„Die Digitalisierung verändert unsere Arbeitsweise“

Foto: AdobeStock/sebra
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Was bedeutet der digitale Wandel speziell für Ingenieure? Softwareingenieurin Dr. Christine Radomsky zeigt, welchen Vorteil Digital Natives in diesen Zeiten der Transformation haben. Die Fragen stellte Sabine Olschner

Zur Person

Christine Radomsky: Foto: Anette Hammer
Christine Radomsky: Foto: Anette Hammer

Dr. Christine Radomsky war lange Jahre Softwareingenieurin und Teamleiterin in Großkonzernen und hat die Digitalisierung mitgestaltet. Heute ist sie Internetunternehmerin und arbeitet als Coach mit Menschen, die sich in einem beruflichen Umbruch befinden. Mit ihrem Buch „Willkommen in der Welt der Digital Natives“ spricht sie vor allem Berufserfahrene an, damit sie sehen, welche Chancen, aber auch welche Risiken die Digitalisierung bietet.

Was sind eigentlich Digital Natives?
Den Begriff hat zuerst ein Bildungsberater aus den USA im Jahr 2001 verwendet. Er hat die verschlechterten Schulleistungen darauf zurückgeführt, dass die Schüler mit dem PC und dem Internet aufgewachsen sind, im Gegensatz zu den älteren Jahrgängen. So entstand die Bezeichnung Digital Natives. Die Presse hat den Begriff begeistert aufgenommen, denn es ist immer schön, wenn man irgendwo ein Etikett draufkleben kann. Später hat jemand anders definiert, dass Digital Natives all diejenigen sind, die ab 1980 geboren sind. Wenn Soziologen aber genauer hinschauen, stellen sie fest, dass die digitale Fitness nur bei einem Teil dieser jungen Leute vorhanden ist. Die Generation vor ihnen, also auch diejenigen, die das Internet erfunden haben, werden übrigens Digital Immigrants genannt, weil sie die Digitalisierung erst als Erwachsene kennengelernt haben. Auch das ist nur ein Etikett. Denn Menschen unterschiedlicher Altersgruppen teilen mehr Werte und Vorlieben, als man gemeinhin glaubt.

Digital Natives sollten also eigentlich schon mit der Digitalisierung vertraut sein. Was kann für Sie in Zukunft noch neu sein?
Künftig werden neue Algorithmen, Systeme mit künstlicher Intelligenz, Roboter, 3-D-Drucker und weitere Digitaltechnologien, die wir heute noch gar nicht kennen, immer mehr Branchen erobern. Ingenieure werden damit massiv konfrontiert sein und sogar daran mitwirken, neue Produkte und Dienstleistungen mit diesen Technologien zu entwickeln. Bei der digitalen Transformation, der Digitalisierung im weiteren Sinne, geht es hingegen nicht nur um digitale Technologien und Produkte, sondern auch um die Form der Arbeit und der Führung, um den Einfluss auf die Gesellschaft. Und das ist für alle neu und unbekannt.

Die schnelle Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat Dinge entstehen lassen, die wir uns bis vor Kurzem noch gar nicht vorstellen konnten. Haben Digital Natives hier für die Zukunft einen Vorteil? Oder ist das, was auf uns zukommt, nicht für alle neu?
Einfacher ist es sicherlich für die, die keine Berührungsängste haben – unabhängig vom Alter. Die Jüngeren sind jedoch meist nicht in so starren Strukturen festgefahren wie ihre Vorgängergenerationen. Das ist erst einmal ein großer Vorteil, wenn sie frisch in ein Unternehmen kommen. Diesen neugierigen, unbefangenen Blick sollten sie sich bewahren. Was in den nächsten Jahren an Umbrüchen im Rahmen der digitalen Transformation auf uns zukommt, betrifft allerdings Menschen jeden Alters – alle müssen lernen, dann damit umzugehen. Die Corona-Krise beschleunigt diesen Wandel. Millionen Menschen testen zum ersten Mal in ihrem Berufsleben, wie digitale Zusammenarbeit auf Distanz funktioniert. Home-Office, Videokonferenzen und Kollaborations-Tools – damit müssen heute viele klarkommen. Und das wird die Arbeitswelt nachhaltig verändern.

Manchmal stoßen in einem Unternehmen digital-affine Jüngere auf Ältere, die vielleicht keine Lust mehr haben, sich mit den digitalen Möglichkeiten zu beschäftigen. Wie sollten sich Berufseinsteiger verhalten, wenn diese zwei Welten aufeinanderprallen?
Mein Tipp: Suchen Sie sich Unterstützer sowie die Nähe von Leuten, von denen sie lernen können und die auch lernfähig sind. Grundsätzlich ist es immer gut, viel mit den neuen Kolleginnen und Kollegen zu reden und ihnen Fragen zu stellen. Außerdem sollten junge Ingenieure das Wissen, das sie im Studium erworben haben, großzügig teilen. So könnten sie zum Beispiel anbieten, vor dem Team etwas zu einer neuen Technologie vorzutragen. Ich persönlich finde, erfahrene Hasen und junge Leute frisch aus den Hochschulen können sich bestens ergänzen. Eine großartige Methode für Ihre eigene berufliche Entwicklung ist Mentoring. Dabei bitten Sie eine erfahrene Führungs- oder Fachkraft, Sie mit Praxis-Know-how und Insiderwissen zu unterstützen. Im Gegenzug können auch Sie Ihrem Mentor Wissen frisch von der Hochschule vermitteln, wenn das gewünscht wird.

Sie sagten, die Digitalisierung bringe auch eine neue Art der Führung mit sich. Wie schaut diese konkret aus?
Früher strebten viele Ingenieure an, Führungskraft zu werden, um in der Hierarchie aufzusteigen. Heute würde ich mir das überlegen. Der Trend geht nämlich eher zum Abbau von Hierarchien. Die Führung der Zukunft heißt: schlanke Strukturen, Hierarchieabbau und Führung mit Vertrauen, also auf Augenhöhe. Das heißt konkret: Es werden weniger Führungskräfte gebraucht, und sie werden Macht abgeben müssen. Stattdessen müssen sie die Bedingungen dafür schaffen, dass die Beschäftigten innovative Produkte schaffen und gut zusammenarbeiten. Außerdem wird jeder in Zukunft eine Führungskraft sein – und zwar führt sich jeder selbst. Bei der Selbstführung hinterfragt man sich ständig: Was sind meine Werte, was brauche ich, wozu kann ich etwas beitragen?

Was haben flache Hierarchien und Führung auf Augenhöhe mit der Digitalisierung zu tun? Das könnte doch auch alles gut ohne Digitalisierung funktionieren.
In der Tat: Wenn es keine Digitalisierung gäbe, wären das auch sehr schöne Führungsmodelle, die mehr Menschlichkeit an den Arbeitsplatz bringen würden. Aber die Digitalisierung zwingt uns dazu, unsere Arbeitsweise zu verändern. Die Digitalisierung und die Globalisierung haben zu einer riesigen Komplexität der Welt geführt. Alles ist mit allem vernetzt, alles geht immer schneller. Der Wandel ist enorm. Die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung sind oft nicht mehr eindeutig. Früher hatte der Chef eine gute Idee, und die Leute an der Basis haben die Idee ausgeführt. Wenn eine Firma heute am Markt bestehen will, bei dieser wahnsinnigen Geschwindigkeit und bei dem Konkurrenzdruck, dann muss sie ganz einfach das Potenzial von möglichst vielen Mitarbeitenden nutzen. Und das klappt nur, wenn die Leute auch gesehen und wertgeschätzt werden, wenn sie auf Augenhöhe geführt werden und Gestaltungsraum für selbstorganisierte Zusammenarbeit finden.

Es herrscht ja vielerorten die Angst, dass die Digitalisierung Arbeitsplätze reduziert. Müssen Ingenieure so etwas fürchten? Oder verändert sich einfach nur ihre Arbeitswelt?
Die Digitalisierung lässt in der Tat viele Aufgaben wegfallen, – auch solche von Wissensarbeitern. Aber auf der anderen Seite wird es neue Tätigkeiten geben, zum Beispiel die Gestaltung von Schnittstellen zwischen Mensch und Roboter. Die Menschen werden freier sein für anderes, für Neues. Ich denke, die Ingenieure sind hier auf der sicheren Seite, wenn sie lernfähig bleiben. Zwar kämpfen viele Unternehmen und Beschäftigte im Moment mit massiven Problemen. Doch junge Ingenieure werden bald zu denjenigen gehören, die die Wirtschaft wieder in Schwung bringen. Am besten stellen sie sich heute schon darauf ein: Nach dem Master geht das kontinuierliche Lernen weiter. Dabei bestimmen nicht nur die Unternehmen, sondern vor allem Sie selbst die Richtung.

cover digital nativesBuchtipp

Christine Radomsky: Willkommen in der Welt der Digital Natives. Wie Sie als erfahrene Arbeitskraft Ihre Stärken ausspielen. Redline Verlag 2020. 17,99 Euro (Amazon-Werbelink)