Jetzt startet die Dekade der Naturwissenschaften

Foto: AdobeStock/New Africa
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Wie nie zuvor kommt es heute darauf an, mithilfe der Forschung globale Risiken zu identifizieren und an Problemlösungen zu arbeiten. Es liegt dabei in der Hand der jungen Generation, zu beweisen, dass Wissenschaft und Wirtschaft keine Gegenspieler sind, sondern die gleichen Ziele verfolgen. Ob im Kampf gegen Krankheiten oder gegen den Klimawandel: Wohlstand gibt es nur in einer gesunden und nachhaltigen Welt. Von André Boße

Treffen sich eine Wissenschaftsjournalistin und ein Virologe im virtuellen Raum eines Podcasts und reden miteinander, minutenlang geht es um Themen, die für Laien zunächst so fremd wirken wie die sprichwörtlichen böhmischen Dörfer, es geht um Viruslasten und Replikationen, um den Unterschied zwischen Ribonukleinsäure und Desoxyribonukleinsäure, um die drei Zelltypen, nämlich die Ziliierten Zellen, Clara-Zellen und die Becherzellen. Wie viele Menschen hätten bei einem solchen Gespräch in normalen Zeiten zugehört? Ein paar Hundert vielleicht, Leute aus der Forscher-Community. Dass die Zeiten alles andere als normal sind, zeigt der gigantische Erfolg des Podcasts, den der Charité-Virologe Christian Drosten zusammen mit NDR-Info auf die Beine gestellt hat. Millionenfach werden die Folgen abgerufen, in der Frühphase der Pandemie, Mitte und Ende März, als ein ganzes Land nur noch auf Sicht fahren konnte, funktionierten die Erläuterungen von Drosten wie ein letzter Anker im Alltag. Kein Wunder, dass das Format im Sommer den „Grimme Online Award“ gewonnen hat.

Naturwissenschaft wird gehört

An dem Podcast zeigt sich eine Entwicklung, und zwar auch unabhängig von Corona und Lockdowns: In dieser komplexen Welt mit ihrer schwindelerregenden Ereignisdichte finden naturwissenschaftliche Stimmen Gehör. Insbesondere dann, wenn ihnen bei der Kommunikation gelingt, inhaltliche Dichte und niedrigschwellige Ansprache in Balance zu bringen. Christian Drosten vereinfacht seine Themen kaum (und wenn, dann mit hörbarem Unbehagen), aber er erklärt sie mit Geduld und Empathie gegenüber seinen Zuhörern, auch weil er weiß: Wer hier zuhört, der will etwas lernen – und nicht nur unterhalten werden. „Ich erzähle hier ja keine Gutenachtgeschichten“, sagte er am Ende der 50. Folge.

Dabei ist Drostens Erfolg kein Einzelfall: Auf Youtube hat sich die Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim mit fundierten Clips ein Millionenpublikum erarbeitet; ihr Kanal „maiLab“ zählt für viele Menschen zum ersten Anlaufpunkt, um zu erfahren, wie naturwissenschaftliche Forschung, politische Entscheidungen und öffentliche Berichterstattung zusammenhängen. 2019 erhielt Mai Thi den renommierten Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis, zusammen mit dem TV-Kollegen Harald Lesch, dessen Fernsehsendungen ebenfalls komplexe Inhalte und zuschauerfreundliche Ansprache kombinieren.

Woher das Interesse an Forschung und den Naturwissenschaften in dieser Pandemie rührt, ist offensichtlich: Alle Systeme der Öffentlichkeit –Politik, Wirtschaft, Bürgertum – benötigen händeringend Informationen, um die Risiken dieser neuen Krankheit COVID-19 abzuschätzen. Was bringen Kontaktsperren? Wie ansteckend sind Kinder? Welche statistischen Methoden gibt es, um die Ansprüche an das Gesundheitssystem zu ermitteln? Im Corona-Jahr 2020 zeigt sich, dass die Forschung eben nicht nur dafür da ist, Lösungen für eine kaum absehbare Zukunft zu finden. 2020 wird deutlich, wo ihre Kernaufgabe liegt: In der Bewertung der Risiken der Gegenwart – und der Suche nach Lösungen.

In Geiselhaft der Politik

Wichtig zu erwähnen: Auch Naturwissenschaftler besitzen keine Superkräfte. „Der grundsätzliche Anspruch, dass ‚die Wissenschaften‘, namentlich die Naturwissenschaften, im Alleingang die meisten Probleme der Menschheit lösen können, wird heute nicht mehr ernsthaft vertreten“, so Dr. Uta Müller, Leiterin des Themenbereichs Ethik und Bildung im Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW). In der aktuellen Situation zeige sich, dass man mithilfe der Forschung zwar über die Charakteristika des Corona- Virus aufklären könne. „Aber bereits dann, wenn es um die Ansteckungsgefahr geht, werden in der Forschung praktische – nicht-biomedizinische – Überlegungen relevant.“ In diesem Moment gelangen andere Felder ins Blickfeld: Gesellschaft, Politik, Wirtschaft. Die Ergebnisse der Forschungen hätten zwar Auswirkungen auf weitere Handlungsentscheidungen, so Uta Müller, sie werden aber „von politischen Akteur*innen in einem gesellschaftlichen Kontext interpretiert“.

Preprint und die Qualität

In den Naturwissenschaften sind Prepint-Server eine Art Versuchslabor für Studien: Hier werden sie bewertet, weisen Kollegen auf Fehler hin. Durch die Öffentlichkeitswirksamkeit im Zuge der Corona-Krise fühlen sich einige Forscher motiviert, dort früher als üblich Studien zu publizieren, mit der Folge, dass Cochrane Deutschland – ein Bewertungsnetzwerk für wissenschaftliche Arbeiten aus dem Gesundheitsbereich – die Qualität einiger Preprint-Studien bemängelte: „In der Tat sehen wir zur Zeit aus aller Welt eine große Anzahl von Studien zu COVID-19 mit teils erheblichen methodischen Limitationen, beispielsweise ohne Vergleichsgruppen oder mit sehr geringen Teilnehmerzahlen, die auf die Schnelle als Preprint ohne Peer Review veröffentlicht werden. Solche Studien werden dann gelegentlich in sozialen und sonstigen Medien, teils auch durch Wissenschaftler selbst, als wichtige wissenschaftliche Ergebnisse dargestellt, die Entscheidungen in der Gesundheitsversorgung einzelner Patienten oder auch politische Entscheidungen auf Systemebene begründen sollen. Dies ist äußerst problematisch, da die Berichterstattung oft die Unsicherheit nicht ausreichend berücksichtigt, die wir in Bezug auf viele Fragen im Zusammenhang mit COVID-19 leider noch immer haben“, sagt Jörg Meerpohl, Direktor von Cochrane Deutschland.

Genau das passiert im Zuge dieser Pandemie andauernd: Die Naturwissenschaft stellt Fakten zur Verfügung – dann kommen Protagonisten aus anderen Bereichen und vereinfachen, dehnen oder interpretieren sie so, dass diese Fakten zu Begründungen des eigenen Handelns werden. Das Prolem: Die Naturwissenschaft wird damit in Geiselhaft genommen.

Mai Thi hat das in einem Clip auf ihrem „maiLab“-Kanal sehr gut dargestellt: Die Naturwissenschaften bieten Antworten auf das „What?“, „Was ist Sache?“. Die gesellschaftlichen Akteure benötigen jedoch ein „Was machen wir daraus?“. Die Pandemie zeigt, dass sich Naturwissenschaftler hier in einem Spannungsfeld bewegen: Es will gelernt sein, zu jeder Zeit zwischen „What?“ und „So what?“ zu unterscheiden. Nur so kann man verhindern, von der Politik oder anderen gesellschaftlichen Akteuren vor den Karren gespannt zu werden, so wie es im Zuge von Corona selbst einigen hockrenommierten Wissenschaftlern passiert ist.

Konstruktiv gegen den Klimawandel

Bleiben wir noch kurz bei der Pandemie: Die naturwissenschaftliche Suche nach dem Heiligen Gral ist die Forschung nach wirksamen Impfstoffen. Was, wenn dieses Vorhaben gelingen wird, pendelt sich dann alles wieder ein? Tritt die naturwissenschaftliche Forschung also wieder zurück in die zweite Reihe, erreichen wissenschaftliche Podcasts wieder nur ein Fachpublikum? Niemand kann es vorhersagen, aber man darf vermuten: Nein. Schließlich steht der Weltgesellschaft die wohl größte Herausforderung noch bevor, nämlich der Kampf gegen die Erderwärmung. Auch hier nimmt die Naturwissenschaft eine wichtige kommunikative Rolle ein.

Der erste Schritt erfolgte vor 10 bis 15 Jahren: In ihrem Buch „Alltagsbilder des Klimawandels“ schrieb die Autorin Melanie Weber im Jahr 2008: „Der globale Klimawandel stellt nicht nur ein komplexes globales Umweltproblem dar, sondern ist für Laien überhaupt erst durch die Kommunikation der Wissenschaft wahrnehmbar.“ Sprich: Ohne die Erkenntnisse und die Kommunikation dieser Erkenntnisse vonseiten der Naturwissenschaft wäre das Risiko „Erderwärmung“ wohl kaum mit dieser Wirkung in die Gesellschaft durchgedrungen. Heute, 12 Jahre später, hat sich die Rolle der Naturwissenschaftler geändert. Längst sind die Folgen der Erderwärmung bekannt und werden an immer mehr Orten in der Welt offensichtlich: Wärmerekorde in Sibirien, Dürremonate in Deutschland, Vibrionen-Belastung in der Ostsee. Wie bei der Pandemie geht es daher nun verstärkt darum, an konstruktiven Alternativen und Lösungen zu forschen.

Zu tun gibt es für die verschiedenen Naturwissenschaften eine Menge. Die Chemie beschäftigt sich eindringlich mit der Frage, ob das Wasserstoffauto eventuell eine viel größere Zukunft hat als das Elektromobil. Die Physik erarbeitet zusammen mit der Mathematik Simulationen über das globale und regionale Klima, bindet diese in soziökonomische Szenarien ein. Die Biologie schaut zum Beispiel gebannt auf die Entwicklung der globalen Moorlandschaften, die zwar nur drei Prozent der Landfläche bedecken, jedoch mit 400 bis 550 Gigatonnen 20 bis 30 Prozent des gesamten im Boden gelagerten Kohlenstoffs speichern: „Jeder Hektar geschütztes Moor spart jährlich rund neun Tonnen CO2 ein, knapp so viel, wie jeder von uns im Durchschnitt pro Jahr verursacht“, erklärt der WWF-Naturschutzexperte Michael Zika in einer Presseerklärung der Bundesregierung zum Thema Moore und Klimaschutz.

Die Agrarwissenschaft wiederum steht vor der Aufgabe, Grundlagen für neue Formen von Landwirtschaft zu erforschen, die Böden und Umwelt schonen – und dennoch die Ernährungssicherheit garantieren. Und die Pharmazie? Wird sich in den kommenden Jahren ohnehin nicht über mangelnde Arbeit beklagen. Noch einmal will sich die globalisierte Welt nicht von einer Pandemie überraschen lassen, in den folgenden Jahren wird es darum gehen, potenzielle Viren und andere Krankheitserreger noch genauer zu erforschen, um epidemiologische Risiken zu verringern. Wobei sich Staaten und Unternehmen sehr gut überlegen werden, hier Forschungsgelder zu kürzen. Im Gegenteil, es ist anzunehmen, dass die Entwicklungsabteilungen und Institute leichter denn je an die für ihre Arbeit notwendigen Mittel kommen.

Ökologie und Ökonomie – es geht nur zusammen

Egal, in welcher der Naturwissenschaften die kommende Generation tätig sein wird: Sie steht vor einer großen Chance. Erneut erteilt die Pandemie eine Lehre: Offensichtlich wird, dass in denjenigen Ländern die Wirtschaft mittel- und langfristig profitiert, in denen die notwendigen Lockdowns frühzeitig, konsequent und lange genug angeordnet und befolgt wurden. Hat man dabei zu Beginn der Corona-Zeit häufig eine Konkurrenzsituation zwischen Ökonomie und Virologie erzeugt, nach dem Motto „Die einen wollen öffnen, die anderen verbieten das“, zeigte sich später, dass es starke gemeinsame Interessen von Gesundheit und Wirtschaft gibt. Prägend war hier zum Beispiel eine gemeinsame Studie des Wirtschaftsinstituts ifo sowie des Helmholtz-Instituts für Infektionsforschung HZI, in der die Forscher eindeutig das Fazit ziehen: „Es zeigt sich, dass es in Bezug auf eine starke Lockerung der Maßnahmen keinen Konflikt zwischen wirtschaftlichen und gesundheitlichen Kosten gibt.“

maiLab: Wissenschaft und Öffentlichkeit

In ihren jüngeren Clips des „maiLab“-Kanals zeigte Mai Thi eindrucksvoll, welche Auswirkungen eine verdrehte Berichterstattung über die Wissenschaft haben kann. „Wissenschaftler irren“ heißt eine Folge der Reihe: Mai This Anliegen ist es hier, klarzustellen, dass die Naturwissenschaft dann, wenn sie sich neuen Themen widmet (und das Corona-Virus ist so eines), immer neue Fakten erforscht, die schließlich zu neuen Erkenntnissen führen – eine Selbstverständlichkeit, die bitte weder mit Meinungen noch mit Unfehlbarkeit verwechselt werden dürfe. Ihr Credo: „Solange man sich den Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis bewusst ist, ist Wissenschaft für komplizierte gesellschaftlich relevante Fragen die verlässlichste Entscheidungsgrundlage, die wir haben.“ www.youtube.com/mailab

Wer dieses Denken übernimmt, hat als Naturwissenschaftlerin oder Naturwissenschaftler jetzt beste Chancen – ob in der freien Wirtschaft, an einem der Institute oder an den Hochschulen. Der Kampf gegen den Klimawandel, gegen Feinstaub in der Luft, Plastikmüll in den Ozeanen? Ökonomie und Ökologie sind stets Partner, wenn es darum geht, lähmende und teure Katastrophen zu verhindern und neue Wachstumsmärkte zu erschließen. Die Kooperation aus Ökonomen und Naturwissenschaftlern bei der gemeinsamen Studie von ifo und HZI zeigt, welche Erkenntnisse möglich sind, wenn verschiedene Wissenschaften miteinander statt gegeneinander arbeiten: Gemeinsam entwickelte Forschungsszenarien zeigen der Gesellschaft auf, was Sache ist. Was daraus gemacht wird, bleibt in der Verantwortung der politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsträger. Doch wenn sich Physik und Pharmazie, Biologie und Physik in dieser extrem herausfordernden Zeit der Aufgabe stellen, das „What?“ nicht nur zu erforschen, sondern auch zu kommunizieren, dann ist 2020 tatsächlich der Startpunkt der Dekade der Naturwissenschaften.