Megatrend Urbanisierung

Foto: Fotolia/Francesco Scatena/Sergey Furtaev
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Bauingenieure werden zum Urban Constructor. Weltweit beginnen sie gerade damit, die Städte fit für die digitale Zukunft zu machen. Denn: Der Megatrend Urbanisierung setzt sich fort. Und wenn Städte wachsen, wird gebaut. Überall suchen Citys nach baulichen Lösungen, um den Verkehr in den Griff zu bekommen und genügend Wohnungen zu errichten. Parallel wachsen die Ansprüche der Bewohner sowie die ökologischen Herausforderungen. Für Bauingenieure bedeutet das: Die Arbeit wird mehr – und sie wird immer spannender.

1950 war die Welt noch ein Dorf. Genauer: Die meisten Menschen auf der Erde lebten auf dem Dorf, also in ländlichen Strukturen, nämlich 70 Prozent. In den Städten tummelten sich dagegen nur 30 Prozent der Weltbevölkerung. Mit den Jahren begann sich das Verhältnis zu verschieben, der Megatrend der Urbanisierung setzte ein. Den Wendepunkt erlebte die Welt rund ums Jahr 2006: Erstmals lebten auf der Erde mehr Menschen in Städten als auf dem Land.

Und der Trend setzt sich weiter fort: „Während heute 55 Prozent der 7,62 Milliarden Erdenbürger Stadtbewohner sind, werden es im Jahr 2050 voraussichtlich zwei Drittel, also 68 Prozent, sein“, heißt es in einer Mitteilung der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung (DSW) auf Basis des „World Urbanization Prospects“ der Vereinten Nationen aus dem April 2018. Besonders stark nehme die Urbanisierung in Entwicklungs- und Schwellenländern zu; in Deutschland leben schon heute mehr als drei von vier Bewohnern – nämlich 77 Prozent – in Städten, im Jahr 2050 werden es voraussichtlich 84,3 Prozent sein, so die Prognose des UN-Berichts.

Urbanisierungsgrad in Deutschland

Mit einem Anteil von 75 Prozent Stadtbevölkerung war der Grad der Urbanisierung bereits im Jahr 2000 im internationalen Vergleich hoch. Seitdem steigt der Anteil laut Statistik des Portals Statista weiter an. Aktuell leben 77,3 Prozent der Deutschen in einem städtischen Raum, wobei dieser Anteil seit 2011 im Gegensatz zum globalen Trend so gut wie stagniert.
Quelle: www.gartner.com

Citys müssen bauen: Gebäude, Verkehrswege

Ist diese Entwicklung nun Fluch oder Segen? Zunächst ein Blick in die besonders schnell wachsenden Städte in den Schwellenländern. Dort bietet die Verstädterung den Menschen die Chance auf einen höheren Lebensstandard – „wenn eine geplante Stadtentwicklung erfolgt“, wie DSW-Geschäftsführerin Renate Bähr sagt. „Denn in den Metropolen lassen sich medizinische Versorgung, Schulen und andere öffentliche Dienstleistungen im Vergleich zu ländlichen Gebieten mit niedrigeren Pro-Kopf-Kosten bereitstellen.“ Zudem sind große Städte Motoren des wirtschaftlichen Wachstums: Laut UN-Studie werden in den Citys bis zu 80 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts eines Staates erwirtschaftet. Voraussetzung für eine geplante Stadtentwicklung sei jedoch, dass gezielt in solche Angebote investiert werde. Sprich: Es muss Geld für den Aufbau von Infrastruktur und die Errichtungen von öffentlichen Gebäuden zur Verfügung gestellt werden. Passiert das, sind diese Länder mit ihren wachsenden Städten für die Bauindustrie ein sehr Erfolg versprechender Markt.

Die rasch fortschreitende Urbanisierung, die Alterung der Infrastruktur, das Bevölkerungswachstum, der Klimawandel und technologische Innovationen fordern Städte weiterhin heraus.“ Thorsten Schulte, City Executive bei Arcadis Deutschland

Dass Städte weltweit investieren müssen, steht für die Analysten von Arcadis außer Frage. Der internationale Projektmanagement- und Ingenieurdienstleister stellt jährlich einen City-Index auf, der Städte nach der Qualität ihrer nachhaltigen Mobilität bewertet. Der Report für das Jahr 2017 trägt den Titel „Bold Move“, ins Deutsche übersetzt: mutiger Zug. Und genau das fordern die Berater von Arcadis von den Städten: mutig zu sein und jetzt zu investieren, allen voran in den Bau einer Infrastruktur für nachhaltige Mobilität. Der „Sustainable Cities Mobility Index“ untersucht und gewichtet die Verkehrsinfrastruktur von 100 Metropolen, basierend auf Bewertungskriterien in den Kategorien Menschen, Umwelt und Wirtschaft.

„Die rasch fortschreitende Urbanisierung, die Alterung der Infrastruktur, das Bevölkerungswachstum, der Klimawandel und technologische Innovationen fordern Städte weiterhin heraus“, sagt Thorsten Schulte, City Executive bei Arcadis Deutschland. Diejenigen Kommunen, die in ihre urbanen Verkehrssysteme investieren, werden sich einen Wettbewerbsvorteil verschaffen, schätzt der Urbanisierungsexperte: „Investitionen in verbesserte und nachhaltige Mobilität werden in Städten die Produktivität, Attraktivität und allgemeine Lebensqualität erhöhen.“ Es verlange Mut und den Willen städtischer Entscheidungsträger, die Lebensqualität in ihren Städten zu verbessern. „Stillstand ist aber keine Option“, so Schulte.

Es dauert nicht mehr lange, dann wird sich Mobilität in den Städten ganz neu ausdifferenzieren.

Zukunftsthema: Infrastruktur für alternative Mobilität

Mit Blick auf den Index zeigt sich, dass in Sachen Nutzerzahlen und Abdeckung die asiatischen Megacities wie Hongkong, Tokio, Seoul und Peking führend sind, lediglich New York repräsentiert hier den Westen. Die deutschen Städte Berlin, Hamburg, München und Frankfurt platzieren sich im Mittelfeld. Anders sieht das beim Spezial-Index Umwelt aus: Hier liegen Frankfurt, München und Berlin vorne, Hamburg liegt auf Platz zwölf, unter den Top Ten befinden sich ausschließlich europäische Städte, was zeigt: In Sachen Luftqualität, Grünflächen und CO2Emissionen bekommen diese Städte im internationalen Vergleich sehr gute Noten. Die Herausforderung ist es nun, diesen positiven grünen Effekt noch deutlicher zu machen und auszubauen.

Stapelbare Stadt und Leben in der Röhre

Viele Science-Fiction-Filme und Bücher haben die Vision einer stapelbaren Stadt aufgegriffen: Die Menschen leben nicht mehr in festen Häusern, sondern in flexiblen und stapelbaren Elementen. In Hongkong ist diese Idee nun Teil eines Wohnexperiments: Ein Architekt hat große Röhrenelemente als Mini-Apartments gestaltet, Durchmesser 2,50 Meter, Wohnfläche zehn Quadratmeter. Das ist nicht viel, aber besser als nichts. In der überfüllten Stadt finden viele Arbeiter auf dem Markt überhaupt keine Wohnungen mehr und leben in noch kleineren Verschlägen.
www.jameslawcybertecture.com

„Die Aufgabe der Stadtplanung ist es, das Laufen, Radfahren und das Fahren mit Bus und Bahn attraktiver zu machen als die Benutzung des eigenen Autos“, sagt Diane Legge, bei Arcadis Expertin für die Themen Mobilität und Stadtplanung. Dabei hat sie auch die Zielgruppen im Blick, die von diesen nachhaltigen Verkehrsmitteln nicht abhängig sind, weil sie die finanziellen Mittel für ein eigenes Auto haben. Diese Stadtbewohner müsse man mit „attraktiven, effizienten und modernen Designs“ locken, so Diane Legge. Und auch Big Data werde ein Thema werden: „Wenn wir 2020 aus dem Haus gehen, erhalten wir Optionen für den Transport anhand von Variablen wie Zeit und den tatsächlichen Kosten, aber auch der Anzahl der Kalorien, die wir verbrauchen, oder den CO2-Fußabdruck, den wir hinterlassen“, sagt die Arcadis-Expertin.

Diese Informationen werden dafür sorgen, dass Entscheidungen ganz anders getroffen werden als heute. Es dauert nicht mehr lange, dann wird sich Mobilität in den Städten ganz neu ausdifferenzieren. Dann muss jedoch die Infrastruktur bereits stehen, weshalb die Experten so sehr darauf pochen, dass die Metropolen jetzt die Infrastruktur verbessern und neu aufbauen müssen. Dadurch entstehen für Bauingenieure mit Sinn für moderne und nachhaltige Mobilität in den Städten einige sehr interessante Tätigkeitsfelder, in denen sie auf den Schnittstellen zu Stadtplanung und IT die Urbanisierung entscheidend mitgestalten können.

Nach oben bauen, wenn unten alles dicht ist

Dringend gebaut werden muss aber auch in den Städten, die bereits heute voll und damit zugebaut wirken. Denn auch in diesen Metropolen steigt die Zahl der Bewohner – und mit ihnen die Preise für Immobilien und Mieten. Um dem Bedarf an Wohn- und Arbeitsraum gerecht zu werden, zeigt die Baurichtung nach oben: Die junge Bauingenieurin Roma Agrawal glaubt fest an eine Renaissance der Wolkenkratzer, „denn nur solche Gebäude erlauben die Maximierung von Raum in bereits stark bevölkerten Stadtvierteln“, sagt die Britin, die sich als Mitplanerin des Londoner Hochhauses „The Shard“ international einen Namen gemacht hat.

Studie zu Smart Cities

Auch das McKinsey Global Institute (MGI) hat in seiner Studie „Smart Cities: Digital solutions for a more liveable future“ herausgefunden, dass der flächendeckende Einsatz digitaler Angebote die Lebensqualität in Städten spürbar steigern kann. So sinken in einer „Smart City“ die tägliche Pendelzeit, die Kriminalitätsrate und das Müllaufkommen, und es steigt die Luftqualität. Von den 50 durch das Institut untersuchten Städten ist die digitale Infrastruktur am weitesten fortgeschritten in New York, Singapur und San Francisco. Berlin und Hamburg liegen im unteren Mittelfeld.

Quelle: https://mck.co/2Jq8ccn

Für Agrawal stehe das Bauen in die Höhe für die Zukunft, weil sich die Materialtechnik weiterentwickelt habe. Bauingenieure arbeiteten daran, neue Baustoffe wie Carbonfasern zu entwickeln. „Solche deutlich leichteren und dennoch stärkeren Materialien erlauben uns, das statische Gewicht zu reduzieren, was zum einen die Arbeit am Fundament erleichtert und zum anderen das Gebäude effizienter macht“, sagt sie. Zu den Herausforderungen des Planens und Bauens von immer höheren Wolkenkratzern zähle die Entwicklung neuer vertikaler Transporttechniken sowie eine noch bessere Analyse der Auswirkungen von Wind, Hitze und Kälte auf die Baustruktur. Hierfür stehen den Bauingenieuren jedoch neue digitale Analysemethoden zur Verfügung. Agrawal glaubt daher, dass es durch „fortgeschrittene Computermodelle, Materialien und Baumethoden kein Limit mehr gibt, wie hoch wir bauen können. Für Bauingenieure heißt das, wir leben in aufregenden Zeiten.“

Zu den Herausforderungen des Planens und Bauens von immer höheren Wolkenkratzern zählt die Entwicklung neuer vertikaler Transporttechniken sowie eine noch bessere Analyse der Auswirkungen von Wind, Hitze und Kälte auf die Baustruktur.

Stadt wird multifunktional

Doch nicht auf die Höhe kommt es an: Die Trendforscher vom Zukunftsinstitut rufen in ihrem Report „Die Stadtwirtschaft von morgen“ mit Blick auf das urbane Bauen die „Ära der Multifunktionalität“ aus: „In den nächsten Jahren werden die klassischen Grenzen zwischen Wohnen und Arbeiten, zwischen Beruf und Freizeit, öffentlich und privat, Familien- und Freundeskreis weiter verschwimmen“, heißt es in der Studie. Der innovative Wohnungsbau werde daher neue Konzepte entwickeln: „Weil bauliche Strukturen künftig schneller und flexibler auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren müssen, die notwendigen Herstellungs-, Bewirtschaftungs- und Modernisierungskosten jedoch weiterhin hoch sind, werden Wohnungen, Grundrisse, Gebäude und Quartiere zunehmend multifunktional und ‚nutzungsneutral’ gestaltet“, schreiben die Trendforscher. Ein Stichwort ist hier der modulare Bau.

Master-Studiengang Smart City Solutions

Zum Wintersemester 2018/19 startete die HFT Stuttgart den neuen, in dieser Form weltweit einmaligen englischsprachigen Master-Studiengang Smart City Solutions. In drei Semestern sollen die Studierenden in einem internationalen Umfeld übergreifende Kompetenzen in den Bereichen ‚Smart’ Stadtplanung und Gebäude, ‚Smart’ Infrastruktur (Energie, Mobilität, Ressourcenmanagement, Resilienz) und Smart-City-Projektmanagement sowie Finanzierung und Digitalisierung erwerben.

https://bit.ly/2AhS479

Auch der demografische Wandel beeinflusse die Art, wie in Zukunft in Städten gebaut werde: Die Autoren vom Zukunftsinstitut glauben, dass ein Begriff wie „altersgerecht“ schon bald kein Teil des Marketings mehr sein werde – und zwar, weil diese Aspekte in neuen Gebäuden ganz selbstverständlich Teil eines generationenkompatiblen Entwurfs sein werden: „Ageless- und Universal-Design-Konzepte sorgen dafür, dass Wohnungseinrichtungen so gestaltet sind, dass eine flexible, leichte und intuitive Nutzung mit hoher Fehlertoleranz möglich ist. Barrierefreiheit und Ästhetik sind nicht länger ein Gegensatz.“ Auch an dieser Stelle zeigt sich, dass die Herausforderungen, die an Bauingenieure gestellt werden, groß sind. Es geht nicht nur darum, in bereits dichten Metropolen weiteren Wohnraum sowie eine Infrastruktur für Mobilität und Wirtschaft zu errichten: Was heute gebaut wird, muss nachhaltig und effizient sein sowie den steigenden Ansprüchen der Menschen in den Städten gerecht werden. So zu planen und zu bauen, ist nicht nur spannend, sondern eine ausgezeichnete Zukunftsperspektive: Die Urbanisierung schreitet fort, und auch für Bauingenieure sind die Metropolen dieser Welt in den kommenden Jahren ein entscheidender Jobmotor – Bauingenieure werden zum Urban Constructor.

Start-ups als neue Bau-Akteure

Wie jeder Trend fördert auch die Urbanisierung das Ideenreichtum in den Unternehmen. Neben den großen Konzernen etablieren sich Startups mit ungewöhnlichen Ideen. Zum Beispiel:

  • MQ Real Estate: Bauen dort, wo andere gar nicht auf die Idee kämen, zum Beispiel durch modularen Bau auf kaum genutzten Parkflächen.
    www.mqre.de
  • Cabin Spacey: Errichten von ökologischen Mini-Häusern auf Dachflächen.
    www.cabinspacey.com
  • Freeelio: Blockchain-Tools helfen, den Energiegewinn von Solaranlagen auf Dächern richtig auszunutzen.
    https://sites.google.com/view/freeelio-de

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