatung Roland Berger. Es gehe darum, Bauunternehmen zu „atmenden und schlagkräftigen Organisationen“ aufzubauen, die sich durch konsequent digitalisierte Wertschöpfungsketten, flexible Geschäftsmodelle und einen verstärkten Fokus auf die „grüne“ Transformation auszeichnen – wobei der Blick auf die Nachhaltigkeit auf keinen Fall vernachlässigt werden darf, zumal sich zeigen könnte, dass die zielgerichteten öffentlichen Infrastruktur- und Bauförderungen in naher Zukunft noch mehr als heute auf grüne Standards schauen. Schober glaubt, dass die Chance nicht darin besteht, in der Corona-Krise den Status Quo zu erhalten, sondern gerade jetzt auf Wandel zu setzen, im dem die Akteure „verstärkte Investitionen in Forschung und Entwicklung als Kernelemente der Veränderung in den Fokus nehmen“. Dass die Bauindustrie selbst im Sturm der Pandemie nicht ruht, bleibt eine beruhigende Erkenntnis. Dies ändert aber nichts daran, dass die Branche fortlaufend an ihrer Transformation in Richtung mehr Digitalisierung und Nachhaltigkeit weiterarbeiten muss.

Buchtipp: Ingenieurbaukunst 2021

Die neue Ausgabe des Jahrbuchs „Ingenieurbaukunst“ präsentiert eine Auswahl der wichtigsten aktuellen Bauwerke „Made in Germany“ und diskutiert die Zukunft des Planens und Bauens. Herausgegeben von der Bundesingenieurkammer werden damit die Leistungen des deutschen Bauingenieurwesens dokumentiert. Ausgewählt wurden die Diskussionsthemen und Bauwerke von einer wissenschaftlichen Jury. Die beteiligten Ingenieurinnen und Ingenieure beschreiben die bautechnischen Herausforderungen ihrer Bauwerke und erläutern die konkreten Lösungen bei Planung und Ausführung. Das Jahrbuch Ingenieurbaukunst ist damit einerseits eine Galerie der Spitzenleistungen des deutschen Bauingenieurwesens und andererseits eine Schaubühne der aktuellen Debatten rund um das Planen und Bauen in Deutschland. Bundesingenieurkammer (Hrsg.): Ingenieurbaukunst 2021. Ernst & Sohn 2020, 39,90 Euro.