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„Hochsensibilität ist eine Begabung“

Wie können hochsensible Menschen (auf Englisch „Highly Sensitive Persons“, HSP) ihren Beruf und Alltag besser meistern? Dipl.-Ing. Rolf Selling ist selbst hochsensibel und entwickelte Methoden für HSP. Nach dem Architekturstudium und der Redakteurstätigkeit bei Fachzeitschriften erlitt er einen Burnout. Heute ist er Heilpraktiker (Psychotherapie) und bildet als Autor und Seminarleiter vor allem Psychotherapeuten und Pädagogen für den Umgang mit Hochsensiblen aus. Das Interview führte Meike Nachtwey.

Herr Sellin, Sie haben Architektur studiert, heute arbeiten Sie als Autor und Seminarleiter – wie kam es zu diesem Wandel?
Nach dem Studium wurde ich erst einmal Redakteur von Architektur-Fachzeitschriften. Da konnte ich meine sprachliche Begabung mit dem Fachwissen gut verbinden. Typisch für hochsensible Menschen ist leider die Tendenz, zu hohe Ansprüche an sich zu richten, die sie am Ende nicht erfüllen können. So war es auch bei mir. Ich hatte mich bald selbst in einen Zustand manövriert, den man heute wohl als Burnout bezeichnen würde. Damals hatte ich professionelle psychotherapeutische Hilfe gesucht, doch musste ich bald herausfinden, dass ich nicht verstanden wurde. Also machte ich mich auf den Weg, um mir selbst zu helfen. Ich trug Techniken zusammen und entwickelte vor allem selbst Methoden, die für mich wirksam waren. Bald wollte ich dieses Wissen an andere weitergeben und wurde selbst zum Therapeuten.

Was macht hochsensible Menschen aus?
Hochsensibilität ist keine Krankheit, die man diagnostizieren könnte, es ist eine Wesensart und Begabung zu umfassender und differenzierter Wahrnehmung. Man weiß, dass 15 bis 20 Prozent der Menschen hochsensibel sind. Sie nehmen mehr und intensiver wahr als andere. Sie haben die Fähigkeit, weitere Zusammenhänge zu erfassen und ebenso den Dingen bis ins Detail auf den Grund zu gehen. Sie neigen dazu, nach Vollkommenheit zu streben. Deshalb können sie manchmal auch gründlicher und zugleich oft auch langsamer als ihre Kollegen arbeiten. Gleichzeitig sind sie hochmotiviert, engagiert und sehr empathisch. Sie haben ein starkes Verantwortungsbewusstsein und einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Ihre Fähigkeit, gut zuzuhören, macht sie zu beliebten Ansprechpersonen bei Problemen.

Beeinflusst Hochsensibilität die Berufstätigkeit?
Oft machen es sich hochsensible Berufsanfänger selbst viel zu schwer, weil sie viel zu viel wollen. Sie versuchen Vollkommenheit zu erreichen, obwohl die gar nicht gefragt ist. Sie setzen sich selbst dabei unnötig unter Druck. Und wenn dann äußere Anforderungen hinzukommen, ist das viel zu viel und kann zu Blockaden führen. Es hilft ihnen, sich immer wieder zu fragen: Worum geht es hier? Was ist (nur) gefordert? Wie erreiche ich das für den Arbeitgeber auf wirtschaftliche Weise und für mich als Arbeitnehmer auf nachhaltige Weise? Wenn Hochsensible nicht lernen, mit ihrer Wahrnehmung, ihren Grenzen und ihrer Energie umzugehen, kann es in der Lebensmitte leicht zu Krisen kommen, in Extremfällen sogar zum Burnout.

Welche Vorteile haben hochsensible Mitarbeiter für einen Arbeitgeber?
Sie sind oft gute Teammitglieder, ihre Art wirkt ausgleichend für das Arbeitsklima, sie gehen den Dingen gern auf den Grund und sind zuverlässig und hoch motiviert. Sie sind gewissenhaft und gründlich. Wenn sie die passenden Arbeitsbedingungen haben, wirken sie in einem Team wie Schmieröl im Getriebe. Wenn sie jedoch überreizt und überfordert sind, können sie auch zum Sand im Getriebe werden. Durch ihre andere Wahrnehmung entdecken sie schneller als andere, wo sich Probleme und Fehlentwicklungen anbahnen. Doch allzu leicht geraten sie dann in die Rolle eines unbequemen Bedenkenträgers, wenn sie nicht lernen, sich geschickt einzubringen. Doch auch dabei kann ihnen ihre Hochsensibilität nützen, wenn sie als Vorteil erkannt und bewusst eingesetzt wird. Sie spüren, worum es anderen geht, und verstehen sie. Das kann sich gut auswirken auf den Umgang mit Kollegen, Mitarbeitern, Vorgesetzten und vor allem auf den Kontakt zum Kunden.

Woran erkenne ich als hochsensibler Bewerber, dass das Unternehmen, für das ich mich interessiere, ein guter Arbeitgeber für mich ist?
Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten. Angebote, mit denen die Work- Life-Balance der Mitarbeiter unterstützt und gefördert werden, sind ein gutes Zeichen dafür, dass das Unternehmen sich um die Gesundheit seiner Mitarbeiter kümmert. Doch ebenso könnten diese Anstrengungen auch nur aufgesetzt sein. – Wohl dem Hochsensiblen, der noch auf seine feinen Antennen hört, der sich den Zugang zu seiner Intuition, seinem Bauchgefühl, hat bewahren können! Er spürt eher als andere, was für ihn passt.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Wie sollte sich die Arbeitswelt verändern, damit hochsensible Menschen besser darin klarkommen?
Als Hochsensibler wünsche ich mir, dass in Unternehmen mehr Gewicht gelegt wird auf Qualität als auf Masse, mehr auf Nachhaltigkeit und weniger auf schnellen Gewinn, mehr auf Verantwortung im weitesten Sinne als nur auf Eigennutz. Wenn Werte tatsächlich ernst genommen werden, dann sind Hochsensible beflügelt und geben ihr Bestes. Auch wenn Hochsensible ganz besonders intensiv auf Werte und das Gemeinwohl reagieren, wäre das wohl jedem Arbeitnehmer und uns allen zu wünschen.

Highly Sensitive Persons (HSP)

Buchtipp:
Rolf Sellin: Bis hierher und nicht weiter.
Wie Sie sich zentrieren, Grenzen setzen und gut für sich sorgen.
Kösel Verlag 2014. ISBN 978-3466309986. 16,99 Euro.

www.hsp-institut.de

Weitere Redaktionstipps:
Deutscher Informations- und Forschungsverbund Hochsensibilität
www.hochsensibel.org

Kompetenzzentrum für Hochsensibilität
www.aurum-cordis.de

Online-Tests: Bin ich hochsensibel?
www.hochsensibilitaet.org/online-test.html

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