Jura 4.0 – Juristen an der Schnittstelle

Foto: Fotolia/Roman Motizov/Olaf-Meyer
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Der automatische Anwalt? Soweit wird es nicht kommen. Dennoch: Die Digitalisierung erobert die Kanzleien und den Rechtsmarkt. Software übernimmt Standardaufgaben. So entstehen neue Geschäftsmodelle und die Effizienz wird erhöht. Junge Juristen kennen die Vorteile der Digitalisierung. Sie sind nun gefragt, das Update der Arbeitskultur in den Kanzleien mitzugestalten.Von André Boße

London, Flughafen in Stansted, kurz nach 22 Uhr. Gerade kommt die Durchsage, dass der letzte Abendflug nach Düsseldorf gestrichen wird. Über den Tag haben sich so viele Verspätungen angehäuft, dass der Jet den Flug nicht mehr antreten kann, ohne das Nachtflugverbot zu verletzen. Für die rund 150 Passagiere bedeutet das: Keine späte Ankunft in Deutschland, sondern eine Nacht in einer Absteige am Flughafen. Klar, das Hotel zahlt die Airline. Aber mehr auch nicht. Es sei denn, man fordert seine Rechte als Fluggast ein. Hier gibt es ein klares EU-Gesetz, das genau regelt, welche Summen die Fluggesellschaft bei selbstverschuldeten Ausfällen auszahlen muss. Nur tut sie das nicht freiwillig, sondern erst dann, wenn man als Passagier sein Recht einklagt. Das wiederum haben früher nur die wenigsten gemacht. Weil man es dann doch vergessen hat – oder zu viel Respekt davor hatte, einen Anwalt einzuschalten.

So war das früher. Heute gibt es eine Reihe von Online-Portalen, die den Fluggästen einen angenehmen Service bieten. Die Geschäftsidee: Der Dienstleister prüft den Fall anhand der zugänglichen Flugdaten. Wenn gute Aussichten auf eine Entschädigung bestehen, startet das Portal den Entschädigungsprozess. Der Kunde zahlt eine Gebühr – aber nur dann, wenn auch die Airline zahlt. Es gibt für ihn also kein Risiko. Natürlich sitzen in den Büros der Dienstleister wie Flightright, EUclaim oder Fairplane keine Dutzenden Anwälte, die sich mit jedem einzelnen Fall beschäftigen. Der Service funktioniert nur, weil er von Anfang bis Ende durchdigitalisiert ist, von der Antwort auf die erste Anfrage des potenziellen Mandanten bis zur Erfolgsmeldung am Ende.

Jura und IT: Studiengänge nähern sich an

Die deutschen Hochschulen erkennen zunehmend den Bedarf an Kenntnissen in Jura und IT und bieten dementsprechende Studiengänge an, wie Rechtsanwalt Stefan Rau von Warth & Klein Grant Thornton feststellt. So gibt es Studiengänge im IT-Recht, die mit einem Diplom abgeschlossen werden können sowie Fachanwaltslehrgänge Informationstechnologie. Zudem ist zu erkennen, dass sich das Informatikstudium verstärkt um rechtliche Aspekte kümmert, insbesondere ums Datenschutzrecht.

„Mandatsanbahnung und Mandatsabwicklung laufen komplett online ab und sind daher ein gutes Beispiel für digital standardisierte Prozessabläufe“, sagt Peter Huppertz, Partner in der Düsseldorfer Kanzlei Hoffmann Liebs Fritsch & Partner. Für ihn sind die Services für Fluggäste nur der Anfang einer Entwicklung, die den Rechtsmarkt in naher Zukunft stark verändern wird. „Jede juristische Sachbearbeitung, die sich standardisieren lässt, wird zukünftig durch die Möglichkeiten der Digitalisierung zu einem digitalen Beratungsprodukt werden.“ Der Fachanwalt für IT-Recht spricht in diesem Sinne von einer „Commodity“ – sprich: Ware.

„Dies wird zwangsläufig auch zu einer Änderung der Vergütungsparameter führen, das heißt: weniger Vergütung nach Aufwand und häufiger Festpreise für bestimmte juristische Produkte.“

Automatische Prozesse

Die Automatisierung von bestimmten standardisierbaren Abläufen ist ein Beispiel für den großen Einfluss der IT auf den Arbeitsmarkt der Juristen. „Auch im Anwaltsmarkt ist die Digitalisierung angekommen“, sagt Martin Schweinoch, Partner der Kanzlei SKW Schwarz in München. „Von der Recherche in Datenbanken bis zur digitalen Akte ist vieles heute online verfügbar. Dieser Trend wird weiter zunehmen, etwa mit elektronischen Gerichts- und Behördenakten.“

Student gründet Start-Up für Fluggastrechte

Fluglinien drücken sich gerne um Entschädigungen ihrer Kunden bei Flugverspätungen, Flugannullierungen oder Nichtbeförderungen. Und Kunden scheuen meist den aufwendigen Weg, sie einzufordern. Diesen Umstand machte sich Bernhard Schulz, Jurastudent an der Bucerius Law School, zunutze. Bis zu 400 Euro bietet er für die Übernahme von Ansprüchen – nach deren Prüfung. Doch die erfolgt schnell und ist unverbindlich. Kunden können schließlich wählen, ob sie die angebotene Entschädigung annehmen oder nicht. Machen sie es, wird die Entschädigungszahlung nach der Erledigung einiger Formalien innerhalb eines Werktags angewiesen. Weitere Infos unter www.compensation2go.com.

Dass die Digitalisierung den Job eines Anwalts längst prägt, davon ist auch Dr. Eren Basar, Partner der auf Wirtschafts- und Steuerstrafrecht spezialisierten Kanzlei Wessing & Partner, überzeugt. „Die Digitalisierung des Alltags hat dazu geführt, dass die Beweisführung in formellen Verfahren und in internen Ermittlungen ohne den Einsatz moderner Technik heutzutage kaum mehr geführt werden kann.“ Wer digital unterwegs ist, hinterlässt Datenspuren – ob mit seinem Smartphone oder Tablet, in der Cloud oder in den Sozialen Netzwerken.

„Ohne die Nutzung spezieller Software tappt der Jurist hier schnell im Dunkeln“, erläutert Basar, Experte für IT-gestützte Ermittlungsmethoden. „Durch den Einsatz der Technik können wir heute gelöschte Daten wiederherstellen. Wir können nach speziellen Datentypen suchen oder die Auswertung auf Dateien bestimmter Größen, nach dem Datum der Erzeugung und dem Datum des letzten Zugriffs sowie nach Datenstrukturen suchen. Das wäre früher nicht oder zumindest nicht so einfach möglich gewesen“, erklärt der Partner die Möglichkeiten der digitalen juristischen Arbeit.

Von der Digitalisierung betroffen ist auch der interne Büroalltag in den Kanzleien. „Es gibt kaum einen Arbeitsprozess, für den heute noch keine softwarebasierten Lösungen angeboten werden“, sagt Eren Basar. Viele dieser Tools eröffnen neue Möglichkeiten – vor allem, in dem sie Arbeitsprozesse verschlanken. Doch natürlich hat IT im Recht ihre Grenzen. „Die zunehmende Digitalisierung wird zumindest im Strafrecht nicht dazu führen, dass man nur auf einen Knopf drücken muss und der Autopilot die Arbeit des Anwalts übernimmt. Diese ist immer noch davon gekennzeichnet,Überzeugungsarbeit gegenüber Mandanten und Behörden zu leisten, sodass die Persönlichkeit des Anwalts immense Bedeutung hat.“

Hohes Tempo – trotzdem vertraulich

Die Digitalisierung der Businesswelt führt dazu, dass die Mandanten heute ihren Anwalt mit ganz anderen Anforderungen konfrontieren. Für Juristen ergeben sich dadurch neue Herausforderungen, wie Birgit Maneth sagt, Partnerin in der Kanzlei Lutz Abel. „Mandanten erwarten von ihren Anwälten ein hohes Maß an zeitlicher und örtlicher Flexibilität sowie zeitnahe und effektive Lösungen. Gleichzeitig müssen Vertraulichkeit, IT-Sicherheit und Datenschutz gewährleistet bleiben.“

Pokémon Go: Recht hinkt hinterher

IT und Recht ist ein etwas ungleiches Duell. Das Recht kann mit dem technischen Fortschritt bei vielen aktuellen Entwicklungen nicht mithalten, da der Gesetzgeber aufgrund der Innovationsgeschwindigkeit in den meisten Fällen nur reagieren, nicht aber proaktiv agieren kann. Gutes Beispiel hierfür ist die Hit-App „Pokémon Go“, sagt Peter Huppertz von der Kanzlei Hoffmann Liebs Fritsch & Partner:“Allein die Nutzung dieser App wirft eine ganze Reihe von datenschutzrechtlichen, zivilrechtlichen, straßenverkehrsrechtlichen und telekommunikationsrechtlichen Fragen auf, dies sich mit den bestehenden Gesetzen nur schwer lösen lassen.“

Für Juristen komme es daher darauf an, mithilfe organisatorischer und technischer Maßnahmen in diesem Spannungsfeld zu bestehen. Die neuen technologischen Trends können dabei helfen – wenn man sie denn als Chance erkennt und die Möglichkeiten nutzt. „Dies“, so Birgit Maneth, „ist in dem konservativen Umfeld eines traditionell denkenden Anwalts nicht immer leicht.“ Einige Traditionalisten sähen in einer Software zur automatischen Vertragsprüfung eine Art Vorläufer der Apokalypse für das Anwaltsleben. „Ich sehe darin aber die Chance, den Mandanten noch bessere Leistungen in kürzerer Zeit anzubieten und damit ein für alle Seiten produktiveres und profitableres Ergebnis zu erzielen“, sagt die Fachanwältin für IT-Recht und Gewerblichen Rechtsschutz.

Digitalisierung steigert Produktivität

Abseits der Arbeitsabläufe in den Kanzleien bestimmen IT-Themen die Tätigkeiten in den Kanzleien und anderen Arbeitsbereichen für Juristen natürlich auch inhaltlich. Das gilt insbesondere für Fachanwälte im IT-Recht wie Birgit Maneth. „Ich berate und begleite Start-ups aus der IT-Branche bei der Gestaltung ihres Lizenz-und Vermarktungskonzepts sowie mittelständische Unternehmen bei der Verhandlung und Gestaltung von IT-Projekten aller Art – sei es bei der Einführung einer neuen Software, eines IT-Systems oder bei einem Outsourcing-Projekt.“

Daneben spielt aber auch das klassische Internetrecht eine Rolle – „also alle Rechtsfragen rund um Gestaltung und Inhalte einer Website“. Aus Mandantensicht hätten in den vergangenen Jahren vor allem die Themen Datenschutz und IT-Security – zum Beispiel im Zusammenhang mit Verschlüsselungssystemen – erheblich an Bedeutung gewonnen, sagt Birgit Maneth.

Einen großen Bedarf an Juristen haben die Wirtschaftsprüfungsgesellschaften; dort ist die Digitalisierung der Themen und Arbeitsschritte mittlerweile zentral. Juristen sind dort nicht nur in der Rechtsanwaltsgesellschaft tätig, so nennt man insbesondere bei den großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften die Teile des Unternehmens, die sich im Rahmen der Prüfungsverfahren hauptsächlich um die juristische Beratung kümmern. „Rechtsanwälte können die Gesellschaften auch in der Steuerberatung, der Wirtschaftsprüfung, bei der Unternehmensfinanzierung oder im Private Finance-Bereich beraten und unterstützen“, sagt Stefan Rau, Rechtsanwalt und Partner der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Warth & Klein GrantThornton, wo er die Geschäfte der Rechtsanwaltsgesellschaft führt.

Legal Tech: In den USA ist man weiter

Legal Technology ist das Arbeitsfeld, in dem sich IT und Recht überschneiden. Es geht hier sowohl um die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle mithilfe automatisierter Online-Verfahren als auch um die Standardisierung bestimmter Prozesse in den Kanzleien, um dort die Effizienz zu erhöhen. In einigen US-Universitäten hat das Thema Legal Tech bereits Einzug in das Ausbildungscurriculum gefunden. In Deutschland wird man nun ebenfalls langsam darauf aufmerksam. So bietet die Bucerius Law School seit Anfang 2016 erstmals eine „Legal Technology Lecture Series“ an. Mehr dazu im Blog: www.legal-tech-blog.de

Lesetipp: BCG-Studie

Legal Technology-Studie von der Boston Consulting Group: www.bcg.de/documents/file204646.pdf

In all diesen Bereichen, in denen Juristen tätig sind, spiele der Einsatz neuer Technologien eine wichtige Rolle. “Unsere Mandanten, aber auch die Geschäftsbereiche unserer Gesellschaften, setzen diese Technologien ganz selbstverständlich ein“, sagt Rau. “Als Juristen sind wir daher gefordert, diese Technologien und ihren Einsatz zu verstehen.“ Im Rahmen einer Due Diligence-Prüfung, also einer sorgfältigen Risikoabwägung vor der Unternehmenstransaktion, sei es heute Standard, auch die bestehenden IT-Verträge zu bewerten.

„Auch in das Arbeitsrecht strahlt das IT-Recht aus“, sagt Stefan Rau. “Hier geht es um den Datenschutz für Mitarbeiter und Bewerber, aber auch um Richtlinien für Mitarbeiter, etwa im Zusammenhang mit der privaten Internetnutzung am Arbeitsplatz.“ Der Jurist und Partner in einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft rät jungen Juristen, den digitalen Wandel positiv zu betrachten: “Der Arbeitsalltag beschleunigt sich stetig. Die Digitalisierung sorgt für neue Aufgaben, und sie macht uns Juristen aber auch produktiver.“

Legal Tech? Meinungen gehen auseinander

Mit Blick auf die digitale Transformation in den Kanzleien: Wäre es nicht sinnvoll, ein neues Job-Profil zu fördern? Gibt es Bedarf für Experten als Bindeglied zwischen juristischer und IT-Welt? Einen Namen für diese Tätigkeit gibt es bereits: Legal Tech-Engineer. Ob man ihn in den Kanzleien benötigt, da gehen die Meinungen der Experten auseinander. “Ich denke nicht, dass dies in naher Zukunft notwendig sein wird“, sagt Stefan Rau. „Dennoch bin ich davon überzeugt, dass sich die Studiengänge – ob nun die technischen oder die juristischen – darauf immer stärker einlassen und einstellen werden.“

Eren Basar von Wessing & Partner ist zwar der Ansicht, dass IT und Jura in Zukunft noch enger zusammenwachsen. Dass sich aber Legal Tech-Engineers als Bindeglied zwischen Recht und Technik durchsetzen, sieht der Anwalt auf mittlere Sicht noch nicht: “Jura ist Jura und IT ist IT. Beide Seiten können stark voneinander profitieren, wenn auf beiden Seiten Spezialisten mit Neugier für ihr Gegenüber vorhanden sind.“ Auch Martin Schweinoch, Partner der Kanzlei SKW Schwarz in München, sagt: “Die Doppelqualifikation Jurist und Ingenieur braucht man wohl nicht als eigenes Jobprofil.“ Birgit Maneth von Lutz Abel dagegen findet: „Um die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz im Bereich Recht voranzutreiben wäre ein solches Job-Profil sicher hilfreich.“ Das gilt insbesondere auch für die Entwicklung weiterer neuer Geschäftsmodelle, wobei hier besonders junge Juristen gefragt sind: Als Digital Natives sind sie Experten für digitales Business – und können den Kanzleien dabei helfen, echte Innovationen zu entwickeln.