Interview mit Thomas Bubendorfer

Tausende von Tagen hat er auf den Bergen der Welt verbracht: Extrembergsteiger Thomas Bubendorfer weiss, wie man sein Ziel erreicht und wie man mit Schwierigkeiten auf dem Weg dorthin umgeht. Mit Sabine Olschner sprach er über Mut, Scheitern und den Umgang mit Risiken.

Zur Person

Thomas Bubendorfer, 45, hat schon mit zwölf Jahren seine Liebe zum Bergklettern entdeckt. Der Extrembergsteiger hat über 70 Erstbesteigungen hinter sich, viele im Alleingang und ohne Seil. Er kletterte in Rekordzeit in den Alpen, den Anden, in Alaska und im Himalaja. Sein bisher einziger Absturz führte fast zum Ende seiner Karriere als Profikletterer, doch bereits ein Jahr später feierte er sein Comeback. In Vorträgen und Seminaren bringt er Managern und Führungskräften seine Leistungsphilosophie näher. Bücher wie „Senkrecht gegen die Zeit“ und sein neuestes „Ausgangspunkt Jetzt“ zeigen die Parallelen zwischen Bergsteigen und dem Job eines Managers. Thomas Bubendorfer ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in Österreich. Weitere Infos: www.bubendorfer.com

Was bedeutet für Sie persönlich Erfolg?
Erfolgreich ist man, wenn man genau das tut, was man sich selbst ausgesucht hat, und wenn man dieses Tun um seiner selbst Willen ausübt. Ich zum Beispiel bin Bergsteiger, weil ich gern klettere. Damit bin ich schon erfolgreich. Viele glauben, sie werden erfolgreich sein, wenn sie am Gipfel angekommen sind. Das ist meiner Ansicht nach ein Irrtum. Ich sage immer: Man kann nur jetzt erfolgreich sein und nicht künftig erfolgreich werden. Viele stecken in dieser Zukunftsfalle und vergessen über ihren Zielen die Gegenwart.

Und wie definieren Sie Scheitern?
Scheitern bedeutet, Dinge zu tun, die ich eigentlich gar nicht tun will, sondern die ich tun muss. Aber sobald der Mensch im Zwang steckt, kann er sein Leistungspotenzial nicht frei entfalten.

Scheitern bedeutet also nicht, sein Ziel nicht zu erreichen?
Nein, überhaupt nicht. Von außen betrachtet sind viele Top-Manager sehr erfolgreich: Sie stehen an der Spitze. Aber sie stecken oft in einer Zwangsjacke und funktionieren einfach gut. Doch wenn einer nur funktioniert, ist er für mich kein Gewinner, sondern ein Gescheiterter. Erfolgreiche Menschen sind frei. Leider kenne ich nicht viele freie Menschen.

Welche beruflichen Ziele sollte man sich stecken?
Ich halte überhaupt nichts davon, sich Ziele zu stecken. Ich finde es viel ehrenwerter, wenn jemand immer besser werden will. Auch ich arbeite ununterbrochen daran, dass ich nicht stehen bleibe. Schauen Sie sich etwa einen Künstler an: Was sollte der sich für Ziele stecken? Er kann nur an sich und seinen Talenten und Fähigkeiten arbeiten. Das Gleiche gilt für Manager. Es gibt kein Ankommen. Man ist ständig unterwegs. Ein Ankommen wäre ein Endpunkt – und davon gibt es nur einen, und das ist der Tod.

Das heißt, ein Gipfel ist für Sie gar kein Ziel?
Nein. Mein Ziel ist es, gut zu sein und besser zu werden. Ich habe zum Beispiel gestern erst zwei Erstbesteigungen gemacht. Beim Klettern habe ich nie daran gedacht, dass ich fertig werden könnte. Als ich oben war, habe ich nur gedacht: Schade, dass es jetzt dunkel wird, denn dort drüben gäbe es noch eine andere Möglichkeit weiterzusteigen. Am Ende der Besteigung war ich also an einem neuen Ausgangspunkt. Es gibt immer einen neuen Ausgangspunkt.

Wo sehen Sie weitere Parallelen zwischen Bergsteigern und Führungskräften?
Beide sollten sich ständig etwas Neues suchen: Orte und Situationen aufspüren, an denen sie noch nicht waren. Denn nur das Neue gibt den Reiz, dass wir uns weiterentwickeln. In dem Moment, in dem wir bekannte Wege gehen, wiederholen wir uns. Doch in der Wiederholung ist man nicht gespannt und aufgeregt, da ist nichts. Wir müssen stark aufpassen, dass wir nicht ins reine Funktionieren hineingeraten. Wer nur funktioniert und Dinge tun muss, reagiert nur noch und agiert nicht mehr. Das ist langweilig.

Welche Eigenschaften sind ihnen noch gemein?
Manager wie Bergsteiger sollten ein hohes Maß an Eigenverantwortung haben: Ich bestimme, wo die Reise hingeht. Ich lasse mich nicht durch zig E-Mails und Meetings am Tag fremdbestimmen. Ich bin die Führungskraft. Also führe ich. Und das fängt bei mir selber an. Wenn man sich selber nicht führen kann, wird man auch andere nicht führen können.

Was kann man denn gegen diese „Fremdbestimmung“, die ja für viele Manager Alltag ist, tun?
Als Bergsteiger, der sehr auf Effizienz konzentriert ist, frage ich mich ständig: Was ist wirklich nötig? Also: Was muss ich wirklich in die Berge mitnehmen, was muss ich wem kommunizieren, wie viel muss ich trainieren? Manager könnten sich immer wieder fragen: Muss ich wirklich in zehn Meetings anwesend sein? Muss ich alle 100 Mails beantworten? Muss ich wirklich 12 oder 14 Stunden täglich arbeiten? Sie werden sehen, dass sie viel Einsparungspotenzial finden werden, denn vieles ist nicht wirklich nötig.

Wie motivieren Sie sich für große Aufgaben wie eine Erstbesteigung?
Für große Aufgaben brauche ich mich nicht zu motivieren, da motiviert mich die Aufgabe selbst. Es fällt mir viel schwerer, mich im Täglichen zu motivieren, bei den uninteressanten Sachen, die mir nicht so eine große Freude machen. Aber auch das ist eine Herausforderung. Man muss halt einen Schritt nach dem anderen machen. Das gilt für alles, was man tut.

Wie „trainiert“ man für den beruflichen Weg nach oben?
Indem man nicht zu weit nach vorn schaut. Im Management leben viele nicht in der Gegenwart, sondern haben immer nur ihre Ziele vor Augen. Ich frage in meinen Seminaren die Teilnehmer: Sind Sie ein Hellseher, dass Sie wissen, wo Sie und Ihr Unternehmen in fünf Jahren stehen werden?

Spielen auch Ausdauer, Kraft und Disziplin für Manager eine Rolle?
Selbstverständlich. Wobei ich Disziplin nicht für so wichtig halte. Denn wer etwas gern tut, dem braucht man nicht zu sagen, dass er üben muss. Ein Musiker etwa spielt einfach gern, weil er seine Fähigkeiten ständig verbessern und dahinkommen will, wo er noch nie gewesen ist. Von außen meint man vielleicht, er sei wahnsinnig diszipliniert – aber für ihn sind fünf Stunden Üben keine Kunst, weil er es gern macht.

Wie viel Mut braucht eine Führungskraft?
Ich glaube, sie braucht sehr viel Mut. Ich fürchte nur, dass die meisten Führungskräfte nicht sehr mutig sind. Viele reden von Veränderungen, aber wenn man dann einmal genau hinschaut, wird gar nicht viel verändert.

Wie sollten Manager und Bergsteiger mit Risiken umgehen?
Man soll sie suchen und nicht meiden. Denn der Mensch ist nur im Risiko gut, wenn etwas auf dem Spiel steht und es gefährlich ist. Das Neue ist gefährlich, denn das kennen wir nicht. Im Alten zu verharren, scheint zwar manchmal sicher, aber das ist manchmal noch gefährlicher, weil man sich nur vermeintlich sicher wähnt. Wenn ich in den Bergen bin, wo noch niemand zuvor geklettert ist, mache ich keinen Fehler, ich bin hundert Prozent wachsam und konzentriert. Wenn man voll gefordert ist, macht man keinen Fehler. Dann ist man einfach gut. Als Profi muss man also mit offenen Augen voll ins Risiko hineingehen. Ein Profi weiß, wie viel Risiko und Wagemut er sich zumuten darf. Wer sich zu viel zumutet, spielt nicht in der Profiklasse, sondern liegt schnell unten.

Und wenn doch mal ein Fehler passiert ist: Wie kommt man am besten heraus?
Indem man nicht jammert. Die Krise ist die beste Chance zum Lernen. Im Erfolg lernt man nicht. Da braucht man sich nur vor Augen zu halten, dass einem etwas gelungen ist. Wird man es beim nächsten Mal anders machen? Wahrscheinlich nicht, denn beim letzten Mal war man ja erfolgreich, weil man offensichtlich alles richtig gemacht hat. Aber wenn Sie nicht hinaufkommen, müssen Sie überlegen, was Sie beim nächsten Mal verändern können. Hier liegt die Chance, etwas zu lernen. Ein Misserfolg tut zwar weh, aber andererseits muss man die Chance sehen, die sich bietet. Eine Krise kann gar nicht so unangenehm und schmerzlich sein, als dass sie nicht trotzdem etwas Positives hätte.

Wenn man merkt, der Absturz ist unausweichlich – wie verhält man sich am besten, um Schadensbegrenzung zu betreiben?
Indem man loslässt, das verkürzt den Fall. Wenn man merkt, dass einem die Dinge entgleiten, dass nichts mehr geht, dann sollte man sich möglichst bald sagen: Ich kann es nicht ändern, das lass ich jetzt los.

Das gilt ja wohl nicht fürs Bergsteigen?
(lacht) Natürlich nicht. Wenn man da kurz vor dem Fall steht, muss man sich in Sicherheit bringen. Wenn ich in der Wand bin und merke, es geht nicht mehr, muss ich mich geordnet zurückziehen. Aber meist gehe ich dann auch nicht mehr unendlich oft an diese Stelle zurück, weil meine inneren Widerstände zu groß sind. Wenn die Widerstände auch nach mehrmaligen Versuchen nicht verschwinden, muss man es irgendwann sein lassen. Ich sage immer: Man kann nicht mit dem Kopf durch die Wand, man muss mit dem Herzen durch die Wand.

Wie überwindet man solche Rückschläge – und gewinnt vielleicht sogar Kraft durch sie?
Indem man sich klar vor Augen hält, was man gelernt hat. Nur weil ich auf einen Berg nicht hinaufkomme, stellt das ja nicht meine Liebe zum Bergsteigen infrage. Eine Begeisterung für eine Sache kann nicht mit dem Siegen stehen und fallen.

Haben Sie manchmal Angst?
Selbstverständlich.

Wie gehen Sie damit um?
Ich bin fast froh, wenn ich Angst habe, denn ansonsten könnte ich auch nicht mutig sein. Angst lässt mich vermeintliche Sicherheiten aufspüren. Nur wenn ich Angst habe, kann ich sicher sein, dass meine Schuhe richtig gebunden sind, dass der Pickel geschliffen ist, dass ich das Wetter kenne. Meine Angst lässt mich rechtzeitig schlafen gehen. Hätte ich keine Angst, würde ich vielleicht zu spät ins Bett gehen. Die Angst stellt einem Tausend Fragen.

Sie beherrschen also Ihre Angst?
Ja, denn Panik wäre unprofessionell, zu viel Risiko ist tödlich. Als Profi muss ich ein gewisses Restrisiko verantworten, ganz einfach deshalb, weil immer eines bleibt. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht, nicht am Berg, nicht in der Wirtschaft. Aber: Es gibt keine gefährlichen Berge, und auch Management ist nicht gefährlich. Es gibt nur Leute, die Fehler machen. Und die meisten Fehler sind hausgemacht. Denn Amateure kennen sich selber nicht so gut, wie ein Profi sich kennt.

Kennen Sie Manager, die in einem Höhenrausch sind?
Die meisten Manager, die ich kenne, befinden sich eher in einem zielfixierten Zwangstunnel. Sie merken nicht mehr, was um sie herum vorgeht. Sie wähnen sich auf einem Gipfel, sehen den nächsten – und dazwischen nichts. Alles was nicht direkt zum nächsten Gipfel führt, ohne den Umweg über das Tal, wollen sie gar nicht wahrnehmen. Sie wollen nicht das Tempo variieren, geben immer nur Vollgas. Auch das lernt der Bergsteiger: Du kannst Vollgas geben, aber du musst dem Körper und dem Geist auch Ruhephasen gönnen, um dann wieder in die nächste Hochleistungsphase hineinzukommen, ohne auszubrennen.

Worin liegt das Geheimnis, dauerhaft oben zu bleiben?
Das kommt auf die Definition an, was oben sein bedeutet. Wenn ich auf einer Position einfach nur bleiben will, muss ich gut funktionieren und möglichst wenig Risiken eingehen. Aber wenn oben sein für mich bedeutet, ein relativ freies und selbstbestimmtes Leben zu führen, muss ich gewisse Risiken eingehen. Ich muss immer wieder hinterfragen, ob das, was ich mache, mir auch wirklich Spaß macht, ob es das ist, was ich will. Und man muss auch mal mutig sein und verzichten können. Dann verdient man vielleicht weniger, aber dafür hat man ein schönes Leben. Denn ganz ehrlich: Führungskräfte haben ein hartes Leben.

Wie kann man sich denn gegen die dünne Luft, die oft oben herrscht, und den permanenten Druck wappnen?
Man sollte sich Gleichgesinnte suchen, andere, die genauso „ticken“ wie ich. Dann kann man sich gegenseitig unterstützen und sich hinterfragen. Das sehe ich auch als meine Aufgabe in meinen Seminaren: Ich stelle den Teilnehmern immer wieder die Frage, ob sie tatsächlich so weitermachen wollen wie bisher. Und wenn nicht, warum sie nichts daran ändern. Sie werden nicht 500 Meter tief stürzen. Ihr Risiko ist da geringer als meins.

Welchen Sinn sehen Sie eigentlich darin, extrem schwierige Berge zu bezwingen?
Das ist mein Leben. Der Sinn meines Lebens besteht darin, dass ich mein individuelles Potenzial ausschöpfe. Das gilt für mich und für alle: Der Sinn des Lebens ist es, immer so gut zu sein, wie man sein kann. Man muss nicht besser sein als der andere. Auch ich kann nur so gut klettern, wie ich es kann. Und nur ich weiß, wie gut ich klettern kann und ob ich noch besser klettern könnte. Das gilt auch für eine gute Führungskraft: Sie weiß, wie gut sie selber ist und wie weit sie sich selber noch entwickeln kann. Und sie muss auch wissen, dass sie nie ankommen und nie gut genug sein wird.