„Kreativiert euch!“: ein Plädoyer für mehr Schöpfungskraft

Bernd Heusinger, Foto: Hirschen Group
Bernd Heusinger, Foto: Hirschen Group

Als Co-Gründer der hochdekorierten Werbeagentur Zum goldenen Hirschen zählt Bernd Heusinger (54) zu den kreativen Köpfen des Landes. Sein Buch „Kreativiert euch!“ ist ein Plädoyer für mehr Schöpfungskraft in vielen Bereichen. Der Ansatz: Kreativität bringt Deutschland nach vorne. Im Interview erzählt Bernd Heusinger, warum Kreativität auch in der Wirtschaftsprüfung oder Steuerberatung nicht nur möglich, sondern in Zukunft sogar essentiell ist. Das Interview führte André Boße.

Zur Person

Bernd Heusinger wurde 1964 in Fürth geboren und studierte Publizistik, Theaterwissenschaften und Germanistik in Berlin. Zunächst arbeitete er als Journalist und Konzeptionist unter anderem für den Bayerischen Rundfunk, das Lifestyle- Magazin Tempo, SAT.1 und RTL. Anfang der 1990er Jahre begann er als Werbetexter bei der Agentur Springer & Jacoby, wo er Marken wie Mercedes- Benz betreute. 1995 gründete er gemeinsam mit Marcel Loko die Werbeund Ideenagentur „Zum goldenen Hirschen“, aus der 2005 die Hirschen Group GmbH hervorging. Diese besteht mittlerweile aus den Agenturen Zum goldenen Hirschen, Ressourcenmangel und Freunde des Hauses sowie aus den Consulting-Firmen 365 Sherpas (Public Affairs & Policy Advice), VORN Strategy Consulting (Marken- und Digitalisierungs-Beratung) und Health Angels (Healthcare Consulting). Bernd Heusinger führt die 700-köpfige Agenturgruppe als Co-CEO.

www.hirschen.de

Herr Heusinger, viele betrachten den digitalen Wandel der Arbeitswelt weiterhin skeptisch. Zurecht?
Bei der Digitalisierung geht es mehr und mehr um Techniken wie Automatisierung und Roboterisierung, einhergehend mit dem Siegeszug der Künstlichen Intelligenz. Das heißt konkret: Viele menschliche Tätigkeiten, die keinerlei Kreativität voraussetzen, werden in den nächsten Jahren von Maschinen übernommen. Klar, das erscheint zunächst einmal eine negative Folge des Wandels zu sein, denn diese Jobs werden früher oder später verschwinden. Was aber nicht heißt, dass der Mensch nicht mehr gebraucht wird. Im Gegenteil, seine Kreativität wird mehr gefragt sein denn je.

Ist dieser kreative Blick auf die Arbeit für Deutschland ungewohnt?
Nein, überhaupt nicht, er hat eine lange Tradition. Mit Kreativität meine ich dabei nicht etwa die Kreativität der Werbebranche, also bunte Bilder zu entwerfen oder gute Sprüche zu texten. Ich meine die Kreativität des schwäbischen Erfinders, der eine neue Maschine entwickelt. Ich meine aber auch die Kreativität eines Softwareentwicklers, der eine App erfindet, die eine Tätigkeit übernimmt, die vorher große Mühe gemacht hat. Oder die Kreativität eines Uni-Dozenten, der sich Gedanken dazu macht, wie er seine Seminare so gestaltet, dass die Studenten auch wirklich proaktiv mitdenken. Kreativität ist für die Entwicklung der deutschen Schaffenskraft und der Wirtschaft schon immer wichtig gewesen. In den kommenden Jahren wird sie noch mehr Bedeutung gewinnen, und dazu werden erfolgreiche Unternehmen mehr denn je in die „Kreativierung“ ihrer Mitarbeiter investieren.

Welche Strukturen sind in dieser neuen kreativen Arbeitswelt wichtig?
Erstens muss das Unternehmen kreative Freiräume schaffen, also Strukturen bieten und Arbeitsweisen etablieren, die sich von den hierarchischen und schematischen Strukturen unterscheiden, die in den 1960er-Jahren eingeführt worden sind.

Es muss eine Freude an neuem Denken spürbar sein, Sprüche wie: „Das haben wir doch schon immer so gemacht“, die darf es nicht mehr geben.

Heißt konkret?
Es muss eine Freude an neuem Denken spürbar sein, Sprüche wie: „Das haben wir doch schon immer so gemacht“, die darf es nicht mehr geben. Tatsächlich sind auch freie Räume bedeutsam. Man schmunzelt vielleicht mittlerweile über gemeinsame Räume zum Kickern oder Tischtennisspielen, wie man sie im Silicon Valley findet, aber da ist schon was dran: Räume zu bieten, in denen eben nicht die klassische Arbeitsroutine im Vordergrund steht, sondern in denen man sich in einem anderen Kontext begegnet. Ob man da jetzt Tischtennis spielt, sich gemeinsam einen Kaffee zieht oder was anderes macht, spielt keine Rolle. Hauptsache es gibt einen Ort, an dem sich kreative Köpfe tatsächlich frei austauschen können.

Und welche Kompetenzen muss der kreative Kopf mitbringen?
Ich glaube, dass Empathie eine sehr wichtige Qualifikation ist. Stellen Sie sich ein Hotel vor, in dem ein neues Buchungs- und Check-in-System eingeführt wird, das geht jetzt alles automatisch. Was macht also der Hotelangestellte? Im besten Fall fühlt er sich wegen des neuen Systems nicht überflüssig, sondern versucht Ideen zu entwickeln, die das positive Erlebnis der Gäste noch steigern können. Dafür muss man sich in die Gäste hineindenken können, man braucht auch eine kreative Problemlösungskompetenz, die über die Fähigkeit eines Computers hinausgeht – weil dieser eben nicht mit einem Blick erkennt, dass sich der eine Gast über eine kostenlose Zeitung freut und der andere über Tipps, wo er am Abend eine gute Pizza bekommt. Auf andere Unternehmen übertragen: Es wird immens wichtig werden, die Bedürfnisse der Kunden und Mitarbeiter erstens zu erkennen und zweitens Lösungen zu entwickeln, diese zufriedenzustellen. Dafür benötigt man Empathie und Kreativität. Und daher sind diese beiden Faktoren entscheidend, um in den kommenden Jahren eine gute Karriere zu machen.

Gilt das auch für Jobs in Wirtschaftsprüfungs- oder Steuerberatungsgesellschaften? Oder fürs Controlling?
Ja, klar. Auch hier erhält die Arbeit eine zusätzliche kreative Dimension, wenn der Mitarbeiter die Zahlen nicht nur einlesen und auswerten lässt und dann an den Kunden oder den Kollegen weitergibt. Interessant wird es doch in dem Moment, wenn ich die Big Data-Kompetenzen des Systems nutze und spielerisch sowie kreativ nach Möglichkeiten suche, wie sich zum Beispiel ein Problem mit der Liquidität anders lösen lässt, als es bislang üblich war. Zum Beispiel eine Alternative zur Aufnahme eines Kredits entwickeln, vielleicht eine Ausgründung andenken oder eine Beteiligung der Mitarbeiter am Unternehmen. Um es kurz zu sagen: Die Daten sind die Grundlage, die Lösung ist kreativ. Und weil es schon bald so sein wird, dass alle Unternehmen nahezu über die gleiche Datengrundlage verfügen, wird das, was ich kreativ daraus mache, zum Erfolgsfaktor. Was auch dazu führt, dass Kreativität nicht mehr so sehr von Hierarchien abhängt: Jeder soll und kann Ideen einbringen.

Empathie und Kreativität sind die beiden entscheidenden Faktoren, um in den kommenden Jahren eine gute Karriere zu machen.

Schließen sich Hierarchie und Kreativität aus?
Nicht unbedingt, denn wenn eine Idee im Raum ist, also Kreativität stattgefunden hat, dann braucht es einen Weg, um die besten Ideen herauszufiltern und diese anschließend nutzbar zu machen. Um es konkret zu machen: Angenommen, wir arbeiten an einer Strategie für einen großen Autohersteller, für die vier Teams parallel Ideen entwickeln. Da liegen dann 20 Entwürfe auf dem Tisch, und nun benötigen wir schon eine hierarchische Ebene, die entscheidet, welche fünf weiterverfolgt werden und welche eine Idee dann dem Kunden vorgeschlagen wird. Gut, man kann darüber auch abstimmen, aber auch ein kluger Chef, der die Entscheidung trifft, macht damit nicht die Kreativität zunichte. Der Filmregisseur Rainer Werner Fassbinder hat am Ende auch alle künstlerischen Entscheidungen gefällt – und das Ergebnis war dennoch durchaus kreativ. (lacht)

Wobei Unternehmen schon anders funktionieren sollten als Filmsets in den 1970er-Jahren.
Auf jeden Fall. Entscheidend ist, dass jeder für sich erkennt, dass seine Kreativität gefragt ist. Und dass man diesen Freiraum nutzt. Ein Beispiel, vor vielen Jahren ist ein kreativer Mensch in einem Bahnhof unterwegs gewesen und hat gesehen, wie sich die Reisenden an ihren Koffern abgeschleppt haben. Beim fünften schwitzenden Mann, der ihm entgegenkam, dachte er sich vielleicht: Muss das wirklich sein, dass alle diese schweren Koffer tragen? Kurz danach erfand er den Trolley, also einen Koffer mit Rollen, den man ziehen kann und nicht mehr schleppen muss. Was ich damit sagen will: Jeder, der etwas sieht, das nach Änderung schreit, kann diese anstoßen.

Wie können Unternehmen Ihre Mitarbeiter dazu bringen?
Es muss eine Kultur der Ermunterung geben. In unserer Agenturgruppe sagen wir ganz klar, dass die Ideen nicht nur von den Kreativdirektoren kommen sollen und dass es keinen Bereich gibt, in dem man nicht auch kreativ arbeiten kann, sei es im Office-Management, in der Markenerlebnis- Agentur, bei den Healthcare- Spezialisten oder eben auch in der Finanz-Abteilung. Wichtig ist dabei, dass Ideen auch dann in den Raum geworfen werden, wenn sie noch nicht von allen Ecken beleuchtet worden sind. Oft zeigt das direkte Feedback den Wert einer Idee, deshalb sollte man sich nicht scheuen, sie zu teilen. Oft entsteht dann eine Art Pingpong- Spiel: Jemand wirft die Idee rein, jemand anders reagiert darauf und sagt, prinzipiell super – aber nicht so. Dann geht es hin und her, man spinnt weiter herum, prüft, rechnet durch, stachelt sich gegenseitig an – und bringt die Lösung am Ende auf ein ganz neues Level – genau das ist Kreativität, die am Ende wirtschaftliche Erfolge bringt!

Cover Kreativiert Euch„Kreativiert euch! Damit Deutschland wieder genial wird“

Zusammen mit seinen Hirschen- Kompagnons Marcel Loko und Martin Blach fordert Bernd Heusinger in dem Buch „Kreativiert euch!“ eine Kreativitätswende für die gesamte Gesellschaft. Die Autoren zeigen auf, dass Kreativität die beste Antwort auf den Siegeszug der Künstlichen Intelligenz ist. Eine der Kernforderungen des Buches: die Einführung von Kreativitätsunterricht an den Schulen und eines Kreativministeriums in der Regierung.

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