„Übermacht im Netz“ – Publizistin und Buchautorin Ingrid Brodnig im Interview

Ingrid Brodnig, Foto: Ingo Pertramer / Brandstätter Verlag, AdobeStock/Digital.Art
Ingrid Brodnig, Foto: Ingo Pertramer / Brandstätter Verlag, AdobeStock/Digital.Art

Die österreichische Publizistin und Buchautorin Ingrid Brodnig zählt zu den wichtigsten Stimmen, wenn es darum geht, das Internet und die Digitalisierung zu erklären. In ihrem neuen Buch beschäftigt sich die 35-Jährige mit der „Übermacht im Netz“ – im Interview erklärt sie, warum es Regulierungen in der digitalen Sphäre so schwer haben, wie ihr Idealbild eines Tech-Unternehmens ausschaut und was die junge Generation im Kampf für ein gerechtes Internet tun kann. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Ingrid Brodnig, geboren 1984 in Graz, ist Autorin und Journalistin. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf unsere Gesellschaft. Sie hat mehrere Bücher zu diesem Themenkomplex verfasst und schreibt eine wöchentliche IT-Kolumne namens #brodnig für das Nachrichtenmagazin Profil. Die österreichische Bundesregierung hat sie 2017 zum Digital Champion Österreichs in der EU-Kommission ernannt. Ihre Arbeit wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, etwa dem Bruno-Kreisky-Sonderpreis für das politische Buch. Sie hält regelmäßig Vorträge und Workshops zu Themen der Digitalisierung.

Frau Brodnig, wann haben Sie seinerzeit nach der ersten Phase der Euphorie über das Internet und die Digitalisierung zum ersten Mal gemerkt: Da gibt es eine gefährliche Schieflage?
Das war vor etwa zehn Jahren. Damals hat Facebook plötzlich die Standard-Einstellungen umgestellt – bis dahin posteten User privat, also nur ihre Freunde und ihr Netzwerk sahen das. Plötzlich war der neue Normalmodus, dass man öffentlich postete. Und Mark Zuckerberg sagte: „Wir haben uns entschieden, dass das jetzt die gesellschaftlichen Normen sind.“ Damals hatte Facebook 350 Millionen User, wenig im Vergleich zu heute. Aber ich dachte mir: Interessant, Mark Zuckerberg sagt für hunderte Millionen Menschen, was die „gesellschaftlichen Normen“ sind. Mir wurde in diesem Moment bewusst, wie groß die Macht einzelner dominanter Plattformen ist. Und bis heute beschäftigen mich diese Fragen: Wer hat das Sagen im Netz? Und haben wir Benutzer genug Einfluss?

Wer oder was ist Ihrer Ansicht nach hauptsächlich dafür verantwortlich, dass sich die Machtverhältnisse im Netz bedenklich entwickelt haben?
Gute Frage: Es ist falsch, rein die großen Internetunternehmen verantwortlich zu machen. Aus ihrem ökonomischen Eigeninteresse ist es ja nur logisch, dass sie wachsen wollten, immer mehr Branchen und Geschäftsquellen zu erobern versuchten. Eine Rolle spielen hier schon auch die Politik, die Wettbewerbsbehörden, womöglich wir als Gesellschaft, die wir lange nicht so genau hingeschaut haben. Dass wir einzelne sehr dominante Digitalkonzerne erleben, liegt an zwei Dingen: Der rasanten Wachstumsstrategie im Silicon Valley, die sich auch im früheren Facebook-Motto „Move fast and break things“ widerspiegelt, und die vergleichsweise langsame Reaktion von Behörden und Politikern in Europa und den USA. Das ändert sich aber gerade, sowohl auf Ebene der EU als auch in einigen anderen Staaten.

Aber selbst, wenn ein deutscher Unternehmer die Digitalisierung wirklich ernst nimmt, ist es nicht so leicht, auf diesem globalen Markt mitzuhalten.

Dass Facebook, Amazon, Google & Co. begriffen haben, welche Geschäfte man mit Daten machen kann, ist offensichtlich. Wie beurteilen Sie in dieser Hinsicht die traditionellen Unternehmen im deutschsprachigen Raum: Ist diesen mehrheitlich klar, wie wertvoll Daten für ihr Geschäft sein können?
Ich glaube, vielen ist das absolut klar. Die Frage ist nur: Was fangen sie mit dieser Erkenntnis nun an? Mein Eindruck ist, am schwierigsten haben es die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die aus ganz anderen Branchen kommen. Vielen Unternehmern ist bewusst, wie wertvoll das Datengeschäft ist – und vor allem, wie sehr jede einzelne Branche zunehmend digitalisiert wird. Nur ist das nicht so leicht, in diesem Wettrennen mit genuin digitalen Unternehmen mitzuhalten, die einerseits nicht an bestehende Strukturen gebunden sind, und die andererseits enormes Risikokapital zur Verfügung gestellt bekommen. Viele Start-ups dürfen ja in den ersten Jahren enorme Verluste machen, in der Hoffnung, dass sie eine Nische im Weltmarkt erobern, die sich dann rentiert. Hinzu kommt übrigens auch, dass es einen enormen Wettbewerb um gut ausgebildete Informatiker gibt. Es mag schon sein, dass nicht jedes Unternehmen die Digitalisierung ernst genug nimmt – dass manche vom historisch verankerten Erfolg gesättigt sind oder lieber auf das nächste Quartalsergebnis als zehn Jahre in die Zukunft blickt. Aber selbst, wenn ein deutscher Unternehmer die Digitalisierung wirklich ernst nimmt, ist es nicht so leicht, auf diesem globalen Markt mitzuhalten.

Wenn Sie sich ein digitales Unternehmen erträumen könnten, dass es mit Transparenz und digitaler Ethik ernst nimmt, was wären die Grundzüge eines solchen Unternehmens?
Ein solches Unternehmen kann nur existieren, wenn es fairere Spielregeln am Markt gibt: Derzeit werden häufig jene Akteure belohnt, die sich in rechtliche Grauzonen begeben, die womöglich die Datenschutzgrundverordnung etwas lockerer auslegen, als sie etwa ausgelegt werden sollte – und dadurch mehr Information als die Konkurrenz sammeln. Ein ethisch handelndes digitales Unternehmen kann am Markt nur bestehen, wenn es faire Spielregeln gibt, auf deren Einhaltung Behörden pochen. Sofern dies gelingt, sehe ich dann zwei Eckpfeiler: Transparenz gegenüber dem Konsumenten – das heißt, sich nicht hinter vagen AGBs verstecken, sondern erklären, was die eigene Software sammelt und wie man gesammelte Daten verarbeitet. Und zweitens ist wichtig, dass Ethik nicht rein als PR-Maßnahme gesehen wird – denn derzeit besteht die Gefahr des „ethics washing“, wie es der Politologe Ben Wagner nennt. Das bedeutet, dass viele Ethik-Initiativen von Unternehmen womöglich nur deshalb eingerichtet werden, um ernsthafte Regulierung zu vermeiden.

Viele Start-ups dürfen ja in den ersten Jahren enorme Verluste machen, in der Hoff nung, dass sie eine Nische im Weltmarkt erobern, die sich dann rentiert.

Unternehmen sind Organisationen, in denen Menschen handeln und Entscheidungen treffen. Was denken Sie, wie groß ist der Einfluss von jungen Tech-Experten in Unternehmen, die motiviert sind, die Digitalisierung gerechter zu gestalten: Kann diese neue Generation das System von innen her neu gestalten?
Tatsächlich ist das Personal ein wichtiger Faktor: Google hat zum Beispiel mit dem US-Militär zusammengearbeitet und Videoanalysesoftware für die Drohnen entwickelt, die in Kampfzonen eingesetzt werden. Nach dem Druck etlicher Mitarbeiter rückte man davon ab. Oft wird ein Bild des unpolitischen oder gar verantwortungslosen Programmierers gezeichnet, der sich nicht darum kümmert, wofür seine Software dann eingesetzt wird. Nur stimmt dieses Bild so nicht: Viele Mitarbeiter in Digitalunternehmen sind sogar sehr mutig, da sie von ihrem Arbeitgeber öffentlich ethische Standards einfordern oder da sie zu Whistleblowern werden. Also hier gibt es sicher Verbündete in der Technik- Szene – die können vielleicht nicht im Alleingang alles verbessern, aber ich stelle mir das wie eine Klammer vor: Von unten, bottom-up, kommt der Druck engagierter Mitarbeiter. Und von oben, top-down, kommen neue gesellschaftliche Spielregeln, die Mindeststandards für Digitalunternehmen vorgeben.

Das Leben war auch schon ohne Digitalisierung komplex genug. Könnte es vielleicht sein, dass uns Menschen die Digitalisierung überfordert, dass sie einfach zu komplex ist, dass wir Menschen sie fair gestalten können?
Ja, wir sind sicher auch überfordert von neuer Technik. Es ist ganz normal, dass uns Menschen neue Technologie zuerst mal staunen lässt, dass wir uns vielleicht auch anfangs überwältigt fühlen. Aber den zweiten Punkt sehe ich anders: Wir können sehr wohl die Rahmenbedingungen definieren, innerhalb derer neue Technologie dann eingesetzt wird. In meinen Augen ist nicht wirklich die Technik das Problem, sondern es geht um die Frage, wie wir diese Technik dann konkret im Alltag anwenden. Ein Beispiel: Es gibt mittlerweile neuronale Netze, die Hautkrebs besser erkennen können als viele Mediziner. Solche Software führt auch dazu, dass im medizinischen Betrieb Zeit gewonnen wird, weil man Fälle rasch abklären kann. Die Frage ist aber, was machen wir mit der gewonnenen Zeit? Womöglich wird es so sein, dass Ärzte dann mehr Fälle pro Stunde bearbeiten müssen, alles umso rascher ablaufen muss. Wir könnten aber auch sagen: Toll, dass die Maschine einen Teil der Arbeit abnimmt, dafür hat der Arzt oder die Ärztin dann mehr Zeit für das Gespräch mit den Patienten, kann richtige Beratungsgespräche durchführen. Hier ist nicht die Technik der entscheidende Faktor, sondern wie wir Technik im Alltag dann anwenden.

„Übermacht im Netz“

Cover Übermacht im NetzDer Titel des vierten Buches von Ingrid Brodnig beinhaltet eine feine Doppeldeutigkeit: Im Text schreibt sie „über Macht“ im Internet und analysiert, warum es sich dabei um eine gefährliche Übermacht einiger Akteure handelt. „Der digitale Wohlstand ist ungleich verteilt, Apps überwachen uns insgeheim und Online-Plattformen vermitteln oft schlecht bezahlte Jobs“, zählt die Autorin auf. Doch Ingrid Brodnig ist keine Pessimistin: Ihre konkreten Vorschläge für eine transparentere und fairere digitale Gesellschaft zeigen, dass die Gestaltungskraft bei uns allen liegt.
Ingrid Brodnig, Übermacht im Netz, Brandstätter Verlag 2019 (Werbelink)