Die Lieferketten der Zukunft

Foto: AdobeStock/1xpert
Foto: AdobeStock/1xpert

Mit Beginn der Corona- Krise wurde schnell deutlich, wie anfällig die globalisierte Wirtschaft ist. Internationale Lieferketten, für viele Unternehmen unerlässlich und längst zur Normalität geworden, brachen zusammen. Was bedeutet das für die Zukunft? Von Christoph Berger

Als die Marke Volkswagen Pkw am 17. März 2020 bekanntgab, die Produktion in ihren europäischen Werken wegen der Ausbreitung des Corona-Virus sukzessive herunterzufahren, reagierte die Automarke nicht nur auf den sich abzeichnenden Nachfrageeinbruch auf den Automobilmärkten, sondern begründete diesen Schritt auch mit den zunehmenden Risiken aus den Lieferketten der Zulieferer. Die Versorgung unserer Werke mit Zulieferteilen werde immer schwieriger, sagte damals Ralf Brandstätter, Chief Operation Officer der Marke Volkswagen Pkw. Auch Daimler gab am gleichen Tag bekannt, den Großteil der Produktion sowie die Arbeit in ausgewählten Verwaltungsbereichen in Europa für zunächst zwei Wochen zu unterbrechen. Man beginne außerdem, die globalen Lieferketten zu überprüfen, die nicht in vollem Umfang aufrechterhalten werden könnten, hieß es in einer Mitteilung. Gleiche Maßnahmen mit ähnlichen Begründungen kamen von vielen weiteren Automobilherstellern.

Vonseiten des VDMA hieß es zeitgleich, dass knapp 60 Prozent aller Betriebe Beeinträchtigungen der Lieferketten spüren würden. Wenn Betriebe ihre Güter nicht weiter produzieren, störe dies die internationalen Wertschöpfungsketten, erklären kurz zusammengefasst Prof. Dr. Michael Hüther und Prof. Dr. Michael Grömling vom Institut der deutschen Wirtschaft. Ein solcher Angebotsschock könne dann einen Dominoeffekt zur Folge haben: Wenn Zulieferungen aus China fehlen, fallen auch die aus anderen Ländern und schließlich jene von inländischen Firmen aus. Dies sowie Nachfrageausfälle würden schließlich die gesamte Weltwirtschaft belasten.

Es braucht widerstandsfähige Logistiknetze

Bereits im Januar 2020, als das Corona- Virus die Produktivität Chinas stark dämpfte, wurde klar, dass internationale Logistiknetze vor neuen Herausforderungen stehen, heißt es auch vonseiten der TU Berlin. China zähle nicht nur zu den bedeutendsten Beschaffungsmärkten, sondern auch zu den wichtigsten Absatzmärkten der Welt. Das globale Thema Virus habe Auswirkungen auf nahezu jedes Logistiknetz – selbst dann, wenn es keine Verbindung zu China aufweise. Überall auf der Welt würden Lieferunterbrechungen entstehen, die gesamte Logistiknetze zum Erliegen bringen und die Verfügbarkeit von Endprodukten gefährden. „Wir müssen feststellen, dass etablierte Prognosemodelle für Kundennachfrage, Rohstoffbedarfe, Kapazitäten, Lieferzeitpunkte und damit verbundene Produktionsplanungen an ihre Grenzen stoßen“, sagt Prof. Dr.-Ing. Frank Straube, Leiter des Fachgebiets Logistik an der TU Berlin.

Straube erklärt aber auch weiter: „Lösungsansätze zur Planung und Steuerung widerstandsfähiger Logistiknetze existieren und wurden bereits in schwierigen Situationen erprobt. Sie müssen nun auf den aktuellen Prüfstand gestellt werden.“ Dabei sollten Unternehmen im Umgang mit der Krise vor allem die Robustheit ihrer Logistiknetze analysieren, ein dynamisches Störfall- und Risikomanagement etablieren sowie intelligente Zuverlässigkeitsprognosen entwickeln, rät der Experte.

Beispielsweise hat das Fachgebiet Logistik im Rahmen des Forschungsprojekts „Smart Logistic Grids“ ein Konzept für einen smarten Supply Chain Operations Room (Lieferketten-Leitstand) und eine globale Lieferketten-Cloud zur Bereitstellung und Verarbeitung von Echtzeitinformationen über Störfälle entwickelt und in der Praxis erprobt. Und im Forschungsprojekt „Smart Event Forecast for Seaports“ (SMECS) entwickelte das Fachgebiet durch die Anwendung von Verfahren der künstlichen Intelligenz (Machine Learning) ein intelligentes Assistenzsystem für maritime Transportketten.

Die Prognosegenauigkeit der Ankunftszeit globaler Lieferketten beim Endkunden hätte durch diese Anwendung drastisch erhöht werden können. „Viel wird in der Zukunft von intelligenten Zuverlässigkeitsprognosen abhängen“, sagt Frank Straube. Wenn Logistiknetze ins Wanken geraten und die Warenverfügbarkeit nur schwer sichergestellt werden kann, sind dynamische Prognosemodelle immer relevanter, um Planungssicherheit zu generieren.

Digitalisierung wird verstärkt

In Krisen ist es zudem die Systemfrage eine fast schon normal auftretende Begleiterscheinung: Zum Beispiel jene, ob nicht mehr viel mehr Produkte im Inland hergestellt werden sollten, um so zu mehr Unabhängigkeit zu kommen. Oder: Wird es nach der Corona-Krise deshalb zu einer Deglobalisierung kommen? Das Hightech-Forum, das zentrale Beratungsgremium der Bundesregierung zur Umsetzung der Hightech- Strategie 2025, legte in einem Anfang April 2020 veröffentlichten Impulspapier dar, dass Europa auch außerhalb der Krise über strategische Souveränität sprechen muss und Offenheit und Kooperation weiterhin die Gebote der Stunde sind. In dem Papier werden Wege aufgezeigt, wie die Zukunft der Wertschöpfung in der Plattformökonomie gestaltet werden kann – beispielsweise vor dem Hintergrund der Digital- und Datenstrategie der EU.

Das Gremium rät dazu, in immaterielle Produktionsfaktoren zu investieren, digitale Infrastrukturen zu schaffen sowie Innovationschancen zu nutzen, die sich durch Offenheit und Kooperation ergeben. Nachhaltige Produkte und Services sollten im Zentrum neuer Geschäftsmodelle stehen. Frank Riemensperger, CEO Accenture Deutschland und Sprecher des Thementeams „Zukunft der Wertschöpfung“ im Hightech Forum, fordert: „Unsere zukünftige Wettbewerbsfähigkeit müssen wir an unseren Stärken ausrichten. Der digitale Betrieb der physischen Welt ist hochkomplex – und eine Stärke der deutschen Industrie. Gemeinsam mit unseren europäischen Partnern müssen wir die digitale Transformation als Innovationschance begreifen. Die konsequente Digitalisierung der Produkte und Produktion über Unternehmensgrenzen hinweg eröffnet der deutschen und europäischen Industrie neue Geschäfte in der Datenökonomie. Leistungsversprechen mit gesellschaftlicher Relevanz, wie Nachhaltigkeit und Gesundheit, sind dafür notwendige Treiber.“

Zukunft der Wertschöpfung

Impulspapier „Zukunft der Wertschöpfung“ des Hightech-Forums

Dass diese Krise das Thema Digitalisierung beschleunigen wird – unter anderem auch, um mehr Transparenz in der Lieferkette zu erhalten, ist auch das eindeutige Ergebnis einer Umfrage unter Einkäufern durch den Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik. Allerdings lautet deren Antwort auf die Frage nach der Zukunft auch: „Wir können aktuell nur reagieren nicht agieren.“ Doch neben der Digitalisierung zeichnen sich noch weitere Trends ab: Einzelne Unternehmen bauen Lagerbestände auf oder rücken vereinzelt von Just in Time ab. Und die Befragung führte noch zu einem weiteren Ergebnis. Nach der Länge der Auswirkungen der Krise gefragt, antworteten die Einkäufer mehrheitlich: Die Überwindung der Krise ist das Eine, bis wir wieder auf dem Niveau von 2019 sind, eine ganz andere Frage.