Der Rechtsmarkt verändert sich. Durch die Anwendung von KI-Systemen ergibt sich eine ungeahnte Effizienz. Wer profitiert, wer steht unter Druck – und wie ändert sich die Arbeit in den Rechtsabteilungen der Unternehmen? Ein Blick auf juristische Arbeitswelten in Zeiten von Legal Tech. Ein Essay von André Boße
Montagfrüh in einer größeren Anwaltskanzlei in der nahen Zukunft. Nicht morgen. Aber auch nicht in 20 Jahren. Der erste Kaffee läuft noch, da arbeiten die Systeme mit Künstlicher Intelligenz bereits auf Hochtouren. Ein Sprachmodell scannt und analysiert in Sekundenschnelle gigantische Mengen an Dokumenten, fasst diese zusammen, findet juristische Argumente. Ein generatives KI-Modell erzeugt parallel in Windeseile rechtlich wasserdichte Vertragstexte. Chatbots übernehmen im Namen der Kanzlei – freundlich und smart – die Kommunikationen mit Bestandsmandanten und solchen, die es sehr bald werden sollen. Auch die gesamte Termin- und Anmeldeprozedur läuft digital, das KI-System überwacht, ob alle nötigen Informationen einfließen, die eingebrachten Papiere echt und gültig sind. Ein Knopfdruck reicht – und die generative KI spuckt ein Konzept aus, über welche Zukunftsmärkte sich das Nachdenken lohnt und welche Geschäftsmodelle dort möglich sein könnten. Ah, und den Kaffeevollautomaten, den hat die KI auch selbstständig angestellt, sobald sie erkannte, dass sich die ersten hier Tätigen auf den Weg ins Büro machen.
Die KI läuft schon – und was machen die Jurist:innen?
Schöner, neuer Kanzleialltag. Nur, welche Aufgaben übernehmen die Menschen noch in dieser von der Künstlichen Intelligenz geprägten Kanzlei? Das Zukunftsszenario könnte den Eindruck erwecken, nicht nur ihr Kaffee-Know-how, sondern auch ihre juristische Expertise seien in dieser nahen Zukunftswelt überflüssig. Wer aber das Arbeiten in Kanzleien wirklich kennt, der hat eine Ahnung, dass es so nicht sein wird. Ein Partner einer großen US-Kanzlei hat die juristische Realität wie folgt zusammengefasst: „Jeder, der schon einmal praktiziert hat, weiß, dass es immer noch mehr zu tun gibt – ganz gleich, welche Hilfsmittel wir einsetzen.“
Künstliche Intelligenz stellt die Abläufe auf den Kopf – aber ohne, dass die dort Tätigen deshalb ihren Kopf verlieren sollten.
Das Zitat findet sich in einem Beitrag von Robert J. Couture, Senior Research Fellow an der Harvard Law School, dort tätig im Bereich Legal Profession, wo er über die Arbeit von Anwält:innen forscht. Für seinen Leitartikel hat er mit Verantwortlichen aus den 100 größten Kanzleien der USA gesprochen, die jährlich im Index AmLaw100 aufgelistet werden. Die Befragten haben Couture eine Reihe von Insights gegeben, über das, was KI-Systeme in Kanzleien bereits heute leisten, sehr bald leisten werden – sowie darüber, wie sich dadurch die anwaltliche Arbeit wandeln wird. Denn Wandel ist es, was die Künstliche Intelligenz als revolutionäres Tool in der juristischen Welt auslöst: Sie stellt die Abläufe auf den Kopf – aber ohne, dass die dort Tätigen deshalb ihren Kopf verlieren sollten. Denn sie werden auch weiterhin gebraucht. Die Arbeit hört nicht auf. Sie verändert sich. Eine Tatsache, die wiederum nicht dazu führen darf, die Kraft der Legal Tech-Revolution zu unterschätzen. Denn wer den Wandel verschläft oder sich ihr verweigert, der wird den Anschluss verlieren.
Mandanten wollen Tempo, Service und Qualität
Couture hat durch seine Forschung herausgefunden, dass zwei Entwicklungen die Kanzleien aktuell vor besonders große Herausforderungen stellen: Erstens die steigenden Anforderungen ihrer Mandanten, die sich nicht unbedingt auf die Preisgestaltung der Rechtsberatung fokussieren, „sondern vielmehr schnellere Reaktionen und eine höhere Servicequalität“, wie er es formuliert. Zweitens die zunehmende Komplexität der juristischen Arbeit, mit Blick auf immer mehr Regularien sowie der international von vielen Unsicherheiten geprägten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Lage. Sowie nicht zuletzt auch der technischen Entwicklung selbst. Denn natürlich verlangt es von einer Kanzlei hohe Investitionen, um KI-Systeme erfolgreich im beruflichen Alltag zu integrieren.
Wenn es für die Kanzleien die große Herausforderung der Zeit ist, die Komplexität zu bewältigen und die Bedürfnisse der Mandant:innen zufrieden zu stellen, dann kann die Künstliche Intelligenz die Lösung sein.
Gemeint ist hier Geld, schreibt Couture. Aber auch Zeit. Denn das Kanzleiteam muss lernen, diese Systeme zu bedienen. Vor allem dann, wenn sie halten sollen, was sie versprechen. Dieses Versprechen fasst der Harvard-Forscher so zusammen: Wenn es für die Kanzleien die große Heraus forderung der Zeit ist, die Komplexität zu bewältigen und die Bedürfnisse der Mandant:innen zufrieden zu stellen, dann kann „die Künstliche Intelligenz die Lösung sein“, um diese Nachfrage zu bedienen.
Gefragt ist Geschäftssinn
Moment mal, Kundenbedürfnisse, Nachfrage, Innovationen – sind das nicht Begriffe, die eher in der Sprache von Unternehmen zu finden sind, genutzt von Manger:innen? Genau. Couture stellt in seinem Leitartikel fest, dass in erfolgreich arbeitenden Kanzleien auf Wachstumskurs das Company- Denken Einzug gefunden hat. Oder, wie er es im Text formuliert: „Diese Kanzleien haben inzwischen eine Managementreife entwickelt, wie sie in großen Anwaltskanzleien früher sehr oft vorzufinden war.“
Eine häufige Kritik an großen Anwaltskanzleien lautete jahrelang, sie erfüllten ihre Kernaufgaben – juristische Expertise und Dienstleistungen – zwar hervorragend, es mangele ihnen jedoch an dem, was ein Harvard- Forscher „Geschäftssinn“ nennt. Couture habe durch seine Befragungen festgestellt, dass dieser bei vielen der großen US-Kanzleien mittlerweile vorhanden sei. „Pragmatisch, ruhig und besonnen“ gingen diese Sozietäten dabei zu Werke, die neuen Technologien zu integrieren. Und zwar nicht nur auf der Ebene von IT-Fachleuten, sondern auch in der Kanzleileitung. Der Kritikpunkt des fehlenden Geschäftssinns? Sei laut Couture nicht mehr gegeben.
KI speziell für Kanzleien und Rechtsabteilungen
Wie groß der Markt für KI-Lösungen speziell für den Rechtsmarkt ist, zeigt die Menge an Systemen, die speziell für die juristische Arbeit entwickelt wurden. Was sich alle Anbieter auf die Fahne schreiben: absolute Sicherheit, sowohl, was die Daten betrifft, als auch die Ergebnisse der KI-Arbeit. Denn ein System, das nicht akkurat läuft, sorgt im Rechtsbereich für Ärger. Beispiele für den konkreten Einsatz sind die Vertragsmanagement-Software Pacta, die auf KI-Basis Verträge prüft und managt, oder die Plattform Harvey, die mit Hilfe natürlicher Sprachverarbeitung Dokumente aller Art analysieren sowie Texte erstellen und verarbeiten kann. Das System basiert auf der KI von Open AI, 2024 gab die Kanzlei Gleiss Lutz nach einer Pilotphase eine strategische Partnerschaft mit Harvey bekannt. Die Idee: Die Anwält:innen nutzen die KI, geben ihre Erfahrungen an das Entwicklungsteam weiter. Bei Harvey gibt man an, eine Plattform anzubieten, die zwei Expertisen vereine: rechtliches Wissen und KI-Know-how.
Druck auf die zweite Reihe
Der Harvard-Forscher schließt daraus, dass Kanzleien aus der „zweiten Reihe“ vor potenziellen Problemen stehen. Diesen kleineren Häusern fehle im Vergleich zu den Großen der Branche das finanzielle Kapital sowie das Personal, um die Integration neuer KI-Techniken genauso schnell und wirkungsvoll hinzubekommen. Vielleicht dauert es ein wenig länger. Vielleicht geschieht es auch nicht so allumfassend. Das Problem, das sich daraus ergibt: Legal Tech-Methoden könnten dafür sorgen, dass auch die großen Kanzleien ab jetzt auch solche Aufträge übernehmen, bei denen sie bislang gepasst haben. Zum Beispiel, weil sie geringere Margen versprachen. Hier konnten die kleineren Kanzleien punkten, doch Couture hat aus dem Markt Warnsignale empfangen: 50 Prozent der befragten Kanzleien aus dem Ranking der 100 Größten gaben an, „dass sie eine Aufnahme dieser Arbeiten in ihr Portfolio in Betracht ziehen würden, wenn KI-Tools ihnen eine effizientere Ausführung ermöglichen würden“, schreibt Robert J. Couture in seinem Beitrag.
Es ist daher davon auszugehen, dass sich im Zuge von Legal Tech die Geschäftsmodelle neu ordnen. Damit stehen Kanzleien vor der Aufgabe, umzudenken, neu zu denken – oder auch innovativen Projekten, die man auf die lange Bank geschoben hat, endlich mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Couture zitiert in seinem Papier einen der Befragten, der ihm sagte: „KI ist ein Katalysator, um neue Gespräche über unser Geschäftsmodell anzustoßen. Vorher wollte niemand über Veränderungen diskutieren.” Nun ist die Zeit für den Wandel gekommen. Das gilt auch für die Aspekte, mit denen eine Kanzlei für sich wirbt. Und zwar nicht nur bei den Mandant:innen, sondern auch bei der Suche nach juristischen Talenten. Die juristische Expertise und die Gehaltsstruktur – alles schön und gut, aber wer als junge juristische Fachkraft ein digitales Mindset mitbringt, möchte, dass die Kanzlei in dieser Hinsicht Entwicklungsfelder zu bieten hat. „Anwaltskanzleien sollten davon ausgehen, dass Jurastudenten nicht nur diese Art von Arbeitsumgebung erwarten, sondern auch, dass ihre Kanzleien ihnen fortschrittliche Technologien zur Verfügung stellen, die es ihnen ermöglichen, mehr zu denken und weniger zu wiederholen“, schreibt der Harvard-Forscher.
Rechtsabteilungen: Endlich Zeit für Strategie
Von den Kanzleien in die Unternehmen: Auch in den Rechtsabteilungen führen Digitalisierung und KI-Systeme zu einer Neudefinition der juristischen Arbeit. Eine aktuelle Benchmarkstudie der Branchen-Analysten Wolters Kluwer, veröffentlicht im Juni dieses Jahres, kommt zu dem Schluss, dass es in den Unternehmen vor allem um eines geht: Produktivität. „Unternehmensjurist: innen untersuchen zunehmend, wie KI alltägliche Aufgaben unterstützen und neue Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung bieten kann – insbesondere im Vertragsmanagement und Beteiligungsmanagement“, heißt es in der Zusammenfassung der Studie. Dabei habe sich, so die Studienautor:innen, die Rolle der Rechtsabteilungen innerhalb der Unternehmen verändert. Die Zeit, als die Unternehmensjurist:innen vor allem dann gefragt waren, wenn es Feuer zu löschen gab, seien vorbei, wie es in der Studie heißt: „Rechtsabteilungen sind operative Strategen, die ein breites und stetig wachsendes Spektrum an Aufgaben bewältigen. Von Verträgen und Beteiligungen über Compliance und Rechtsstreitigkeiten bis hin zur Entwicklung von Unternehmensrichtlinien – Rechtsabteilungen stehen im Mittelpunkt geschäftskritischer Aktivitäten.“ Genau deshalb sind KI-Systeme in diesem Bereich so willkommen: Indem sie Routineaufgaben sehr viel schneller übernehmen, gewinnen die Jurist:innen in den Unternehmen Zeit, um ihre operativen und strategischen Aufgaben zu übernehmen.
Interessant wird sein, ob diese Veränderungen dafür sorgen, dass sich die geschäftlichen Beziehungen zwischen Rechtsabteilungen und Kanzleien ändern: Noch ist es üblich, dass Unternehmensjurist:innen bestimmte Tätigkeiten auslagern. In der Regel übernehmen dann Kanzleien. Laut Benchmarkreport tun sie das vor allem dann, wenn die Rechtsabteilungen in den Unternehmen keine Zeit für diese Aufgaben haben oder sie über zu wenig inhaltliche Fachkenntnisse verfügen. Was aber, wenn die Digitalisierung der Rechtsabteilungen abgeschlossen ist? Wenn also KI-Systeme die Arbeit dort so effizient gestalten, dass der Zeitmangel als Argument fürs Outsourcing ausgedient hat? „Eine Zukunft, in der Rechtsabteilungen ihre Aufgaben strategisch, effizient und souverän intern abwickeln können, ist vielleicht gar nicht mehr so fern“, lautet das Fazit der Benchmarkstudie von Wolters Kluwer. Eines ist sicher: Auch, wenn in Rechtsabteilungen im KI-Zeitalter effizienter gearbeitet wird – zu tun geben wird’s auch dort immer etwas. Und zwar im besten Fall keine öden Routineaufgaben mehr, sondern strategisches Nachdenken auf Basis rechtlicher Expertise. Was Unternehmen dann anbieten können: Juristische Jobs auf dem nächsten Level.
AllBright-Studie: Frauen in Top-Kanzleien benachteiligt
Wenn Legal Tech die Art, wie in Kanzleien gearbeitet wird, auf den Kopf stellt – gilt das auch für die Besetzung der Spitzenpositionen? In den Top-Kanzleien mit Blick auf Geschlechtergerechtigkeit nicht. Die AllBright Stiftung veröffentlichte im Juni eine Studie, die aufzeigt, dass der Frauenanteil in den Partnerschaften der Großkanzleien bei 16 Prozent liegt. Zum Vergleich: In den DAX-Vorständen liegt der Frauenanteil bei 26 Prozent. Normal ist das nicht, denn laut Studie beenden seit 2007 mehr Frauen als Männer das Jurastudium. Woran es liegt?
Die Studie nennt Indizien. So sei der Weg zur Partnerschaft lang, intensiv, umkämpft – und für Frauen geprägt von gläsernen Decken. Die Arbeitskultur ist auf Leistung getrimmt. Die Partnerschaften werden von anderen Partner:innen ausgewählt, Kontrollgremien wie den Aufsichtsrat im Unternehmen gibt es nicht. Die Studie stellt fest, dass sich viele Top-Juristinnen in diesem Umfeld einen alternativen Karriereweg schaffen, indem sie „in die Selbständigkeit, in kleinere Kanzleien, in die Justiz, den öffentlichen Dienst oder in Unternehmen wechseln“.
Im Albright-Bericht zu Wort kommt Dr. Stephanie Pautke, bis 2000 in einer Großkanzlei, jetzt Partnerin bei Commeo, wo neun Anwältinnen und drei Anwälte tätig sind. „Unsere Mandanten stellen uns dieselben Aufgaben und haben dieselben Ansprüche wie zu den Zeiten, als wir aus einer Großkanzlei für sie tätig waren“, wird sie zitiert. „Allerdings können wir dies nun aus einer Umgebung erfüllen, in der es wirklich nur um die bestmögliche Arbeit für die Mandanten geht. Hier muss niemand bis in die Nacht am Schreibtisch sitzen, um exzellente Rechtskenntnisse und Arbeitseinsatz zu demonstrieren.“