Das letzte Wort hat: Architekturkritiker Dr. Klaus Englert

Foto: Fotolia/fotofabrika
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Klaus Englert ist als Architekturkritiker unter anderem für die FAZ, den Deutschlandfunk sowie den WDR tätig. Er studierte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Salamanca Spanisch, Philosophie und Germanistik und promovierte 1986 mit einer Untersuchung der Zeichentheorie bei Jacques Derrida an der Universität Düsseldorf zum Dr. phil. Die Fragen stellte Christoph Berger

Dr. Klaus Englert, Foto: Karoline Künkler
Dr. Klaus Englert, Foto: Karoline Künkler

Herr Englert, in Ihrem Buch zeichnen Sie unter anderem die Entwicklung des Wohnens nach. Dabei wird deutlich, dass Wohnraummangel beispielsweise auch schon in den 1920er-Jahren herrschte. Wie unterscheiden sich die damaligen Ideen und Konzepte, dieser Misere zu begegnen, von den heutigen?
Der Schweizer Kunsthistoriker Sigfried Giedion, der Generalsekretär des Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) war, setzte sich in den zwanziger Jahren öffentlichkeitswirksam für neue, funktionale und preisgünstige Wohnungen ein. Er forderte die „befreite Wohnung“. In der Zeit von Weltwirtschaftskrise und Wohnungsmangel verkündete er auf dem Frankfurter CIAM-Kongress von 1929: „Gerade die Beschränktheit der Mittel und die Beschränktheit des Raumes werden sich als fördernde Faktoren erweisen. Das Haus für das Existenzminimum muss bei geringerem Preis mehr Komfort bieten als die heute übliche bürgerliche Behausung.“ Die heutigen Raumkonzepte wären größtenteils ohne die Bauhaus-Wohnungen nicht denkbar gewesen: freie Grundrisse und flexible Raumgestaltung, damit man sich jederzeit an neue Lebenssituationen (Vergrößerung oder Verkleinerung der Familie) anpassen kann.

Sie beschreiben, das Wohnende heute durch ihr Tun die Umwelt mitgestalten, dieses Tun aber gleichzeitig wieder durch die Umwelt geprägt wird. Was sind die großen Themen, denen sich Wohnende heute durch die Umwelt ausgesetzt sehen?
In meinem Buch habe ich Bert Brecht zitiert, der von einem Wohnen spricht, „das seine Umgebung gestaltet.“ Nicht erst aufgrund der Klimakatastrophe dürfte den Menschen mehr und mehr bewusst sein, welche Auswirkung die eigene Wohnung auf die Umwelt hat. Der Wohnende ist niemals einfach der Höhlenbewohner, der sich um seine Umwelt nicht zu scheren braucht. Unsere Wohnung ist niemals losgelöst von unserer Umwelt. Klimabewusst leben bedeutet auch klimabewusst wohnen. Es stellt sich die Frage: Wie und wo (beispielsweise auf dem Wasser) kann man wohnen, ohne die Umwelt zu belasten?

Und wie reagiert die Mehrheit der Wohnenden darauf?
Das konventionelle Lebensziel „Gründe eine Familie, kaufe ein Auto und schaffe Dir eine Wohnung an“ ist in der Gesellschaft noch tief verwurzelt. Dabei hat die bürgerliche Kleinfamilie schon längst begonnen, sich aufzulösen. Jahrzehntelang wurde das Eigenheim im Grünen als Lebensideal gepriesen. Im Grunde ist dieses Ideal von den wenigsten heute finanziell einzulösen, es sei denn, sie strampeln sich ihr Leben lang ab. Es kommt hinzu, dass peu à peu und gegen alle inneren Widerstände die Einsicht zunimmt, dass sich durch das Eigenheim im Grünen unsere Abhängigkeit von den Autos nicht lösen wird und die dramatische Flächenversiegelung nicht abnimmt.

Was das Planen und Bauen betrifft, bemängeln Sie einen Qualitätsverlust in beiden Bereichen. Welchen Beitrag können Bauingenieure leisten, hier entsprechend gegenzusteuern?
Um das Wohnen zu verändern, müssten sich alle Akteure ändern, die am Wohnungsbau beteiligt sind. Bauingenieure müssten sich (zusammen mit den anderen am Bau Beteiligten) Gedanken darüber machen, mit welchen technischen Standards das Leben in den Wohnungen zu verbessern und die Umwelt zu entlasten ist. Gesunde und umweltverträgliche Baumaterialien einzusetzen, die zudem leicht rezyklierbar sind, scheint mir eine der wichtigsten Anforderungen zu sein. Dazu gehört auch Textilbeton, der, bei gleichen statischen Eigenschaften, fünfzig Prozent weniger Gewicht hat.

Auch wenn das Wohnen heute immer mehr auf die Bedürfnisse nach Flexibilität und Mobilität eingeht: Einen Nestcharakter haben Wohnungen noch immer, oder?
Ursprünglich war die bürgerliche Wohnung so etwas wie der Schutz vor der bedrohlichen Außenwelt. Die eigene Wohnung war Höhle und Schutzburg, in die man sich jederzeit zurückziehen konnte. Das war das Wohnmodell des fin de siècle. Ich denke, dieses Modell hat heute ausgedient. Wenn wir heute Wohnungen mit der Qualität von Antidepressiva bauen können, dann hängt das mit der Veränderung unserer Vorstellung von Wohnen zusammen. Viele möchten Licht und Luft hineinlassen und sich nicht länger von der Umwelt abschotten. Giedions Vorstellung von „befreiter Wohnung“ und Nest war vielleicht in den 1920er-Jahren noch Utopie. Heute sind die technischen Möglichkeiten vorhanden, um sie endlich zu realisieren.