Dr. med. Lukas Fierz im Interview

Der Geschichtenerzähler

Sie sind neben Ihrer Tätigkeit als Neurologe auch Schriftsteller, waren als Nationalrat in der Politik. Was haben alle diese Tätigkeiten für Sie gemeinsam?
Mein Vorbild war immer der große Berliner Arzt und Politiker Rudolf Virchow: Nach ihm ist die Politik die Fortsetzung der Medizin mit anderen Mitteln. Mit Schreiben angefangen habe ich, als wir seinerzeit für Verkehrsberuhigung kämpften. In der Schweiz muss man dazu Volksabstimmungen gewinnen, da muss man halt schreiben können. Das hängt alles zusammen. Die Klimaerwärmung könnte das Ende der Menschheit bedeuten. Dann wird Medizin überflüssig. Die Lösung wird – wenn überhaupt – politisch sein und dann ist man halt auch als Bürger gefragt, nicht nur als Arzt.

Die Klimaerwärmung könnte das Ende der Menschheit bedeuten. Die Lösung wird – wenn überhaupt – politisch sein und dann ist man halt auch als Bürger gefragt, nicht nur als Arzt.

Die öffentliche Diskussion über Krankheiten – gerade auch psychische Krankheiten – wird weiterhin stark von Tabus bestimmt. Kaum jemand will über Depressionen reden, stattdessen werden verharmlosende Begriffe wie Burn-Out etabliert. Was muss passieren, damit sich der Diskurs ändert?
Depressionen – und auch das Burn-out – sind manchmal Ausdruck eines sinnentleerten Lebens. Und es ist natürlich tabu, zu sagen und zu schreiben, dass der Konsum, das Fahren eines Porsche und die Reise in die Karibik nicht glücklich machen, das tangiert wirtschaftliche Interessen. Es wurde übrigens überspitzt gesagt, dass die Serotonin- Reuptake-Hemmer – das ist eine Klasse der Antidepressiva – überhaupt erst möglich machen, diesen „American way of life“ auszuhalten.

„Begegnung mit dem Leibhaftigen“

Der Titel des Erzählbandes von Lukas Fierz ist doppeldeutig: Der „Leibhaftige“ ist umgangssprachlich der Teufel, das „Leibhaftige“ steht für das wahre Leben, abseits der „Political Correctness“, geprägt von Menschen, die überall dort, wo man sie trifft, Geschichten hinterlassen. Diese hat er als „Reportagen aus der heilen Schweiz“ in seinem ersten Buch versammelt. Fierz traf die Menschen in seiner ärztlichen Praxis, im Patientenzimmer und in Psychiatrien. Aber auch vor Gericht, im Parlament, auf der Straße. Der Autor wünscht sich: „Möge das Büchlein Funken schlagen, Widerspruch auslösen und helfen, die Dinge so zu sehen wie sie sind.“ Lukas Fierz: Begegnungen mit dem Leibhaftigen: Reportagen aus der heilen Schweiz. Tredition 2016. 12,60 Euro

In den Arztpraxen und Kliniken zeigen sich die Auswirkungen, die das moderne Leben auf die Menschen hat. Wünschen Sie sich, dass mehr Kollegen die Debatte mitbestimmen, in dem sie – wie Sie es getan haben – Eindrücke aus ihren Praxen auf die große Bühne stellen?
Ich würde mich missverstanden fühlen, wenn man mein Büchlein als „Eindrücke aus der Praxis“ bezeichnete. Das Büchlein stellt den Einfluss des „Leibhaftigen“ im Welttheater dar. Es ist Zufall, dass mein Blick auf die Welt aus dem Sprechzimmer ist, ich erlebte die Welt halt von dort aus. Aber auch Hotelconcierges, ein Personalberater, Postleute oder Polizisten könnten sicher viel erzählen, wenn sie mit offenen Augen durchs Leben gehen und sich erlauben, ihren Teil zu denken. Und ja, ich würde mir von jedem Bürger wünschen, dass er mitdenkt und Stellung bezieht.

Würden Sie sagen, dass Mediziner und gerade auch junge Ärzte darauf vorbereitet sind, auf welche menschliche Vielfalt sie in ihrem Beruf treffen?
In der Schweiz sind die Bienenvölker in 30 Jahren auf weniger als die Hälfte geschwunden. Wie ich gelesen habe ist es in Deutschland nicht besser. Wenn das weitergeht, ist mit Hungersnöten zu rechnen. Und werden wir es schaffen, die Klimaerwärmung aufzuhalten, nachdem wir schon jetzt auf dem besten Weg sind, die für 2100 erhofften zwei Grad Erwärmung bis 2050 zu erreichen? Wahrscheinlich wird ja nicht nur eines dieser Szenarien eintreffen, sondern mehrere zusammen. Und der finale gemeinsame Weg wird sein, dass Aggressionen anspringen. Dann erscheint der Leibhaftige wirklich und das betrifft dann nicht nur die Ärzte. Mein Buch habe ich Ende 2015 als Reaktion auf diese verdrängten Realitäten geschrieben, Sie könnten auch sagen als Notschrei aus der illusionären Blase.