Die seit Jahrzehnten kaum veränderte juristische Kernausbildung bereitet wenig auf die Berufsrealität vor. Studierende profitieren davon, sich eigeninitiativ weiterzubilden: Wer universitäre Zusatzangebote nutzt und über den juristischen Tellerrand hinausschaut, dem steht eine Auswahl an neuen technologieaffinen Berufsfeldern zur Verfügung. Dr. Nadine Lilienthal gibt einen Über- und Einblick in Berufe der Zukunft.
Zur Person
Dr. Nadine Lilienthal ist Vordenkerin für einen zukunftsfähigen Rechtsmarkt. Sie ist Rechtsanwältin und Mitgründerin von Legaleap. Im „Zukunft Rechtsmarkt“ Podcast interviewt sie Persönlichkeiten der Rechtsbranche. Außerdem ist sie Mitgründerin des New Legal Network – dem Netzwerk für ganzheitliche Rechtsberater:innen. „Zukunft Rechtsmarkt“.
Nie gab es mehr Möglichkeiten, als Jurist*in das eigene Tätigkeitsfeld zu gestalten. Das Innovationstempo im Rechtsmarkt hat sich durch den Launch von ChatGPT und weiteren KI-Chatbots 2023 spürbar erhöht.
Erste Großkanzleien wie Allen & Overy nutzen bereits die KI-basierte Plattform Harvey, die auf Funktionen von GPT-4 beruht. Große Wirtschaftprüfungsgesellschaften wie KPMG und Deloitte kündigten Milliardeninvestitionen in KI an. Eine wachsende Anzahl an Legal Tech Tools hat den Chatbot ChatGPT in ihr Angebot integriert.
Revolutionieren solche KI-Tools schon jetzt den Rechtsmarkt? Stand heute gibt es nur eine kleine Anzahl an Kanzleien, die KI in ihrer täglichen juristischen Arbeit nutzen. Dass KI kommt, sollte aber nur eine Frage der Zeit sein – bereits zum Zeitpunkt eines späteren Lesens des Artikels kann die Situation anders sein. Momentan ist die Beratungsqualität durch KI-Tools noch fehleranfällig.
Zugleich ist klar: Der Druck zur Nutzung von Technologien auf Jurist*innen erhöht sich stark. Diesen Veränderungsdruck zeigt die Studie „Generative AI and the future of the legal profession“ von LexisNexis, bei der über 1000 Jurist*innen im Mai und Juni 2023 zu den Auswirkungen von KI auf den Rechtsberuf befragt wurden. Während 70 % der Inhouse-Jurist*innen erwarten, dass ihre Kanzleien KI nutzen, glauben nur 55 % der Kanzleien, dass ihre Mandantschaft das von ihnen erwartet. Eine Diskrepanz, die zeigt, wie nötig das Engagement von Kanzleien bei KI ist. In einem Rechtsmarkt, in dem so viel in Bewegung ist, hilft es, Trends zu erkennen. Wer hierfür offen ist und sich schon neben dem juristischen Studium oder später on the Job relevante Skills aneignet, dem steht eine Vielzahl an neuen Berufsfeldern offen.
Wachsende Anzahl von Stellenprofilen im Rechtsmarkt an Schnittstellen zur Technologie:
Legal Engineer, der Klassiker unter den neuen Berufen
Legal Engineers sind an der Schnittstelle zwischen Recht und Informatik tätig. In der Praxis trifft man häufiger auf Jurist*innen mit einem ersten Staatsexamen, die sich im Bereich Coding weitergebildet oder Zusatzqualifikationen erworben haben; seltener sieht man Volljurist*innen mit Informatikstudium. Legal Engineers befassen sich überwiegend mit der Übertragung von rechtlichem Wissen in automatisierte Prozesse. Sie arbeiten üblicherweise mit der Erstellung von Entscheidungsbäumen, die auf Wenndann- Logiken beruhen. Hierbei können sie mit Hilfe ihres Wissens im rechtlichen Bereich Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten für bestimmte juristische Sachverhalte abbilden. Ihr Einsatzgebiet kann etwa in einem Start-up das Bauen von Legal Tech-Tools zur Erstellung eines bestimmten Vertragstyps umfassen oder in einer Kanzlei die Automatisierung des Fristenmanagements, inklusive Erinnerungen via E-Mail, sein.
Legal Prompt Engineer, the new kid on the block
Das Berufsbild des Legal Prompt Engineer ist noch relativ neu. In den USA und in Großbritannien sieht man seit einigen Monaten Stellenanzeigen von großen Kanzleien für diesen Bereich. In Deutschland scheint die Tätigkeit derzeit noch eine eher theoretische Rolle zu spielen, das könnte sich aber ändern. Beim Legal Prompt Engineering geht es darum, KIs zu trainieren, sodass sie die gewünschten juristischen Ergebnisse liefern. Das beginnt mit der Formulierung des Nutzungsbefehls (Prompt) im Suchfeld eines KI-Chatbots wie ChatGPT, Claude, Bard usw. Es geht darüber hinaus auch um das Anlernen einer KI mit relevanten Daten, sodass sie in der Lage ist, Ergebnisse in juristisch relevanter Qualität zu liefern. Für den Moment ist dies eher ein Berufsbild, das man bei Interesse im Blick behalten kann – wie schnell sich Chancen entwickeln, bleibt abzuwarten.
Legal Designer, für viele ein Skill, selten auch ein Vollzeitjob
Legal Design hat sich in den letzten Jahren im Markt etabliert. Es gibt bislang schon ein paar Anbieter im Rechtsmarkt, bei denen dieser Beruf ausgeübt werden kann. Darüber hinaus gewinnt Legal Design als Skill für Jurist*innen mit der steigenden Digitalisierung der Rechtsbranche an Bedeutung. Elemente von Legal Design können nämlich in viele juristische Tätigkeiten einfließen. Beim Legal Design geht es im Kern darum, eine Rechtsdienstleistung oder ein Legal Tech-Tool nutzerzentriert zu denken. Eine kollaborative Zusammenarbeit mit den relevanten Stakeholdern, meistens in interdisziplinären Teams, unter Berücksichtigung des gesamten Systems (Unternehmen, Gesellschaft, Ökologie) spielt beim Legal Design eine Rolle. Die Ergebnisse reichen von nutzerfreundlich gestalteten AGBs über Guidelines, die für Mitarbeiter*innen leichter verständlich sind, bis zur Gestaltung von Legal Tech-Tools, die ein genau identifiziertes Kundenproblem adressieren.
Ferner können an der Schnittstelle zu neuen Technologien die Tätigkeitsbereiche von Legal Operations und Legal Project Management genannt werden. Beide Bereiche sind schon seit Längerem im Rechtsmarkt etabliert und bieten ebenfalls eine stetig wachsende Anzahl von Einstiegsmöglichkeiten für Absolvent* innen.
Weiterbildung – viele Wege führen zum Ziel.
Die beschriebenen Berufsbilder erfordern neben juristischen Qualifikationen besondere Skills, die durch Weiterbildung erworben werden können. Auf die zahlreichen Weiterbildungsmöglichkeiten für Jurist*innen einzugehen, würde den Rahmen des Artikels sprengen. Aber ich möchte unbedingt einige Möglichkeiten nennen, um Inspiration zu bieten den eigenen Weg zu gehen.
Neben einem klassischen Zweitstudium sind Zusatzqualifikationen im Bereich Coding, Legal Prompting oder Design Thinking denkbar. An vielen Universitäten können Studierende Kurse zu Legal Tech absolvieren, eine gute Möglichkeit für erste Kontakte mit der Materie. Die Universität Bayreuth bietet ein Zusatzstudium Informatik und Digitalisierung. Weiterhin kann es den Horizont erweitern, sich einer der vielen engagierten Studierenden-Initiativen im Bereich Legal Tech anzuschließen. Stellvertretend seien hier genannt eLegal, die zum Beispiel regelmäßig den Legal Hackathon veranstaltet, recode.law und fruit- Freiburg Recht und IT sowie das Legal Tech Lab Cologne. Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit, sich mit Praktiker*innen auszutauschen, etwa bei den Events des Legal Tech Stammtischs von Dr. Gernot Halbleib in Berlin, den Munich Legal Hackers oder im Rahmen von zahlreichen Events, die von Kanzleien oder Legal Tech-Anbietern veranstaltet werden und wo es für Interessierte auf Nachfrage fast immer möglich ist, einen Einblick zu bekommen.
Den Studierenden, die einen juristischen Beruf an der Schnittstelle zu Tech ergreifen möchten, stehen viele Türen offen – sei es in Legal Tech Start-ups, Kanzleien oder Unternehmen, aber auch in der Justiz. Neben den in diesem Bereich sichtbar engagierten Bundesländern wie etwa NRW oder Bayern hat kürzlich das Bundesministerium für Justiz ein Innovation Hub mit Fokus auf KI gegründet. Interessierten ist zu empfehlen, in KI und Legal Tech bereits zu Zeiten der universitären Ausbildung einzutauchen. Wer die Möglichkeiten nutzt, kann so mit einem vorhandenen Netzwerk und einer Vorstellung von der individuell passenden Position ins Berufsleben starten. Das sind Voraussetzungen dafür, dass du genau den juristischen Job an der Schnittstelle zu Tech findest, der zu dir passt!
Podcast von Dr. Nadine Lilienthal
In ihrem Podcast spricht Dr. Nadine Lilienthal mit Persönlichkeiten aus der Rechtsbranche und aus anderen Bereichen. Dabei zeigt sie, wie Jurist*innen mit Blick auf Natur, Fortschritt und Gesellschaft einen Beitrag zu einer lebenswerten Welt leisten.
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