Digitale Chancen

Foto: AdobeStock/NVB Stocker/Yeti Studio
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Die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens schreitet voran – wenn auch recht träge. Dabei liegen die Vorteile auf der Hand – für Patient*innen, Mediziner*innen und die Kostenstruktur des gesamten Systems. Gefragt ist nun die junge Ärzt*innen-Generation, die mit ihrem digitalen Mindset die Vorteile der neuen Techniken mit der notwendigen Sorgfalt bei Diagnosen und Datenschutz verbindet. Ein Essay von André Boße

Verschiedene Entwicklungen haben in den vergangenen Jahren die Digitalisierung im Arbeitsbereich von Ärzt*innen vorangetrieben. Eine davon war gewollt: 2019 verabschiedete der Bundestag das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG), das im Dezember 2019 in Kraft trat und unter anderem dafür sorgte, dass nun Gesundheitsapps verschrieben werden können und die Kosten von den gesetzlichen Krankenversicherungen übernommen werden. Das politische Ziel des Gesetzes: die Innovationskraft des Gesundheitssystems zu fördern. Dies passierte darüber hinaus als Folge eines Weltereignisses, das nicht geplant war. 2020 brach das Coronavirus aus, von heute auf morgen wurden im gesundheitlichen Bereich digitale Services notwendig.

Video-Sprechstunden, digitales Termin-Management, Entwicklung neuer Apps – was jahrelang nur schleppend voran ging, legte von Covid-19 angetrieben ein neues Tempo vor. „Das Auftreten des Corona-Virus und die damit verbundenen erheblichen Einschränkungen im öffentlichen Leben und des direkten Kontaktes haben auch im Gesundheitssektor vielfältige Rückstände bei der Digitalisierung aufgezeigt und in einigen Bereichen als Katalysator für eine massive Aufrüstung und Weiterentwicklung beim Einsatz von Informationstechnologie und digitalen Übertragungsformen gedient“, heißt es dazu in der Einführung der Studie „Ärztinnen und Ärzte im Zukunftsmarkt Gesundheit 2021/22“ der Stiftung Gesundheit.

Nur wenige Apps in der Anwendung

Konkret widmet sich die Befragung den Erfahrungen und Erkenntnissen, die Ärzt*innen in der Praxis mit Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGa) sammeln konnten. Die Ergebnisse lassen vermuten, dass in weiten Teilen der Ärzteschaft weiterhin eine Grundskepsis gegenüber der Anwendung medizinischer Apps vorherrscht: Zwar geben mehr als 80 Prozent der Teilnehmenden an, DiGa bereits eingesetzt zu haben oder dies bald tun zu wollen. Jedoch sagten auch 71,3 Prozent der befragten Ärzt*innen, ihren Patient*innen bisher noch nie eine App empfohlen zu haben. Zwar glaubt die deutliche Mehrheit der Studien-Teilnehmer*innen, dass gezielt eingesetzte Apps „überaus hilfreich“ sein können (rund 66 Prozent) und dass die den Arbeitsalltag von Ärzt*innen mittelfristig verändern werden (rund 60 Prozent) – und wenn Patient*innen dies wünschten, würden knapp 60 Prozent ihnen „mit Augenmaß“ Apps verschreiben. Im Praxisalltag jedoch spielen DiGa weiterhin eine kleine Rolle: Der Anteil der Ärzt*innen, die eine vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) geprüfte App auf Rezept verschrieben haben, liegt bei lediglich 14,3 Prozent.

eRezept: Stufenweiser Roll-out

Seit dem 1.9.2022 testet die Kassenärztliche Vereinigung in der Region Westfalen-Lippe das eRezept für verschreibungspflichtige Arzneimittel. „Der Rollout wird dabei eng begleitet, um Probleme schnell identifizieren und lösen zu können“, heißt es auf der Homepage der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Verläuft der Test erfolgreich, folgen zunächst sechs weitere Regionen. Danach wird das eRezept flächendeckend in allen Regionen der Kassenärztlichen Vereinigung umgesetzt. Seit Beginn des Rollouts mussten sich alle Apotheken in Deutschland bereithalten, elektronische Rezepte anzunehmen und zu verarbeiten.

Wo liegen die Gründe für diese Zurückhaltung? Das Ergebnis der Studie legt nahe, dass hier auch finanzielle Aspekte eine Rolle spielen: Laut Befragung stimmen 60,3 der Befragten der Aussage zu, dass Apps sich nur durchsetzen würden, wenn Ärzt*innen für ihren Einsatz auch angemessen bezahlt würden. Bei den potenziellen Risiken, die letztlich für Hemmnisse bei der Umsetzung verantwortlich sind, liegen laut Studie datenschutzrechtliche Bedanken mit 70,6 Prozent deutlich an erster Stelle, es folgen Zweifel an der Wirksamkeit der Apps (47,4 Prozent) und an der Motivation der Patient*innen, diese zu nutzen (45,6 Prozent). Häufig genannt wurden auch die mangelnden Möglichkeiten, als Behandelnder diese Apps zu testen.

Politik pocht auf digitale Transformation

Diese Vorbehalte sind verständlich. Aber: Es muss daran gearbeitet werden, sie zu überwinden. Das gilt auch im Bereich der Kommunikation der Akteure untereinander: Die Unternehmensberatung McKinsey hat in ihrem aktuellen eHealth-Monitor, der die Fortschritte im Digitalisierungsgrad des deutschen Gesundheitswesens analysiert, festgestellt, dass das System an einigen Stellen noch weitestgehend anlog tickt, „insbesondere beim Datenaustausch zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen“, wie es im Report heißt, „die Kommunikation zwischen Arztpraxen und Krankenhäusern erfolgt zu 95 Prozent immer noch in Papierform.“ Vor allem das Fax hält sich beharrlich, der Glaube jedoch, das Gesundheitssystem könnte es sich erlauben, sich den Vorteilen der Digitalisierung zu entziehen, wird schon bald von der Realität überholt werden. Schon allein deshalb, weil die politischen Weichenstellungen eine klare Richtung vorgeben.

Wir haben in Deutschland beim Thema eHealth im letzten Jahr einige Fortschritte gemacht, sind aber noch lange nicht am Ziel.

Neben den DiGa haben die Gesetzgeber auch der elektronischen Patientenakte (ePA), die seit Anfang 2021 alle gesetzlich Versicherten erhalten können, sowie dem eRezept, das seit September 2022 stufenweise realisiert wird, den Weg bereitet. „Wir haben in Deutschland beim Thema eHealth im letzten Jahr einige Fortschritte gemacht, sind aber noch lange nicht am Ziel“, wird McKinsey-Partnerin Laura Richter, Co-Autorin des eHealth-Monitors, in einer Zusammenfassung der Studie auf der Homepage der Unternehmensberatung zitiert. „Die größten Herausforderungen sind der flächendeckende Datenaustausch von Leistungserbringern insbesondere über ambulant-stationäre Grenzen hinweg sowie die Skalierung von ePA und eRezept in Richtung Patienten durch eine umfassende Informationskampagne.“ Wie wichtig diese ist, belegen die Zahlen der Studie: So zeige sich jeder zweite Patient digitalen Gesundheitsangeboten gegenüber aufgeschlossen, „doch es fehlt den Befragten eigenen Angaben zufolge an Information und Aufklärung über die digitalen Angebote“, heißt es in der Zusammenfassung.

Evidenz-Studien geben Vertrauen

Nachholbedarf gibt es auch bei den Evidenz-Studien zu medizinischen Apps in Forschungspublikationen. Solche Analysen sind es, die Ärzt*innen grundlegende Informationen über Wirksamkeit der digitalen Technologien geben. Zwar habe sich die Zahl der Veröffentlichungen zu App-Entwicklungen im Beobachtungszeitraum 2020 versechsfacht, im internationalen Vergleich hinke Deutschland jedoch weiter hinterher. So gab es in Großbritannien doppelt so viele publizierte Evidenz-Studien. Was die Beurteilungen der App-Wirksamkeit angeht, weisen – so der McKinsey-Report – 84 Prozent der Publikationen einen positiven Nutzeneffekt der digitalen Anwendungen nach, bei drei Viertel davon war das konkret ein verbesserter Gesundheitsstatus der Patient*innen. Zehn Prozent der Studien belegten höhere Kosteneffizienz, 14 Prozent eine Zeitersparnis für Ärzt*innen. „Diese Zahlen zeigen, dass eHealth-Anwendungen das Potenzial haben, Patienten bei nachhaltigen Verhaltensänderungen zu helfen – und Ärzt*innen und Pflegenden bei der Behandlung unterstützen können“, fasst Studien-Co-Autor Tobias Silberzahn die Ergebnisse zusammen.

Telemedizin: Potenzial noch nicht ausgeschöpft

Im deutschen Bericht der europaweiten Studie „Closing the digital gap – Shaping the future of European healthcare“ der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft Deloitte zeigt sich, dass beim Thema Telemedizin noch Luft nach oben ist. Für die Studie wurde medizinisches Personal befragt, inwiefern in den Praxen, Kliniken und Einrichtungen Technologien zur Betreuung von Patient*innen via Telefon und Videochat genutzt würden. Nur 30 Prozent der Befragten gaben an, Telemedizin zu nutzen. Einen Vorteil für die Patientenversorgung sehen hier jedoch mehr als doppelt so viele Teilnehmende, nämlich 64 Prozent. Zum Vergleich: In Ländern wie Dänemark und den Niederlanden nutzen bereits um die 60 Prozent der Befragten diese Technologien erfolgreich zum Dialog mit den Patient*innen.

Digitalisierung verspricht Milliarden-Entlastung

Einen weiteren Effekt der Digitalisierung des Gesundheitswesens stellten die Health-Expert*innen von McKinsey in einer Pressemitteilung im Mai 2022 in Aussicht: Der Einsatz digitaler Technologien gebe dem deutschen System eine „42-Milliarden- Euro-Chance“ – und zwar jährlich. „Durch den Einsatz digitaler Technologien können Versorgungsqualität und Kosteneffizienz erhöht und gleichzeitig Behandlung und Betreuung von Patienten sowie die Arbeitssituation des Personals im Gesundheitswesen verbessert werden“, heißt es in der Zusammenfassung der Analyse. Beziffert haben die Expert*innen das Effizienzpotenzial in sechs konkreten Bereichen:

  1. Online-Interaktionen, z. B. durch Tele-Konsultation oder Fernüberwachung chronisch Erkrankter: 12,0 Mrd. Euro.
  2. Umstellung auf papierlose Datenverarbeitung (elektronische Patientenakte und eRezept): 9,9 Mrd. Euro.
  3. Automatisierung von Arbeitsabläufen, z. B. durch mobile Vernetzung oder auf Barcodes basierte Medikamentierung: 6,7 Mrd. Euro.
  4. Datentransparenz, die Entscheidungen erleichtert, z. B. durch den Einsatz von Software, um Doppeluntersuchungen von Patienten zu vermeiden: 6,4 Mrd. Euro.
  5. Patientenselbstbehandlung, z. B. durch Gesundheits- Apps oder digitale Diagnosetools: 4,6 Mrd. Euro.
  6. Patienten-Self-Service, z. B. mit Onlineportalen zur Terminvereinbarung: 2,5 Mrd. Euro.

Beim Blick auf diese sechs Punkte und die Einsparungssummen, die dahinterstecken, wird klar, welchen Weg das transformierte deutsche Gesundheitswesen gehen muss: Im Zuge der Digitalisierung wird das System auf Services, Methoden und Techniken setzen, die in anderen Branchen längst zum digitalen Alltag gehören. Ärzt*innen stehen nun gemeinsam mit IT-Entwicklern und Gesundheitsmanagern vor der Aufgabe, diese Transformation im medizinischen Bereich so zu gestalten, dass die Effizienzversprechen eingelöst werden, dies aber nicht auf Kosten der Sicherheit und medizinischen Qualität geschieht. Natürlich herrschen im Gesundheitssystem gesonderte Bedingungen, zum Beispiel mit Blick auf den Datenschutz oder die Verantwortung der Mediziner*innen. Hier eine Balance zu finden, ist eine spannende Herausforderung, vor der heute und in naher Zukunft die junge Generation an Mediziner*innen steht – eine Generation, die ganz selbstverständlich ihr digitales Mindset in den Beruf einbringt. Sodass eher nicht zu befürchten ist, dass junge Ärzt*innen weiter wert

Künstliche Intelligenz und Virtual Reality

Der Umsetzungsgrad der Technologien KI und VR ist im Gesundheitsbereich bislang nur vereinzelt zu finden. Dies ist das Ergebnis einer Befragung von medizinischem Personal im Rahmen der Deloitte-Studie „Closing the digital gap – Shaping the future of European healthcare“. Im deutschen Gesundheitswesen gaben 7 Prozent der Teilnehmenden an, KI-Systeme zu nutzen. Bei Virtual-Reality-Anwendungen liegt die Zahl mit 4 Prozent noch niedriger. „Immerhin glaubt ein Drittel der Befragten, dass diese Technologien Vorteile für die Patientenversorgung bringen könnten“, heißt es in der Studienzusammenfassung von Deloitte.