Interview mit Prof. Dr. h.c. Walter Smerling

„Ohne Kunst ist unsere Welt nicht denkbar“

Foto: Fotolia/Claudia Paulussen
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Prof. Dr. h.c. Walter Smerling ist Betriebswirtschaftler und unter anderem Direktor des MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst in Duisburg sowie Honorar-Professor für Kunst- und Kulturvermittlung an der Universität Witten/Herdecke. Im Interview erklärt er, wie Verwirrung und Freude beim Betrachten von Kunstwerken zusammenhängen, welche positiven Effekte Unternehmenssammlungen für die Szene haben und worauf es bei Kunst eigentlich ankommt. Das Gespräch führte Wolf Alexander Hanisch.

Walter Smerling, Foto: Wolfgang LienbacherProf. Dr. h.c. Walter Smerling ist Vorsitzender der Stiftung für Kunst und Kultur e.V. Bonn und Direktor des MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst in Duisburg.Nach einer Banklehre sowie einem Studium der Betriebswirtschaftslehre und Kunstgeschichte arbeitete Smerling zunächst als Fernsehjournalist, bevor er Kurator und Ausstellungsmacher wurde.
Seit 2010 ist er Honorarprofessor für Kunst- und Kulturvermittlung an der Universität Witten/Herdecke.

Kunst hatte jahrtausendelang den Auftrag, die Menschen zu unterstützen und zu trösten. Eine oft anzutreffende zeitgenössische Sichtweise widerspricht dem jedoch. Geht es nach ihr, muss gute Kunst vieldeutig sein und darf nichts von uns wollen. Entsprechend ratlos verlassen wir oft die Museen. Ist diese Verwirrung die Folge eines Missverständnisses? Oder ist sie vielmehr gewollt und heilsam?
Ihre Frage ist sehr komplex. Das fängt schon damit an, dass es die Unterscheidung zwischen guter und schlechter Kunst so gar nicht gibt. „Die Kunst ist Kunst-als-Kunst, und alles andere ist alles andere“, hat der Maler Ad Reinhardt 1962 gesagt. Damit meinte er unter anderem, dass in der Kunst etwas zum Ausdruck gebracht wird, was einen universellen Wirkungsanspruch hat, was die Menschen in ihrem geistigen oder spirituellen Sein berührt, was sie in vielerlei Hinsicht bereichert. Und dabei kann es durchaus passieren, dass wir eine Aussage zwar interessant finden, aber nicht auf Anhieb verstehen und darum verwirrt sind. Doch in der Regel denken wir dann darüber nach, warum uns die Kunst verwirrt. Und genau da wird die Sache spannend. Denn Kunst ist auch ein therapeutischer Prozess, der durch Provokation funktioniert. So holt sie aus dem Betrachter heraus, was in ihm steckt – und umgekehrt. Wenn dies zunächst als Verwirrung erlebt wird, dann in einer durchweg positiven Weise. Und je öfter man Kunst betrachtet, desto kleiner wird diese Verwirrung und desto größer die Freude.

Die moderne Kunst birgt also Geheimnisse und wirft Fragen auf…
… allerdings nicht die moderne Kunst allein! Kunst steckt immer voller Fragen. Unabhängig von der Epoche, in der sie entsteht.

Aber ist eine Arbeit von Joseph Beuys nicht buchstäblich fragwürdiger als etwa Leonardo Da Vincis Mona Lisa?
Warum das denn? Niemand kann behaupten, dass die Geheimnisse der Mona Lisa durchweg gelüftet seien. Warum lächelt sie so? Wer hat das Porträt in Auftrag gegeben? Was war der Grund dafür? Welches Leben führte sie? Was für eine Rolle spielte ihr Ehemann? Beim Betrachten der Mona Lisa taucht doch eine Frage nach der anderen auf.

Gut. Aber wenn Kunst prinzipiell Fragen aufwirft, dann provoziert sie auch mitunter kritische oder gar rebellische Haltungen. Dennoch leisten sich viele Unternehmen die Kunst als Steckenpferd. Wie passt das zusammen? Kritik ist doch etwas, was dem Profit gefährlich werden kann …
Auf diesem Feld muss man den Blick sehr weit fassen. Kunst und Kultur sind ja Synonyme für Freiheit, weil sie unzählige Erfahrungsangebote machen, seien die nun rebellisch oder nicht. Und das sind Angebote, ohne die unsere ganze Gesellschaft so nicht funktionieren würde. Das schließt die Unternehmen durchaus ein, die darum nicht nur eine soziale, sondern auch eine kulturelle Verpflichtung haben. Immerhin bieten sie Produkte oder Dienstleistungen für Menschen an, die diese auch bewerten müssen. Und dabei hilft die Kunst. Dazu kommt, dass man mittlerweile zwischen wirtschaftlichen und kulturellen Angeboten kaum noch unterscheiden kann. Gut zwei Drittel dessen, was wir heute konsumieren, ist doch ohne die Kulturindustrie gar nicht mehr denkbar. Nehmen Sie nur unsere Kleidung, die Filmbranche oder die Produktion all der Bilder für unsere Medienwelt. Kunst und Kultur sind ein enorm wichtiger weicher Faktor. Und tatsächlich leben wir in einer Kunst- und Kulturlandschaft, deren Dichte ihresgleichen sucht.

Der Einfluss von Unternehmern im Kunstbetrieb ist aber auch in einem sehr direkten Sinn gestiegen. Als Sammler haben sie das Geld, das den Museen oft fehlt. Besitzen sie darum auch eine Macht, die der Freiheit der Kunst womöglich schlecht bekommt?
Das sehe ich nicht so. Im Gegenteil: Das Engagement von privater Hand ist so wichtig wie unproblematisch. Mit ihren Mitteln erwerben Unternehmer nicht nur Kunstwerke unterschiedlichster Provenienz, sondern machen sie häufig auch auf vorbildliche Weise zugänglich.

Aber sie entscheiden doch mit ihrem Geld darüber, welche Kunst Erfolg hat und welche nicht?
Das war doch nie anders! Seien es die Fugger, die Medici oder die Kirche: Alle haben sich in der Kunst engagiert. Heute dagegen existiert eine ungleich komplexere, vielfältigere und umfassendere Kunstszene als je zuvor. Alle zwei Monate findet irgendwo ein Kunstmarkt statt, der sehr verschiedene Interessen bedient. Da sehe ich die Heterogenität nicht gefährdet. Außerdem kenne ich keinen Sammler, der seine Werke in einem Museum unbedingt durchdrücken will. Museen fragen vielmehr nach einzelnen Objekten und treffen da in der Regel auf sehr kooperative Partner. Dennoch gebe ich zu, dass die Unabhängigkeit ein hohes Gut ist, auf das Museumsdirektoren unbedingt achten müssen.

Unter Galeristen hört man mitunter die Klage, dass die Leute viel über Namen und Geld sprächen, aber nur noch wenig über die Qualität. Woran erkennt man denn, ob ein Kunstwerk etwas taugt?
Ich habe ja eingangs erwähnt, dass Kunst umso verständlicher wird, je häufiger man sich mit ihr auseinandersetzt. Der Kontakt mit Kunst schult das Sehen und vergrößert die Vergleichsmöglichkeiten. Und das gilt auch für die Fähigkeit, die Qualität von Kunstwerken zu erkennen. Nicht das Reden über Kunst ist wesentlich, sondern das Betrachten.

Das mag ja sein. Aber wo liegt der Knackpunkt, an dem sich beim geschulten Betrachten von Kunst die Spreu vom Weizen trennt?

Der wahrscheinlich gravierendste Faktor ist die Zeitspanne, über die sich ein Künstler seinem Thema widmet. Wenn Sie bei einem Georg Baselitz über 50 Jahre, bei einem Gerhard Richter über fast 60 Jahre die klare Linie in den Werkprozessen nachvollziehen können, und wenn Sie etwa bei einem Markus Lüpertz herausfinden, dass er manche spannenden Aspekte schon in den Sechzigern bearbeitet hat, dann spüren Sie die Tiefe, die Durchdachtheit und den Wert von Kunst ganz deutlich. Dass sich dies auch in der Marktstellung der Künstler abzeichnet, liegt auf der Hand.

Apropos Markt: Unterliegt die Kunst einem Modediktat wie viele Branchen und Lebensbereiche? Etwa nach dem Motto: Was gestern gut war, ist heute alt? Anders gefragt: Gibt es trotz der Bedeutung der Zeit eine Art Jugendwahn auf dem Kunstmarkt?
Kurzfristig ja, etwa bei den „Jungen Wilden“ in den achtziger Jahren. Da war die Farbe auf der Leinwand noch nicht trocken, da wechselten die Gemälde schon den Besitzer. Langfristig aber spielt das keine Rolle, da zählt vor allem die Konsequenz von Idee und Ausdruck.

Wie wird man denn zu einem erfolgreichen Künstler? Was begründet eine Karriere?
Alle Künstler, die ich kenne, sind zu jeder Zeit angetreten, die Nummer Eins zu sein, und völlig überzeugt von dem, was sie tun. So eine Einstellung ist sicherlich die Grundvoraussetzung für den Erfolg. Aber natürlich muss ein junger Künstler auch das System und den Markt verstehen, muss die Beziehungen zwischen den Galerien, den Kunstvereinen, den Kunsthallen, den Auktionshäusern und den Museen begreifen. Doch wie gesagt: Dieses Wissen nützt ihm wenig, wenn er dabei nicht authentisch ist, wenn er nicht weiß, was er ausdrücken will, und wenn er dafür keine eigene Sprache findet. Das ist und bleibt der Kern des Erfolgs im Kunstbetrieb. Aller manchmal irrationalen Auktionsergebnisse zum Trotz, die natürlich auch dem Spiel von Angebot und Nachfrage unterliegen.

Lassen Sie uns zum Schluss ein wenig pathetisch werden: Können Sie ein Kunsterlebnis nennen, das Ihr Leben verändert oder besonders stark beeinflusst hat?
Das war eine Ausstellung von Paul Klee 1978 im Rheinischen Landesmuseum in Bonn. Ich war damals 18 Jahre alt, und außer mir war nur Joseph Beuys mit zwei oder drei seiner Studenten zugegen. So sind wir uns zufällig begegnet und haben uns über Kunst unterhalten. Am selben Abend habe ich dann einen Vortag besucht, in dem Beuys über seinen erweiterten Kunstbegriff sprach. Auf die sinnlichen, fast erotischen Landschaftsbilder von Klee folgten die komplexen konzeptionellen Ausführungen von Beuys. Natürlich hatte ich damals die Begriffe nicht drauf und habe weiß Gott nicht alles verstanden. Aber ich wusste: Das ist es. Wenn Sie so wollen, war auch ich verwirrt seinerzeit – aber ein für alle mal von der Kunst fasziniert.