Digitalisierung in Kanzleien – IT-Jurist Gernot Halbleib im Interview

Gernot Halbleib, Foto: Privat
Gernot Halbleib, Foto: Privat

Der promovierte Jurist Dr. Gernot Halbleib hat sich als Berater und Gründer von Start-ups einen Namen gemacht, die rechtliche Prozesse automatisieren. Derzeit berät er Kanzleien, wie es gelingen kann, die Vorteile der Digitalisierung zu nutzen. Im Interview erklärt er, warum sich Juristen mit IT-Lösungen schwertun und wie der Nachwuchs davon profitieren kann. Die Fragen stellte André Boße.

Herr Dr. Halbleib, Juristen sagen gerne, sie seien Großmeister darin, neue Themen zu adaptieren. Beim Thema IT haben Sie bei Juristen ein Defizit festgestellt. Woran liegt das?
Vorweg, natürlich gibt es Ausnahmen, also Juristen, die sich sehr stark für Tech-Themen interessieren. Aber es sind tatsächlich eher weniger. Das liegt im ersten Schritt daran, dass die juristische Ausbildung überhaupt keine Bezüge zur IT aufweist. Hausarbeiten mit Office-Programmen schreiben und Online recherchieren – das war es dann meistens auch schon. Und die Kanzleien sind größtenteils nicht viel weiter. Die eine oder andere hat vielleicht eine bestimmte Kanzleisoftware, mehr findet sich auch dort nicht. Sprich: Die Arbeitswelt der Juristen fordert IT-Kenntnisse noch nicht ein.

Zur Person

Dr. Gernot Halbleib studierte Rechtswissenschaften an der Bucerius Law School in Hamburg. Dort promovierte er 2010. Nach seinem Referendariat beim Kammergericht und mit diversen Stationen in internationalen Großkanzleien startete er seine berufliche Laufbahn in der Start-up-Branche, unter anderem als IT-Produktmanager beim Online-Möbelhaus Home24 und als Entrepreneur in Residence bei Project A Ventures. Danach machte er sich als Start-up-Gründer und Unternehmensberater selbstständig. Unter anderem launchte er 2015 das Rechts-Portal „Recht ohne Risiko“. Seit Sommer 2016 ist er als Legal Tech-Berater am Bucerius Center on the Legal Profession tätig und berät Juristen bei der Frage, wie die Digitalisierung die Arbeit in Kanzleien und Rechtsabteilungen verändert.

Das überrascht, weil doch die Mandanten insbesondere der Wirtschaftskanzleien immer mehr juristischen Beratungsbedarf bei digitalen Themen anmelden.
Das stimmt. Ich kenne Anwälte, die sich auf IT-Recht spezialisiert haben, von sich jedoch frank und frei behaupten, sie hätten selber kaum Ahnung von der Technologie. Auch hier gibt es Ausnahmen, und ich denke auch, dass eine Tech-Affinität bei der Beratung des Mandanten hilfreich ist. Aber: Sie ist, zumindest derzeit, noch nicht zwingend notwendig. Es geht auch ohne, denn, Sie haben es eingangs ja bereits gesagt: Eine Stärke der Juristen liegt darin, Sachverhalte schnell zu adaptieren. Sprich: Der Anwalt kann sich in die juristischen Problemstellungen von Software-Lizenzen oder Datenschutz hineindenken, ohne selbst IT-Experte zu sein.

Wird IT-Know-how für junge Juristen daher vom Muss- zum Kann-Thema?
Die Geschäftsmodelle der Kanzleien öffnen sich langsam aber sicher in Richtung Digitalisierung. Die Partner realisieren dabei vor allem, dass man mit IT-Lösungen die Arbeit in den Kanzleien deutlich effizienter gestalten kann. Hier liegt ein großes Einsparpotenzial.

Wie wird der Einzug von IT-Lösungen in den Kanzleien konkret aussehen?
Zum einen werden Nischen entstehen, in denen man als Legal Engineer tätig sein kann. Hier werden gezielt Spezialisten mit einer Doppelqualifikation in Jura und IT gesucht, die mithilfe der digitalen Technik ganz neue Geschäftsmodelle entwickeln, indem sie versuchen, möglichst viele Arbeitsabläufe zu automatisieren. Die Arbeit dieser Spezialisten betrifft im zweiten Schritt natürlich auch die Tätigkeiten der beratenden Anwälte einer Kanzlei. Diese werden in ihrem Arbeitsalltag immer häufiger mit Softwarelösungen konfrontiert werden, um bestimmte Arbeitsschritte zu standardisieren.

Es kann zum Beispiel die strategische Entscheidung einer Sozietät sein, die Erstellung bestimmter Dokumente mithilfe eines digitalen Vorlagesystems zu automatisieren. Das funktioniert zum Beispiel in Wirtschaftskanzleien bei der Erstellung von komplexen Verträgen bei Business-Transaktionen. Steht die IT, wird der Anwalt zum aktiven Anwender – und das setzt dann schon etwas mehr Tech-Verständnis voraus, als den Computer nur zum  Schreiben zu benutzen.

Das juristische Geschäft wird also nie komplett standardisierbar sein, wie es zum Beispiel heute schon mit Bestellungen bei Online-Versandhäusern funktioniert.

Welche ganz neuen Geschäftsmodelle kann ein Legal Engineer entwickeln?
Interessant sind hier alle Rechtsbereiche, in denen sich erstens die Abläufe relativ leicht standardisieren lassen und zweitens sehr viele Menschen betroffen sind, diese jedoch eine Hemmschwelle besitzen, zum Anwalt zu gehen – vor allem, weil ihnen das Risiko als zu hoch erscheint.

Kanzleien werben gerne mit dem Satz, jeden Mandanten individuell zu betrachten. Wie geht das mit Standardisierungen und Automatisierungen zusammen?
Es gibt nur sehr selten Fälle, die zu einhundert Prozent individuell sind. Das würde ja bedeuten, dass ein Jurist das Rad bei jedem Fall neu erfinden müsste. Auf der anderen Seite lässt sich auch kaum ein Fall komplett automatisieren. Die Wahrheit liegt, wie so oft, in der Mitte. Es gibt aber Fälle, die sehr gut standardisierbar sind. Dazu zählen zum Beispiel die Fluggastrechte oder bis zuletzt auch Rechte bei Kreditwiderrufen.

Genau darauf hatte sich Ihr Portal „Recht ohne Risiko“ spezialisiert.
Ja, wobei seit Ende Juni eben ein neues Gesetz zu Ungunsten der Kreditnehmer gilt. Aber es gibt schon noch weitere Felder, in denen die Rechtsfolgen klar geregelt und daher günstig für Automatisierungen sind. Dann wiederum gibt es Fälle, die zwar häufig vorkommen, aber doch sehr verschieden sind. Zum Beispiel Verkehrsunfälle. Aber auch hier kann man die Effizienz deutlich steigern, wenn man die Prozessabläufe automatisiert. Das heißt in diesem Zusammenhang nicht: Jeder Fall ist gleich. Sondern: Jeder Fall wird nach einem einheitlichen Standard bearbeitet.

Der Anwalt kann sich in die juristischen Problemstellungen von Software-Lizenzen oder Datenschutz hineindenken, ohne selbst IT-Experte zu sein.

Das geht dann soweit, bis an einer gewissen Stelle klar wird, dass der Fall nun die Standardroute verlässt und individuell wird. Zum Beispiel, wenn eine Seite ein Vergleichsangebot einreicht. Dann muss der automatische Prozess gestoppt werden – und der Anwalt greift wieder ein und ruft seinen Mandanten an, um ihn individuell zu beraten. Das juristische Geschäft wird also nie komplett standardisierbar sein, wie es zum Beispiel heute schon mit Bestellungen bei Online-Versandhäusern funktioniert. Die Arbeitsschritte dort sind prinzipiell komplett automatisierbar. Soweit wird es beim Recht nicht kommen, was aber nicht heißt, dass Standardisierungen generell unmöglich seien.

Wie können diese digitalen Prozesse die Arbeitswelt in den Kanzleien verändern?
Eine wirklich umfassende Kanzleisoftware kann den Kundenservice deutlich erhöhen. Wenn ich als Mandant eine Frage zu meinem Fall habe, muss ich bislang auf einen Termin mit meinem Anwalt warten. Sind die Fälle gut aufbereitet und transparent im System dargelegt, ist es auch möglich, dass dem Mandanten jemand anderes die gewünschte Auskunft gibt. Das muss noch nicht einmal ein anwaltlicher Mitarbeiter sein.

Generell entsteht hier an der Schnittstelle zwischen IT und anwaltlicher Beratung ein neues Job-Profil. Gefragt sind Leute mit guten kommunikativen Skills, die schnell und präzise juristische Sachverhalte beurteilen und vermitteln können. Das ist allemal ein guter Nebenjob für Studenten oder Referendare, aber auch für Leute, die sich eine Auszeit vom Büro nehmen und trotzdem etwas verdienen möchten. Denn das ist ja das Schöne an der digitalen Arbeit: Man kann sie, wenn man mag, auch von einer Strandbar in der Karibik aus verrichten.