Der Revolutionär: Christian Felber im Interview

Christian Felber, Foto: José Luis Roca
Christian Felber, Foto: José Luis Roca

Der österreichische Ökonom und Publizist Christian Felber fordert nicht weniger als einen Neuanfang in den Wirtschaftswissenschaften. Nahezu unglaublich sei es, dass die Ökonomie den Kapitalismus wie ein Naturgesetz behandle, ihn gegen Kritik in Schutz nehme und Alternativen ignoriere. Felber plädiert für vielfältigere Wirtschaftswissenschaften – und hofft auf mehr Unternehmen, die sich für nachhaltiges und ethisches Handeln entscheiden. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Christian Felber, geboren in Salzburg, studierte Romanistik, Soziologie, Psychologie und Politikwissenschaft in Madrid und Wien, seit 1996 ist er als freier Publizist tätig. Seine Bücher wie „Neue Werte für die Wirtschaft“ oder „Die Gemeinwohl-Ökonomie“ wurden zu Bestsellern. Seit 2008 übt Felber Lehrtätigkeiten an verschiedenen Hochschulen aus, zum Beispiel an der Wirtschaftsuniversität Wien. Er ist Mitgründer von Attac Österreich sowie Initiator der Projekte „Bank für Gemeinwohl“ und „Gemeinwohl-Ökonomie“. Daneben ist Christian Felber auch als zeitgenössischer Tänzer und Performer tätig.

christian-felber.at

Herr Felber, Sie rufen in Ihrem Buch zu einer Revolution der Wirtschaftswissenschaften auf. Wie kann das funktionieren?
Der Begriff der Revolution ist eine Anspielung auf den Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn, der ein Standardwerk über die „Struktur der wissenschaftlichen Revolution“ geschrieben hat, wobei er hier die Naturwissenschaften im Sinn hatte: Werden Grundannahmen, zum Beispiel in der Physik, so sehr erschüttert, dass sie irgendwann nicht mehr zu halten sind, erfolgt ein Paradigmenwechsel, der schließlich zu einer wissenschaftlichen Revolution führt. Einsteins Relativitätstheorie ist hier ein Beispiel, oder auch Kopernikus und sein heliozentrisches Weltbild, das die Vorstellung ablöste, die Erde sei der Mittelpunkt des Sonnensystems.

Nun sind die Wirtschaftswissenschaften aber keine Naturwissenschaft. Sprich: Sie sind nicht eindeutig.
Das stimmt, und hier liegt die Ironie der Geschichte. Sozialwissenschaften zeichnet grundsätzlich die Pluralität ihrer Theorien aus, und genau das muss die Möchtegern-Physik der Wirtschaftswissenschaft endlich auch für sich anerkennen: Menschen und Märkte verhalten sich nicht wie Planeten oder Atome, es gibt keine „Marktgesetze“. Im Grunde steht daher nicht nur ein Paradigmensondern auch ein Kategorienwechsel an. Die Wirtschaftswissenschaft beschäftigt sich nicht mit Wahrheiten, sondern mit Annahmen und Werturteilen. In der Physik ist es ein Gesetz, dass ein Apfel mit einer vorher berechenbaren Geschwindigkeit vom Baum fällt. In den Wirtschaftswissenschaften sind solche „dauerhaften Wahrheiten“, von denen die Lehrbücher sprechen, Illusion.

Wo liegt denn der Ausgangspunkt für diese Sichtweise auf die Ökonomie?
Mit der Abspaltung der neoklassischen Ökonomik von der klassischen Politischen Ökonomie am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Neoklassiker – Walras, Pareto, Menger – wollten nichts mehr mit Werten zu tun haben und vertunnelten ihren Blick auf Zahlen. So kam es, dass alle anderen ökonomischen Theorien wie zum Beispiel der Feminismus, der Marxismus oder die Ökologische Ökonomik als unwissenschaftlich betrachtet werden und in den Lehrbüchern nicht vorkommen.

Menschen und Märkte verhalten sich nicht wie Planeten oder Atome, es gibt keine ‚Marktgesetze‘.

Sprich, was dem Kapitalismus widerspricht, kann nicht stimmen.
Die Neoklassik ist die Haus- und Hofwissenschaft des Kapitalismus. Obwohl sie das kapitalistische Wertesystem verkörpert und predigt – Eigennutzenmaximierung, Konkurrenz, Materialismus, Geldgier, Wachstum – bezeichnet sie sich selbst als „wertfrei“ und alle anderen als „normativ“. Mit einer Überdosis Mathematik versucht sie, diesen Schein der Wissenschaftlichkeit aufrechtzuerhalten. Die Krönung des Objektivitätsanscheins war 1968 die Einrichtung eines „Nobel“-Preises für Wirtschaftswissenschaften, gestiftet eben nicht von Alfred Nobel, sondern von der Schwedischen Reichsbank. Dieser Preis favorisiert von Beginn an nur eine einzige Theorieschule. Solche Aspekte erklären die 150 Jahre lange Vorherrschaft der Neoklassik in den Wirtschaftswissenschaften.

Können Sie ein Beispiel für diese Vorherrschaft geben?
Schauen wir auf den Begriff des Eigentums, eigentlich müsste es in den Lehrbüchern eine differenzierte Beschreibung der verschiedenen Formen geben, des privaten, gemeinschaftlichen, öffentlichen Eigentums sowie des Naturschutzes ohne Eigentum – inklusive einer wertebasierten Diskussion über die Vor- und Nachteile der jeweiligen Form. Das liefern die Lehrbücher aber nicht, stattdessen beschreiben sie im Wesentlichen eine einzige Eigentumsform, nämlich das private, und erwähnen die anderen Formen nur kurz und nicht selten fehlerhaft.

Was bedeutet fehlerhaft?
Nehmen Sie die das Modell der Tragödie der Allmende von Garrett Hardin. Er beschreibt, dass Allgemeingut dazu führe, dass Effizienz verloren gehe und Raubbau einsetze. Jedoch handelt es sich bei seinem „Beispiel“ um nicht reguliertes Niemandsland – also nicht um ein Land in gemeinschaftlichem Eigentum mit klaren Nutzungsregeln. Das ist ein schwerer handwerklicher Fehler, der in den Lehrbüchern aber nicht korrigiert, sondern weiterverbreitet wird.

Zurück zur Revolution: Wer treibt diese an?
Es gibt eine wachsende Bewegung für eine Plurale Ökonomik, in der sich Studierende und Professoren zusammenschließen, um innerhalb des Systems Änderungen anzustoßen. Hinzu kommen praktische ökonomische Ansätze wie die Gemeinwohlökonomie, die Gemeingüterbewegung oder die Post-Wachstums-Ökonomie, die heute mehr denn je Gehör finden, weil sie realistische Alternativen wirtschaftlichen Handelns bieten. Sie erzählen die Wirtschaft auch ganz anders als es der neoklassische Kapitalismus tut, der ausschließlich auf den Markt fokussiert und damit andere Orte wirtschaftlichen Handelns – Haushalte, Commons oder Kooperationsnetze – ignoriert. Die neuen Ansätze erzählen von einer echten „oikonomia“ des guten Lebens, während die Neoklassik die „Chrematistik“ weiterführt: ein Wirtschaftsverständnis, in dem Geld- und Kapitalmehrung zum Selbstzweck werden. Aristoteles hat eine solche Wirtschaftsweise als „widernatürlich“ bezeichnet.

Netzwerk Plurale Ökonomik

Im Netzwerk Plurale Ökonomik vereinigen sich deutschlandweit verteilte Arbeitskreise sowie weitere Hochschulgruppen und Initiativen, die sich dem Ziel einer pluralen Ökonomik verpflichtet haben. Ihr Ziel: Der Vielfalt ökonomischer Theorien Raum zu geben, die Lösung realer Probleme in den Vordergrund zu stellen sowie Selbstkritik, Reflexion und Offenheit in der VWL zu fördern.

www.plurale-oekonomik.de

Wie schätzen Sie die Unternehmen ein? Stimmen Sie zu, dass zumindest einige zeigen, dass ökonomisches Handeln heute auch etwas mit Ethik, Verantwortung und Nachhaltigkeit zu tun hat?
Viele regional verwurzelte Betriebe, Familienunternehmen, Genossenschaften und auch alternative Banken sind intrinsisch ethisch motiviert. Nicht ohne Grund wurde die Gemeinwohl- Ökonomie-Bewegung von Unternehmen initiiert. Auf der anderen Seite gibt es weiterhin keine gesetzlich verpflichtende Gemeinwohl-Bilanz für Großkonzerne. Sie dürfen weiterhin Gewinnmaximierung auf Kosten des sozialen Zusammenhalts, der Ökologie und der Demokratie betreiben. Obwohl im Grundgesetz steht, dass „Eigentum verpflichtet“. Wenn die Wirtschaftswissenschaft das Verfassungsrecht ignoriert, muss sie demokratisiert werden. Wenn wir also die Bürgerinnen und Bürger fragten, wie Unternehmen aufgestellt sein müssen, würde sich eine breite Mehrheit dafür aussprechen, dass Unternehmen, die dem Gemeinwohl dienen, Vorteile gegenüber chrematistischen Geldmaschinen genießen sollen, statt umgekehrt wie heute.

Gibt es eine Alternative zur Revolution der Wirtschaftswissenschaften?
Ein Weiter-so wie bisher führt in die Klimakatastrophe, in das finale Auseinanderreißen der Gesellschaft und in autoritäre antidemokratische Verhältnisse. Die Ökonomik ist gar nicht so rational, wie sie gerne tut. Die am weitesten verbreitete Kurzdefinition der Wirtschaftswissenschaften lautet: effizientes Management knapper Ressourcen. Fragt man die Menschen heute, welche Ressourcen besonders knapp sind, wird die Mehrheit sagen: die ökologischen – also stabiles Klima, Artenvielfalt, fruchtbare Samen, saubere Luft und Trinkwasser. In der neoklassischen Wirtschaftswissenschaft kommen diese Ressourcen jedoch kaum oder gar nicht vor. Was zeigt: Die Revolution ist unumgänglich.

Aufruf zur Revolution

Cover This is not EconomyChristian Felbers neues Buch erscheint Ende September 2019. „This Is Not Economy – Aufruf zur Revolution der Wirtschaftswissenschaft“ legt offen, wie sehr sich die Ökonomie wie eine Naturwissenschaft betrachtet und mit dieser Haltung Diskussionen ausschließt sowie Pluralität verhindert. Der Autor zeigt, dass zentrale Punkte des neoklassischen Kapitalismus dem zeitgenössischen Demokratieverständnis widersprechen und nicht dazu geeignet sind, die Herausforderungen der Gegenwart zu lösen. Christian Felber: This Is Not Economy – Aufruf zur Revolution der Wirtschaftswissenschaft. Deuticke 2019. 22 Euro.