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StartIngenieureDigitale Transformation? Aber bitte nachhaltig!

Digitale Transformation? Aber bitte nachhaltig!

Auch wer Streaming-Dienste nutzt, Videokonferenzen abhält oder ganze Unternehmensbereiche smart macht, belastet das Klima. Der CO2-Ausstoß passiert dabei leiser, ist weniger sichtbar. Doch er lässt sich nicht leugnen. Ingenieure sind gefordert, Beiträge zu einer „sanften Digitalisierung“ zu leisten. Die Kernfragen lauten: Wo ist die Digitalisierung sinnvoll – wo nicht? Und wie lässt sich die Transformation möglichst nachhaltig gestalten? von André Boße

Der Schornstein qualmt, die Maschine quietscht und ächzt, der Automotor heult auf. Wer daneben steht, erkennt sofort: Das kann nicht gut für die Umwelt sein. Die Emissionen und der Energieverbrauch scheinen mit den Händen greifbar zu sein, es ist eine direkte Erfahrung. Wie sauber und rein dagegen erscheint die digitale Welt: Da qualmt, quietscht und ächzt nichts, ganz leise rattert die Festplatte im Laptop, summen ab und an die Mini-Ventilatoren der Computer, aber eigentlich wirkt es so, als streame, surfe und downloade man lautlos, umweltfreundlich und klimaneutral.

Smart gleich sauber? Von wegen!

Jens Gröger ist Senior Researcher beim Öko-Institut, einer Forschungseinrichtung, die sich damit beschäftigt, eine Vielzahl von Bereichen des öffentlichen Lebens nachhaltiger zu gestalten. Gröger ist Experte für „Nachhaltige Digitalisierung“. Er hat Berechnungen angestellt, mit denen er zeigen will, wie wenig sauber und klimaneutral die meisten digitalen Anwendungen tatsächlich sind. Denn: Sie benötigen Strom. Und zwar nicht zu knapp.

The Shift Project: Geräte und Datenmenge steigen

Die französische Denkfabrik The Shift Project hat es sich zur Aufgabe gemacht, genau nachzuhalten, welche Klimaeffekte die fortschreitende Digitalisierung hat. Im Report „Towards Digital Sobriety“ zeigen die Analysten eine Reihe von Kernpunkten: • Die Menge an Energie, die benötigt wird, um digitale Endgeräte zu bauen und zu betreiben, steigt global jährlich um rund neun Prozent. • Im Jahr 2021 wird der Durchschnitts-Westeuropäer neun ans Internet verbundene Geräte besitzen. 2016 waren es noch fünf. • Im Jahr 2020 befinden sich in Industrieunternehmen 20 Milliarden „connected devices“, die an das „Internet of Things“ angeschlossen sind. Die Zahl dieser kommunikativen Schnittstellen steigt jährlich um rund 55 Prozent. www.theshiftproject.org

Gröger vermisst den digitalen ökologischen Fußabdruck in vier Schritten. Der erste betrifft die Herstellung der Endgeräte: Die Produktion eines Laptops ist seinen Kalkulationen zufolge mit rund 250 Kilogramm ausgestoßenem CO2 verbunden, ein Smartphone schlage mit rund 100 Kilogramm zu Buche. Hat man diese Geräte zu Hause, müssen die Akkus immer wieder aufgeladen werden, dies ist der zweite Schritt. Der Laptop verursache damit pro Jahr zusätzliche 25 Kilogramm CO2-Emissionen, das Smartphone vier Kilogramm, schätzt Gröger. Während bei einem herkömmlichen Kühlschrank oder einer Waschmaschine die Energiebilanz damit abgeschlossen wäre, kommen bei digitalen Geräten noch ein dritter und vierter Schritt dazu. Drittens kostet es Energie, die Daten auf die Devices zu übertragen. Gröger berechnet für jemanden, der pro Tag rund vier Stunden Videos streamt, einen jährlichen Ausstoß von 62 Kilogramm CO2. Viertens funktioniert das Internet nur, wenn gigantische Rechenzentren die Daten bereithalten. In diesen riesigen Anlagen stehen Tausende Hochleistungscomputer, die gekühlt und betrieben werden müssen. Jens Gröger hat überschlagen, dass alleine die deutschen Rechenzentren pro Internetnutzer jedes Jahr 213 Kilogramm CO2 ausstoßen. Errechnet hat der Experte zudem, wie viel Emissionen ein normales Suchmaschinen-Verhalten verursacht: Wer täglich im Durchschnitt 50 Google-Anfragen stellt, belastet das Klima mit 26 weiteren Kilogramm an Treibhausgas-Emissionen.

„Digitaler Lebensstil nicht zukunftsfähig“

Zählt man nun diese und weitere digitale Geräte zusammen, ergibt sich laut Jens Gröger pro Person ein ökologischer Fußabdruck der digitalen Aktivitäten in Höhe von rund 850 Kilogramm pro Jahr. „Dies ist bereits knapp die Hälfte des uns pro Person zur Verfügung stehenden CO2-Budgets, wenn der Klimawandel in noch erträglichen Grenzen gehalten werden soll“, schreibt er in einem Blog für das Öko-Institut. Nehme man nun noch weitere Treibhausgasemissionen hinzu, die durch die Nutzung von weltweit verteilten Websites, Musik- und Videostreaming-Diensten, sozialen Netzwerken, vernetzten Haushaltsgeräten, Videoüberwachung oder Big-Data-Analysen entstehen, so summiere sich der individuelle Digital-CO2-Fußabdruck leicht auf mindestens eine Tonne pro Jahr. „Unser digitaler Lebensstil ist damit in der vorliegenden Form nicht zukunftsfähig“, stellt Jens Gröger fest. Nichts qualmt, quietscht oder ächzt – aber nachhaltig ist die digitale Technik nicht. Bereits 2017 hatte Greenpeace in einer Studie festgestellt: Wäre das Internet ein Land, dann hätte es den sechsthöchsten Verbrauch auf der Erde. Alleine das Streaming von Videos ist für einen Stromverbrauch verantwortlich, der über dem von Spanien liegt, wie die Autoren einer Studie des Klimaschutz-Think-Tanks „The Shift Project“ feststellen.

Digital? Nicht zwingend

Was darauf folgt? Zum einen steht die digitale Wirtschaft vor der Aufgabe, ihre Prozesse energieeffizienter zu gestalten und deutlich mehr auf Öko-Strom aus erneuerbaren Energiequellen zu setzen. Zum anderen geht es darum, nicht zu denken, digitale Lösungen hätten per se eine bessere Wirkung als analoge. Tilman Santarius ist jemand, der dem digitalen Optimismus eine realistische Skepsis entgegenhält. Der wissenschaftliche Autor für Klima- und Nachhaltigkeitsthemen bezweifelt, dass digitale Innovationen tatsächlich in der Lage sind, Nachhaltigkeit oder soziale Gerechtigkeit zu generieren. Einige IT-Verfechter glauben genau das, für sie ist die digitale Technik eine Art Allheilmittel, mit der sich die großen Probleme auf der Erde locker lösen lassen.

Smarte Grüne Welt?

Das Buch „Smarte Grüne Welt?“ von Tilman Santarius und seinem Co-Autor Steffen Lange hinterfragt kritisch die Effekte der Digitalisierung auf die gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen dieser Zeit. Dabei entwickeln die Autoren „Designprinzipien für eine nachhaltige Digitalisierung“, die in der Lage ist, die Welt besser und gerechter zu machen. Das Buch erscheint in Erstauflage im Oekom-Verlag, auf der Homepage von Tilman Santarius steht es mittlerweile zum kostenlosen PDF-Download bereit.

www.santarius.de

Santarius hält sein Prinzip der „Sanften Digitalisierung“ dagegen: Statt die digitale Technik mit ihrer ganzen disruptiven Wucht einzuführen, plädiert er in seinem Buch „Smarte Grüne Welt?“ für einen anderen Ansatz: „Die Strategie sollte stattdessen sein, viel genauer und bedachter als bisher hinzusehen, welche digitalen Anwendungen die Gesellschaft weiterbringen und welche trotz möglicher futuristischer Versprechungen doch eher fragwürdig bleiben.“ Santarius legt Wert darauf, kein Digital-Verhinderer zu sein. Vielmehr fordert er, sich die Digitalisierung als einen „großen und vielfältigen Werkzeugkasten“ vorzustellen: „Manche Werkzeuge können bestimmte Probleme lösen. Aber nicht für jedes Problem gibt es ein Werkzeug, und manchmal passen die Werkzeuge nicht, auch wenn es zuerst so aussah. Und keinesfalls sollte die Erfindung von Werkzeugen bestimmen, was wir als gesellschaftliches Problem definieren. Vielmehr müssen die digitalen Tools nach Maßgabe der klügsten Lösungsoptionen hergestellt werden.“

Nachhaltigkeits-Nutzen-Bilanz in der Entwicklung

Wie das gelingen kann? Indem man zum Beispiel nicht alle elektronischen Geräte smart macht, nur weil das technisch möglich ist. Ob zum Beispiel ans Netz angeschlossene Kühlschränke, die selbstständig Milch nachordern und die gekühlten Waren auf Haltbarkeit prüfen, tatsächlich ökologisch nachhaltiger sind, sollte geprüft werden – denn diese smarten Modelle werden mehr Strom verbrauchen als herkömmliche Geräte, direkt wie indirekt, und damit auch in der Energieeffizienzklasse nach unten rutschen. Apps hingegen, die im Heim den Heizbedarf analysieren und steuern, könnten wiederum eine positive Energiebilanz fördern. Für Ingenieure wird es darauf ankommen, bei jeder Entwicklung genau hinzuschauen: Was sind die Folgen? Was hört sich zwar fortschrittlich an, bringt mit Blick auf die Ökobilanz aber negative Effekte mit sich?

Diese differenzierte Betrachtungsweise muss auch in ganz anderen Bereichen eingeübt werden. Ist eine klimaschädliche Flugreise eines Ingenieurs sinnvoll, wenn er zu einem Meeting fliegt, an dessen Ende auch auf Basis des persönlichen Austauschs nachhaltige Lösungen gefunden werden? Hier gibt es keine pauschalen Antworten, geprüft werden muss jeweils im Einzelfall. Vor allem sollte auch nicht die eine oder andere Herangehensweise verurteilt werden. Denn dafür ist die Sache zu komplex. Wer sich zum Beispiel aktiv für den Klimaschutz engagiert, am Abend aber stundenlang Serien streamt, handelt im Grunde genauso paradox wie ein SUV-Fahrer, der den Biomarkt ansteuert. Und wer als Ingenieur jegliche technische Anwendung smart macht, weil es halt möglich ist, ohne zu schauen, welche Folgen der digitale Mehrwert hat, ist mit Blick auf die CO2-Bilanz nicht unbedingt besser als ein konservativer Vertreter des Fachs, der sich digitalen Lösungen, wenn möglich, verweigert. Auf den differenzierten Blick kommt es an – auch wenn man dafür etwas länger nachdenken muss.

Mit guten Beispielen vorangehen

Dabei kann es vorkommen, dass Ingenieure vor der Herausforderung stehen, einer Gesellschaft alternative nachhaltige Techniken näherzubringen und gegen Skepsis anzukämpfen. Damit das funktioniert, schlägt Tilman Santarius in seinem Buch vor, mit neuen Kooperationen konkrete Praxislösungen zu entwickeln. Denn: „Wenn gezeigt wird, wie die Dinge im Hier und Jetzt auch anders gehen können, treibt das Entwicklungen an.“ Als Beispiel nennt der Autor die Energiewende: Hier seien Umweltverbände und ökologische Bewegungen zwar enorm wichtige Treiber des Wandels gewesen. „Aber ohne all die Tüftler*innen und Erfinder*innen, die in Garagen und im Hinterhof Windkrafträder und Solaranlagen gebaut und im Alleingang ausprobiert haben, und ohne die kleinen progressiven Ingenieurbüros, die ihre Geschäftsfelder – jedenfalls auch – als Beitrag zum Gemeinwohl und Klimaschutz betreiben, wäre die Energiewende weniger schnell vorangekommen“, schreibt er. Denn nichts sei überzeugender, so Tilman Santarius, als die Solaranlage oder das Windkraftrad direkt vor sich zu sehen und zu merken: „So geht es auch!“

Buchtipp: Ökologie der digitalen Gesellschaft

Das Jahrbuch Ökologie ist eine jährlich erscheinende Reihe, die sich jeweils bedeutenden Trends im Bereich des Umweltschutzes widmet. Im aktuellen Jahrbuch analysiert Jörg Sommer, seit 2009 Vorstandsvorsitzender der Deutschen Umweltstiftung, die ökologischen Potenziale der Digitalisierung: Es gelte, so der Autor, diese neue Technik „sozial-ökologisch einzuhegen: Dies ist die Voraussetzung, damit Digitalisierung die Grundlage einer Transformation hin zu einer regenerativen und das globale Ökosystem schonenden Lebens- und Wirtschaftsweise wird und eben nicht zum Instrument totalitärer Politik mit verheerenden Folgen für den Planeten und die Menschheit.“ Jörg Sommer: Jahrbuch Ökologie – Die Ökologie der digitalen Gesellschaft. S. Hirzel Verlag 2019. 21,90 Euro (Amazon-Werbelink)

Buchtipp: Jahrbuch Nachhaltigkeit

Klimaschutz, Verkehrswende, Ressourcenschonung und Energieeffizienz sind gesellschaftliche Kernaufgaben. Doch wie lässt sich das in die unternehmerische Praxis integrieren? Wie klimaschädlich ist die Produktion, und sind die eingesetzten Materialien recyclingfähig? Welchen Mehrwert liefert ein Betrieb, ist er sozial engagiert, wie transparent ist die Kette der Zulieferer oder wie verantwortungsvoll der Umgang mit Mitarbeitern? Das Jahrbuch Nachhaltigkeit bietet aktuelle Informationen, Orientierung und wertvolle Impulse für den Einstieg in das betriebliche Nachhaltigkeitsmanagement. metropolitan Fachredaktion (Hrsg.): Jahrbuch Nachhaltigkeit 2020. Metroplitan 2020. 29,95 Euro (Amazon-Werbelink)

Filmtipp

Foto: Pandora Film Medien GmbH
Foto: Pandora Film Medien GmbH

Der Filmemacher Erwin Wagenhofer präsentiert in seinem neuen Dokumentarfilm „But Beautiful“ Perspektiven ohne Angst, die Verbundenheit in Musik, Natur und Gesellschaft, Menschen mit unterschiedlichen Ideen, aber einem großen gemeinsamen Ziel: eine zukunftsfähige Welt. www.but-beautiful-film.com

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