Interview mit Erwin Wagenhofer

Erwin Wagenhofer, Foto: Lukas Beck
Erwin Wagenhofer, Foto: Lukas Beck

Ende 2013 lief Erwin Wagenhofers Film „Alphabet“ mit dem Untertitel „Angst oder Liebe“ im Kino, eine Abrechnung mit dem Bildungssystem, das in seinen Augen die Angst fördert und Liebe verhindert. Im Film heißt es außerdem, dass 98 Prozent aller Kinder hochbegabt zur Welt kommen. Nach der Schule sind es nur noch 2 Prozent. Im Interview berichtet der 53-jährige Filmemacher aus Österreich, wie sich das Thema im letzten Jahr entwickelt hat, und erklärt, was Erotik mit Wirtschaft zu tun hat. Die Fragen stellte André Boße.

Zur Person

Erwin Wagenhofer, geboren 1961 im niederösterreichischen Amstetten, drehte seine ersten kurzen Filme schon Anfang der 1980er-Jahre, als er beim Elektronikkonzern Philips in der Entwicklungsabteilung tätig war. In die Filmbranche stieg er 1983 als freier Assistent für die Regie und die Kamera ein, sein erstes Filmporträt drehte er 1987 über den Künstler Oswald Oberhuber. Zuletzt hat sich Wagenhofer als Dokumentarfilmer einen Namen gemacht. „We Feed The World“ (2005) blickt kritisch auf die Massenproduktion von Nahrungsmitteln, „Let’s Make Money“ (2008) auf die Finanzwirtschaft. Sein Film „Alphabet“ kam 2013 in die Kinos und übte mit dem Untertitel „Angst oder Liebe“ Kritik am Bildungssystem.

Herr Wagenhofer, Ihr Film „Alphabet“ lief vor einem Jahr in den Kinos und hat eine Debatte über das Bildungssystem gestartet. Hat diese Diskussion gefruchtet?
Allein, dass der Film eine Debatte in Gang gebracht hat, ist schon eine gute Sache. Seit dem Kinostart im Oktober 2013 habe ich mehr als 170 Veranstaltungen hinter mir. Bei diesen Diskussionen habe ich vor allem gelernt: Die große Bremse der Veränderung heißt Angst. Konkret haben vor allem Menschen Angst, die zu den gut Gebildeten zählen. Als Eltern haben sie Angst, dass ihre Kinder etwas versäumen oder nichts aus ihnen wird. Als Bürger haben sie Angst, einen neuen Weg einzuschlagen, weil sie glauben, es gebe keine Alternative. So ist das, was sie für neu halten, immer nur mehr vom Alten.

Junge Leute bekommen häufig zu hören: „So viel Wohlstand, so viel Freiheit, so viele Möglichkeiten: Ihr wisst gar nicht, wie gut es Euch geht.“ Warum ist die Angst dennoch ein bestimmendes Merkmal der jungen Generation?
Weil es uns nicht gelungen ist, ihr diese Angst zu nehmen. Wenn wir jedes Jahr weiter wachsen sollen, wenn drei Fremdsprachen zu wenig sind, wenn ein Studium alleine nicht ausreicht, weil man als CEO der Zukunft am besten drei Abschlüsse hat – dann ist genug nie genug. Wir reden hier jedoch lediglich von Kompetenzen, nicht von Bildung. Denn was hat ein Absolvent davon, wenn er fünf Sprachen spricht – aber nichts zu sagen hat?

Was verstehen Sie unter Bildung?
Der Sinn der öffentlichen Bildung ist in der österreichischen Bundesverfassung genau definiert: Am Ende soll dort der mündige Bürger stehen, der zum Beispiel positiv und selbstbewusst auf Herausforderungen zugeht und solidarisch mit den Mitmenschen interagiert. Aber wie soll das funktionieren, wenn die Menschen im knallharten Wettbewerb ihren Konkurrenten zur Strecke bringen müssen, damit das Unternehmen, für das sie arbeiten, bessere Zahlen schreibt? Dieses Paradoxon, das da in den vergangenen gut 30 Jahren entstanden ist, fördert eben nicht die Lebensfreude, sondern macht den jungen Menschen Angst. Dieses System stimmt also hinten und vorne nicht. Es zu verändern, würde allerdings voraussetzen, dass man selbstständig zu denken versteht. Aber genau das wird den jungen Menschen in den Schulen ausgetrieben. Das weiß und spürt die junge Generation. Deshalb hat sie zu Recht Angst. Und weil Angst eben kein guter Ratgeber ist, entsteht wirklich Neues nur in kleinen Gruppen.

Was verstehen Sie konkret unter dem Neuen, das Sie ansprechen?
Ich glaube, dass wir die Form unseres Zusammenlebens überdenken und erneuern müssen. Dazu brauchen wir zunächst einmal ein besseres Bild von uns selbst. Es hat sich der Irrglaube durchgesetzt, dass wir Menschen faul und schlecht sind, dass wir ohne Druck von außen über keinen Antrieb verfügen – und dass sich nur der Kräftigste und Stärkste durchsetzt. Heute beginnt man jedoch in Disziplinen wie der Biologie zu verstehen, dass nicht die Selektion das Leben möglich macht, sondern die Erotik – also, wenn Sie so wollen, ein Zusammenspiel. Wenn wir ein gutes Leben haben wollen, dann sollten wir niemanden mehr ausklammern, indem wir ihn bewerten. Der Mensch kommt mit Gaben zur Welt, und die möchte er auch teilen. Denn jeder von uns weiß: Geben ist schöner als Nehmen.

Die Sprache in den Unternehmen ist sehr bürokratisch. Es gibt Officers und Directors, Übernahmen und Human Resources. Wie wichtig ist es, für eine neue Unternehmenskultur auch eine neue Sprache zu finden?
Das ist einer der wichtigsten Punkte überhaupt, weil eben so vieles mit der Sprache beginnt und wir für dieses Neue, von dem ich spreche, noch keine Sprache haben. Übrigens ist das auch der Grund, warum wir den Film „Alphabet“ genannt haben: Eben weil wir mit unserem Alphabet neue Begriffe finden müssen. Ein Beispiel: In den Worten Erziehung und Unterricht stecken das „Ziehen“ und das „Richten“ drin. Ich glaube nicht, dass das noch zeitgemäß ist. Wie wäre es mit Beziehung statt Erziehung? Und mit Begleiten statt Unterrichten? Und in der Wirtschaft wimmelt es von Begriffen, die aus der Kriegsführung stammen: Es gibt Siege und Niederlagen, es ist von feindlichen Übernahmen die Rede und von Strategien, die bewältigt werden müssen. Wir sollten endlich wieder verstehen, dass die Wirtschaft für den Menschen da ist – und nicht der Mensch für die Wirtschaft.

Junge Menschen, die für ihren Hochschulabschluss büffeln oder sich bei Unternehmen bewerben, erleben häufig eine Zeit, in der Unsicherheit eine große Rolle spielt. Wie kann es gelingen, in dieser stressigen Zeit die Liebe am Leben zu bewahren?
Am besten, indem sie Menschen finden, die sie lieben. Als wir im Frühjahr 2013 den Film in Berlin fertiggestellt haben, schnappte ich in der U-Bahn eine Schlagzeile auf, die ich mir notiert habe: In Berlin leben 31 Prozent der Menschen alleine, 34 Prozent der Bevölkerung leben in einem Haushalt mit zwei Menschen. Und in Wien leben mehr Menschen mit einem Tier zusammen als mit anderen Menschen. Das scheinen mir alles in allem keine liebenden Gesellschaften zu sein.

Buchtipp

Erwin Wagenhofer, Sabine Kriechbaum & André Stern:
Alphabet: Angst oder Liebe.
Ecowin 2013.
ISBN 978-3711000415.
19,95 Euro

Filmtipp

Erwin Wagenhofer (Regie):
Alphabet – Angst oder Liebe? (OmU)Dokumentation.
Pandora Filmverleih (Alive AG) 2014.
Länge 113 min. 14,99 Euro