Interview mit Prof. Gerald Hüther

"Wanderer auf bergigem Terrain"

Gerald Hüther, Foto: Franziska Hüther / Fotolia/Olaf Meyer
Gerald Hüther, Foto: Franziska Hüther / Fotolia/Olaf Meyer

Burnout ist Kopfsache – sagt der Hirnforscher Prof. Dr. Gerald Hüther. Im Gespräch mit BERUFSZIEL-Autor André Boße erklärt er, was oben falsch läuft, wenn die persönliche Krise einsetzt, und wie sich Nachwuchskräfte davor schützen können. Sein Rat für Young Professionals: „Suchen Sie den Sinn!“

Prof. Dr. Gerald Hüther studierte in Leipzig Biologie und absolvierte dort nach seinem Diplom ein Forschungsstudium in Neurobiologie. Nach seiner Promotion leitete er von 1979 bis 1989 am Max-Planck-Institut in Göttingen ein Forschungsprojekt zur Entwicklungsneurologie. 1988 hat er sich im Fachbereich Medizin habilitiert. Derzeit leitet der 63-Jährige an den Unis Göttingen und Mannheim die Zentralstelle für neurobiologische Präventionsforschung.

Hüther ist Verfasser von rund 100 wissenschaftlichen Fachbeiträgen, Fach- und Sachbüchern, vor allem zu den Themen Hirnentwicklung und Auswirkungen von psychischen Belastungen auf die Gesundheit. Der dreifache Vater lebt in Göttingen.

Herr Professor Hüther, was läuft im Gehirn falsch, wenn eine Nachwuchskraft schon früh in der Karriere die Krise kriegt?
In guten Zeiten und wenn alles passt, wird unser Gehirn von Harmonie bestimmt. Die verschiedenen Areale im Gehirn sind synchronisiert. Kritisch wird es, wenn ein Ereignis eintritt, das nicht den Erwartungen entspricht. Das ist selten der Löwe, der mit Getöse ins Zimmer springt, sondern es sind häufig irritierende Brüche. Zum Beispiel mit der Vorstellung, dass man alles kann und dass man sein Zeitmanagement im Griff hat. Erst, wenn man nicht mehr zur Ruhe kommt und die Überlastung zunimmt, stimmt plötzlich das Bild, das man von sich hatte, nicht mehr mit der Realität überein.

Was genau passiert im Gehirn, wenn die Synchronisation nicht mehr funktioniert?
Der Abgleich findet im Frontalhirn statt, wo sich angesichts der Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität ein sogenanntes unspezifisches Erregungsmuster ausbreitet. Wird diese unspezifische Erregung zu groß, ist das Frontalhirn nicht mehr in der Lage, Ihr Denken zu führen. Sie verlieren die Fähigkeit, nach Plan zu handeln, Ihre Gefühle zu kontrollieren oder sich in andere Leute hineinzuversetzen. Kurz gesagt: Sie reagieren kopflos.

Gibt es einen Notfallplan?
Der Hirnstamm übernimmt die Führung und man greift auf die archaischen Muster zurück: Rumbrüllen, also der Angriff. Oder das Verkriechen in eine stille Ecke, also die Flucht. Beides ist gerade für junge Leute in Unternehmen kaum realisierbar, sodass häufig früh das letzte Muster folgt: die ohnmächtige Erstarrung, die komplette Hilflosigkeit. Früher hieß das Depression. Heute nennt man es Burnout.

Was schützt denn Berufseinsteiger davor, ein falsches Bild von sich selbst zu entwickeln?
Zum Beispiel Erfahrungen mit dem Scheitern. Wer talentiert ist, dem gelingt in der ersten Phase seines Lebens vieles sehr leicht. Bester Abi-Schnitt, schnelles Studium, frühe Erfolge im Job mit erster Projekt- und Führungsverantwortung. Es scheint an nichts zu fehlen – nur gescheitert ist man nie. Man darf sich solche Menschen wie Wanderer vorstellen, die bislang nur gerade, gut ausgebaute Wege kennengelernt haben. Und plötzlich geht es auf steiniges, bergiges Terrain.

Nun benötigen innovative Unternehmen gesunde, leistungsfähige Nachwuchskräfte. Was muss sich ändern?
Die Medizin kümmert sich hauptsächlich um die Pathogenese, also um das, was uns krank macht. Ich denke aber, dass es wichtig ist, auch die Salutogenese in den Fokus zu stellen. Also das Wissen darüber, was uns gesund macht. Dabei gibt es drei wesentliche Erkenntnisse: Gesund ist und bleibt, wer erstens versteht, was
los ist. Wer zweitens in die Gestaltung eingreifen kann. Und wer drittens darin einen Sinn erkennt. Verstehbarkeit, Gestaltbarkeit, Sinnhaftigkeit – das
sind die drei Prämissen für ein gesundes LebenGehen wir mit diesen Begriffen mal in ein Unternehmen, in dem ein Hochschulabsolvent an seiner Karriere arbeitet.

Was bedeutet das für ihn?
Das Verstehen ist sicherlich nicht das größte Problem. Der Gestaltungsspielraum ist am Anfang einer Karriere noch nicht sehr groß, weil zunächst die anderen den Ton angeben – doch das kann sich im Laufe der Zeit ändern. Die größte Schieflage beobachte ich bei der Sinnhaftigkeit. Im Geldverdienen steckt kein Sinn. Wer tatsächlich denkt, er habe Schule, Universität, Assessment Center und Probezeit nur durchlaufen, um danach Geld zu verdienen, wird heute Probleme bekommen – spätestens, wenn die Aufstiegsluft dünner wird. Früher war das nur ganz oben der Fall. Depressive Top-Manager sind nichts Neues. Heute erleben jedoch
schon Young Professionals die Irritation, dass es nicht mehr weitergeht. Die alten Hierarchieleitern, auf denen man früher aufsteigen konnte, existieren
nicht mehr. Stattdessen wird man mit befristeten Verträgen abgespeist. Da stellt sich einer Nachwuchskraft sehr früh die Frage: Warum arbeite ich
überhaupt in diesem Laden?

Wohl dem, der eine andere Antwort als Geld hat.
Ja, denn wer diese nicht hat, bewegt sich auf dünnem Eis und wird früher oder später krank. Es ist kein Wunder, dass eine Berufsgruppe als besonders gesund gilt: die der Nonnen, denn Nonnen haben mit der Sinnhaftigkeit ihres Tuns kein Problem.

Wie gelingt es einem Young Professional, der nicht ins Kloster möchte, Sinnhaftigkeit im Beruf zu entdecken?
Ich muss neue Prioritäten finden und setzen. Mir die Frage stellen: Was ist mir wirklich wichtig? Vielleicht stellt sich dann heraus, dass ich in einem Unternehmen arbeiten möchte, das Produkte herstellt, mit denen ich mich hundertprozentig identifiziere. Bei einem Unternehmen, das eine Kultur des Miteinanders mit Leben füllt, die meinen Werten entspricht. Es wäre dann fatal, hier Abstriche zu machen, nur weil man woanders 100 Euro mehr verdienen kann.

Wie wandeln sich Wirtschaft und Gesellschaft, wenn die Unternehmen zunehmend mit Leuten besetzt sind, die echten Sinn in ihrer Arbeit sehen?
Es wird genau der spannende Transformationsprozess einsetzen, den wir in diesem Zeitalter der globalen Krisen benötigen. Worte wie Leistungsdruck, Hierarchien oder Pflichterfüllung sind Begriffe von gestern. Was die Unternehmen in Zukunft benötigen, sind leidenschaftliche Leute. Querdenker und Musterbrecher, die trotzdem teamfähig sind.