Prof. Dr. Jörg Mehlhorn ist Mitgründer und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Kreativität. Ihre Mission: Dafür zu sorgen, dass die Kreativität als wohl wichtigste Begabung eines Menschen bestmöglich in Technik, Wirtschaft und Gesellschaft zum Einsatz kommt. Was dafür nötig ist und wie er selbst vom kreativen Denken infiziert wurde, erklärt Mehlhorn im Interview. Die Fragen stellte André Boße
Zur Person
Jörg Mehlhorn, geboren 1949, ist promovierter Betriebswirt und lehrte 30 Jahre lang Marketing und BWL an der Fachhochschule in Mainz. Der geistigen Ressource Kreativität begegnete er als Juniorberater in der Denkfabrik Battelle-Institut in Frankfurt am Main im Rahmen von Innovationsprojekten. Dieses Erlebnis faszinierte ihn dermaßen, dass er gemeinsam mit seinem ehemaligen Chef Prof. Dr. Horst Geschka und weiteren Weggefährten 1998 einen gemeinnützigen Verein gründete. Seit 2002 leitet er die Deutsche Gesellschaft für Kreativität e.V. Mehlhorn ist Initiator des „Tages der Kreativität“ am 5. September sowie Wortpate des Begriffs Innovationskraft. Er lebt in Kronberg im Taunus.
Herr Prof. Mehlhorn, wann sind Sie in Ihrem beruflichen Leben von Kreativität angesteckt worden?
Angesteckt ist das richtige Wort, ich spreche tatsächlich gerne von einem Virus, den ich mir eingefangen habe und der mich seitdem nicht wieder losgelassen hat. Das war Anfang der Achtzigerjahre, ich war bei einer Denkfabrik in Frankfurt angestellt, wo in einem Workshop Methoden zum kreativen Denken angewendet wurden. Ich war damals in diesem Feld ein kompletter Neuling, hatte BWL studiert und promoviert. Ich wusste natürlich, dass Künstler kreativ arbeiten. Aber Kreativität im Business oder in technischen Berufen? Das war neu für mich.
Wie haben Sie die Kreativität dort erlebt?
Ich traf auf Naturwissenschaftler und Ingenieure aus verschiedenen Fachbereichen – und erlebte dort zum ersten Mal Teamwork unter professioneller Moderation. Zuvor hatte ich als Solist in einem kleinen Büro an der Uni Gießen meine Doktorarbeit geschrieben. Jetzt saß ich mit sechs bis acht gestandenen Erfindern zusammen und durfte als Laie mitspinnen.
Was war Ihre Rolle?
Ich war quasi der Lehrling, der aufmerksam zuhörte, dumme Fragen stellte und Verbindungen herstellte, die diese Experten, die jeweils in ihren Domänen zu Hause waren, vielleicht nicht gesehen haben. Das war für mich ein Ur- Erlebnis. Ein Kulturschock der positiven Art. Und es hat mich so sehr geprägt, dass ich 40 Jahre später das Thema Kreativität noch immer mit großer Leidenschaft propagiere, als die wohl wichtigste Begabung des Mensch-Seins.
Warum war es Ihr Auftrag, vermeintlich dumme Fragen zu stellen?
Die dumme Frage wird ja üblicherweise mit Kindern assoziiert: „Ach, was stellst du Fragen? Warum ist die Banane krumm?“ Aber genau das ist der Punkt. Kinder sind hochgradig kreativ, im Spielerischen, im Fantastischen. Das geschieht bei Kindern genau in dem Bereich des Gehirns, in dem die Form von Kreativität entsteht, die später bei Erfindungen oder Innovationen eine Rolle spielt. Kinder stellen ständig neue Verbindungen her, artikulieren ohne Scham neue Dinge, meist sogar sehr spontan.
Erfinden ohne Kreativität?
Erfinder Dietmar Zobel geht der Frage nach, ob KI-Algorithmen in Zukunft selbstständig erfinden können. Können Maschinen wirklich kreativ sein, oder erkennen sie lediglich statistische Muster, ohne echte Innovationskraft? Der Autor unterscheidet dabei zwischen Intelligenz und Kreativität: Während intelligente Systeme Probleme analysieren, bleibt wahre Kreativität die Fähigkeit, unkonventionelle Verbindungen herzustellen – etwas, das heutige KI-Systeme nur imitieren. Dietmar Zobel: Ersetzt KI den Erfinder? Künstliche Kreativität und Methodisches Erfinden. Drei Kastanien Verlag 2025. 38 Euro
Kindermund tut Wahrheit kund.
Richtig. Diese Fähigkeit verlieren wir Menschen vielfach im Laufe der Jahre. Psychologen sagen, ab der Einschulung geht es bergab. Man lernt zwar immer mehr, aber das Faktenwissen und das Befolgen von Regeln verdrängt dabei das Spielerische im Denken. Die Sache gerät aus der Balance, weshalb die Innovationskraft der Erwachsenen oft verschütt geht. Wichtig ist: Sie wird nicht zerstört, nur verschüttet. Sie ist also wieder herstellbar. So wie es bei mir damals passiert ist.
Ist wirklich jeder Mensch kreativ?
Absolut, wobei diese Erkenntnis erst seit den Fünfzigerjahren unstrittig ist. Die Studie des amerikanischen Psychologen Joy Paul Guilford hat das damals ans Licht gebracht, auf Basis empirischer Untersuchungen bei US-Soldaten. Die Frage ist nun: Wie hebt man diesen Schatz bei Menschen, bei denen das kreative Denken durch Schule und Studium verloren gegangen ist? Eine Methode, die ganz sicher nicht funktioniert, ist Kreativität auf Knopfdruck: „Sei kreativ!“ So einfach ist es nicht. Die Rahmenbedingungen müssen stimmen.
Welche sind das?
Zum Beispiel eine Atmosphäre und ein Umfeld, die Kreativität fördern. Der zentrale Schlüssel dabei ist die Abwesenheit von Angst. Denn Angst ist der Todfeind der Kreativität. Kreativ zu sein bedeutet ja, aus den Normen ausbrechen, etwas Neues zu denken, mit dem man unbekanntes Terrain betritt. Das auszusprechen, zu artikulieren, benötigt vielfach Mut. Wir Erwachsene neigen jedoch zu einer Art Selbstzensur. Oft unbewusst haben wir eine Schere im Kopf, mit der wir Gedanken abschneiden, die uns als riskant erscheinen. Aber genau diese sind es, die wir im innovativen Prozess wollen. Also brauchen wir eine Atmosphäre, die jede Form von Angst vermeidet. Aus einer Idee kann nur dann eine Innovation werden, wenn sie aus der Welt des Denkens in die Welt der Sprache übertragen wird. Und da darf es keine Blockaden geben. Keine Angst vor Blamage. Kein Schamgefühl. Hier sind dann auch die jungen Ingenieure selbst gefragt: Sie müssen sich klarmachen, dass sie in kreativen Umfeldern nicht weiterkommen, wenn sie sich zu sehr anpassen. Sie müssen ihre Scheu verlieren. So, wie mir es damals beim Kreativitätsworkshop gelungen ist. Das funktioniert sicher nicht gleich am ersten Tag.
Wie lange hat es bei Ihnen gedauert?
Es dauerte eine Woche, bis ich mich zunehmend ins Brainstorming sowie in andere Formen einbrachte, die in völlig kritikfreien Räumen stattfinden. Bewertet wird immer erst im nächsten Schritt, meistens sogar von ganz anderen Personen mit anderer fachlicher Expertise.
Kreativ zu sein bedeutet, aus den Normen ausbrechen, etwas Neues zu denken, mit dem man unbekanntes Terrain betritt.
Warum ist Kreativitätsförderung auch eine Führungsaufgabe?
Weil Erwachsene ihr Verhalten meist daran anpassen, was Ranghöhere vorgeben oder erwarten. Das ist auch ein Grund, warum es klug sein kann, als Führungskraft bei einem kreativen Meeting gar nicht dabei zu sein. Die Leute werden in der Regel förmlicher, vorsichtiger, abwägender, wenn Ranghöhere anwesend sind. Es findet also eine gedankliche Verkrampfung statt, und wir wollen in einer konstruktiven und kreativen Gruppe ja unbedingt jede Art von potenzieller Barriere verhindern. Mit dem Ziel, dass das Team einen Flow-Zustand erreicht. Dass sich die kreative Stimmung immer weiter hochschaukelt. Das hat tatsächlich etwas mit einem kleinen Rausch zu tun. Ein Zustand, der ohne Drogen auskommt, denn das Rauschhafte erzeugen wir aus unserem Gehirn heraus. Wenn Sie das einmal in einem Team erlebt haben, dann vergessen Sie das nie wieder. Das ist wie Schwimmen lernen: Plötzlich wissen Sie, dass Sie nicht mehr untergehen. Sie gewinnen Selbstvertrauen, gehen mit einem ganz anderen Level von Lust und Motivation in das nächste Meeting.
Klingt fast wie eine Band, die sich beim gemeinsamem Proben in einen kreativen Rausch spielt.
Ganz genau. Der US-Autor John Kao hat darüber schon in den Neunzigerjahren ein ganzes Buch geschrieben: „Jamming: Art and Discipline of Business Creativity“. Kao ist Managementberater, Dozent in Harvard und Jazz-Pianist, er hat das Prinzip des gemeinsamen Jammens ohne Notenblatt aufs Business übertragen: Aus der gemeinsamen Improvisation heraus entsteht ein neues Produkt oder Konzept.
Warum ist die Vielfalt von Teams wichtig für kreatives Arbeiten?
Angenommen, Sie sind ein Konstruktionsingenieur – und sitzen in einem Team mit lauter anderen Ingenieuren aus der Abteilung. Nicht selten denken alle in eine ähnliche Richtung, kommen vielleicht sogar vom gleichen Lehrstuhl von der gleichen Uni. Die Aufgabe der Führungskraft ist es daher, die Teams so zu besetzen, dass es möglichst viele verschiedene Denk-Ansätze gibt. Das ist eine schwierige Aufgabe, dabei muss man ein paar Dinge ausprobieren, muss experimentieren. Kreative Teams stellen sich meistens nicht von allein auf.
Welcher Fehler wird dabei häufig gemacht?
Zu glauben, dass Teams dann kreativ sind, wenn sich die Leute super verstehen und sie schnell auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Klar, acht männliche Ingenieure um die 30 einigen sich gern rasch darauf, dass es so und so am besten ist. Aber ist das innovativ? Man muss es zumindest bezweifeln. Wobei wir festhalten müssen: Im kreativen Prozess der Innovation arbeiten wir immer nur im Ungefähren. Es gibt keine Garantie für eine originelle und zudem leicht umsetzbare Lösung unseres Problems. Was es allerdings gibt: Wege, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, einen Hit zu landen, im Idealfall eine sogenannte Sprung-Innovation, die alle bisherigen Regeln außer Kraft setzt – und damit zum Game-Changer wird.
Deutsche Gesellschaft für Kreativität e.V.
Der gemeinnützige Verein versteht sich als Plattform für den fachlichen Austausch aller Berufszweige und aller Altersschichten zum Thema Kreativität. Die Gesellschaft hat rund 100 Mitglieder und wurde 1998 gegründet, der informelle Vorläufer entstand bereits im Jahr 1993 im Anschluss an eine Europäische Tagung in Darmstadt, bei der kaum deutsche Teilnehmer anwesend waren. Kooperationen bestehen mit thematisch verwandten Organisationen wie DABEI e.V. und IDEE-SUISSE. Innerhalb Europas ist der Verein eng verbunden mit der EACI, der European Association for Creativity & Innovation. Vom 23. bis 25. September 2026 plant der Verein eine gemeinsame Konferenz an der BTU Cottbus unter dem Motto „Age of Creativity“. Auf der Homepage des Vereins gibt es neben Kreativitätstechniken und einem Lexikon der Kreativität auch Tipps zu Literatur, unter anderem zum Verhältnis zwischen menschlicher Kreativität und künstlicher Intelligenz. https://kreativ-sein.org/



Erfinder Dietmar Zobel geht der Frage nach, ob KI-Algorithmen in Zukunft selbstständig erfinden können. Können Maschinen wirklich kreativ sein, oder erkennen sie lediglich statistische Muster, ohne echte Innovationskraft? Der Autor unterscheidet dabei zwischen Intelligenz und Kreativität: Während intelligente Systeme Probleme analysieren, bleibt wahre Kreativität die Fähigkeit, unkonventionelle Verbindungen herzustellen – etwas, das heutige KI-Systeme nur imitieren. Dietmar Zobel: Ersetzt KI den Erfinder? Künstliche Kreativität und Methodisches Erfinden. Drei Kastanien Verlag 2025. 38 Euro