Interview mit Stephan Scholtissek

Stephan Scholtissek, Foto: Accenture
Stephan Scholtissek, Foto: Accenture

Kreativität allein reicht nicht aus, um den Standort Deutschland voranzubringen, meint Stephan Scholtissek, Sprecher der Geschäftsführung von Accenture Deutschland. Das 2004 von der Bundesregierung ausgerufene „Jahr der Innovation“ war ihm ein Gräuel, weil Innovation für ihn Erfindung plus Markterfolg bedeutet – und das dauert bekanntlich deutlich länger als nur ein Jahr. Scholtissek fordert Umsetzungskreativität.

Zur Person

Stephan Scholtissek, Jahrgang 1959, ist promovierter Biochemiker. Er begann seine Karriere beim Medizintechnologieunternehmen Dräger und entschied sich anschließend für den Wechsel in die Unternehmensberatung. Nach AT Kearney und Bain & Company ging er 1997 zu Accenture, wo er seit drei Jahren Sprecher der Geschäftsführung ist. Privat lebt Scholtissek mit seiner Familie in München. Sein Hauptthema: Innovationen in Deutschland.

Wie definieren Sie Kreativität?
Kreativität wird im Allgemeinen fast immer gleichgesetzt mit der Schaffung von Neuem, beispielsweise der Erfindung eines neuen Produktes. Meiner Meinung nach ist diese Definition zu einseitig, denn sie beschreibt nur den Erfindungsprozess. Doch es ist genauso wichtig, kreative Lösungen für den darauf folgenden Umsetzungsprozess zu finden, Antworten auf Fragen wie: „Wo finde ich meinen Markt?“, „In welchem Land führe ich mein Produkt ein?“, „Was unterscheidet meines von den Konkurrenzprodukten?“ oder „Wie viel Geld habe ich zur Verfügung?“. Dies erfordert kreative Herangehensweisen insbesondere in Bezug auf Marketing und Vertrieb. Dabei geht es darum, Probleme zu lösen, und diese Lösungen kreativ in die Realität umzusetzen. Diese Art der Kreativität wird aber oft nicht gesehen, und genau das ist Deutschlands Problem. Wir müssen weg von einem einseitigen Kreativitätsbegriff.

Inwiefern kann es Deutschland helfen, den Kreativitätsbegriff zu erweitern?
Aus wirtschaftlicher Sicht betrachtet gibt es nur drei Dinge, die wichtig sind: Rohstoffe, Bildung und Innovationen. Da wir in Deutschland keine Rohstoffe haben, bleiben für uns folglich nur zwei Bereiche übrig: Bildung und Innovationen. Frau Merkel hat recht, wenn sie sagt: Kreativität ist die Grundvoraussetzung für Innovationen – aber diese Art der Kreativität ist nicht Deutschlands Problem. Deutschland ist das Land der Ideen. Hier werden jedes Jahr Tausende Patente angemeldet, Konzepte entwickelt, Ideen vorgestellt – daran mangelt es uns nicht. Die Ideen für Produkte wie Computer, Telefaxe, Videos oder MP3-Player stammen aus Deutschland – vermarktet wurden sie jedoch woanders. Uns fehlt zunehmend die Fähigkeit, Ideen in die Realität umzusetzen. Das ist knochenharte Arbeit, die Kreativität, soziale Kompetenz und Unternehmertum erfordert. Wären alle diese Erfindungen dann auch in Deutschland produziert worden, hätten wir so viel Arbeit, dass wir sie mit eigenen Mitarbeitern gar nicht hätten abarbeiten könnten.

Welche Bedingungen müssen gegeben sein, damit Ideen nicht nur entwickelt, sondern auch in Deutschland umgesetzt werden?
Das Problem lautet: „Wie bekomme ich Produkte in den Markt?“ Eine Standard- oder gar Ideallösung hierfür gibt es nicht. Um aber die jeweils beste Lösung zu finden, müssen Wirtschaft und Politik endlich umdenken. Die Unternehmen müssen dem Thema Innovationen grundsätzlich mehr Aufmerksamkeit schenken. Es darf hier nicht immer nur um Kostenreduktion gehen, stattdessen sollten die Unternehmen ihre Prozesse und Produkte innovieren und dort entsprechend investieren, um den Umsatz zu steigern. Dabei braucht die Wirtschaft Unterstützung von der Politik. Diese muss die Rahmenbedingungen schaffen, so dass nicht nur Erfindungen gefördert werden, sondern vor allem der Schritt danach. So sollte zum Beispiel bereits die universitäre Ausbildung praxis- und produktorientierter sowie näher an der Wirtschaft ausgerichtet sein. Darüber hinaus sollte die Politik Unternehmensgründungen erleichtern, denn am Ende zählt ausschließlich der Markterfolg, nicht die Idee.

Werden Absolventen und Young Professionals in ihrem Studium darauf vorbereitet, kreative Lösungen zu entwickeln?
Nein, in der Regel lernen sie es dort nicht. Die technische und betriebswirtschaftliche Ausbildung in Deutschland ist sehr gut, aber sobald es darum geht, Lösungen unter begrenzenden Bedingungen umzusetzen, wird es schwierig. In der Regel fehlt es darüber hinaus an sozialer Kompetenz und unternehmerischem Denken. Also, in Summe fehlt die Basis, um wirtschaftlich kreative Lösungen zu entwickeln, sowie das Wissen um die Notwendigkeit dieser Themen. Und da mangelt es dann eben auch an der Fähigkeit, Umsetzungsprobleme kreativ zu lösen.

Was können Young Professionals tun, um „umsetzungskreativer“ zu werden?
Sie sollten schon während des Studiums Praktika absolvieren, um sich mehr mit der Realität in der Wirtschaft zu beschäftigen. Dabei sollten sie gezielt dort hingehen, wo es brennt. In ein Projekt, das tatsächlich umgesetzt wird, um zu lernen, wie Unternehmen in der Praxis agieren. Gleichzeitig lernen sie am eigenen Leib die Gesetze von Marketing und Vertrieb kennen, wenn sie sich mit den Fragen „Wie muss ich mich vermarkten? Was mache ich? Wie bekomme ich das verkauft? Was kriege ich dafür? Lohnt sich mein Einsatz?“ beschäftigen müssen.

Können die Hochschulen ihre Studenten dabei unterstützen?
Der Bologna-Prozess ist hier äußerst hilfreich. Die Schaffung eines zweistufigen Systems von Studienabschlüssen, um auf der einen Seite den Hochschulnachwuchs zu fördern und auf der anderen Seite praxisorientiert auszubilden, wie es beim Bachelor der Fall ist, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es sollte zur Regel werden, dass zwischen Bachelor und Master eine Praxisphase liegt. Arbeit und Ausbildung müssen parallelisiert oder zumindest hintereinander geschaltet werden, um umsetzungsstarke Mitarbeiter heranzuziehen.

Sind das die Top-Manager von morgen?
Zunächst einmal: Den Top-Manager der Zukunft gibt es nicht. Es zeichnen sich zwei Modelle ab: Einerseits die rationalen Unternehmensführer, die analytische und synthetische Fähigkeiten vereinen. Andererseits ein Führungs-Tandem bestehend aus einem Vorstandsvorsitzenden, der in der Lage ist, die Unternehmensstrategie nach außen und nach innen zu kommunizieren, und einem Finanzvorstand, der diese Kompetenzen entsprechend ergänzt. Wenn sie zusammenarbeiten, sind sie immer besser als einer allein. Auf der zweiten Managementebene brauchen wir Manager, die sowohl Ideen entwickeln als auch umsetzen können. Sie müssen in der Lage sein, stabile Prozesse zu betreiben und neue Produkte auf dem Markt einzuführen. Als Projektleiter und -lenker müssen sie inhaltlich stark und sozial kompetent sein, sie sollten das Programmmanagement verstehen und unternehmerisch denken, gleichzeitig dürfen sie nur wenig hierarchisch orientiert sein. Das sind die Führungskräfte von morgen, aus denen sich Top-Manager entwickeln.

Was können Young Professionals auf jeden Fall tun, um gute Führungskräfte zu werden?
In ihren ersten drei Karrierejahren sollten Young Professionals auf jeden Fall im nächsten schwierigen Projekt mitarbeiten, wenn irgend möglich sogar die Leitung übernehmen. Nur so können sie lernen, Ideen in die Realität umzusetzen. Dann sollten sie Führungsverantwortung für Mitarbeiter übernehmen. Darüber hinaus halte ich es für ganz wichtig, dass Manager sozial kompetent sind. Dazu sollten sie sich aus dem Alltagsgeschäft herausnehmen und ein Corporate Social Responsibility Projekt, beispielsweise in der Stiftung ihres Unternehmens, übernehmen. Danach, etwas später in der Karriere, ist es wichtig, Finanzverantwortung zu übernehmen, indem man ein festgelegtes Budget managt. Und schließlich sollte ein guter Manager den Kundenkontakt im Marketing oder im Vertrieb selbst kennen gelernt und gelebt haben.

Gibt es Arbeitsformen, die sowohl die Ideenfindung als auch das Finden einer Lösung zur kreativen Umsetzung fördern?
Ja, interdisziplinäre, weitgehend hierarchiefreie Projektarbeit, übergreifend über alle Funktionen. Alle Beteiligten erarbeiten gemeinsam Ideen und Lösungen. Unterstützen kann man dies mit einem entsprechenden Rahmen: keine festgelegten Büros, sondern unterschiedliche Räume, die nach Bedarf und Anlass genutzt werden können. So kann sich Kreativität frei entfalten.

Wie kamen Sie auf die Idee, einen Roman zu schreiben?
Accenture bemüht sich sehr um Innovationen im Land. Das Problem ist aber, dass Innovationen immer mit Erfindungen gleichgesetzt werden. Erfindungen alleine reichen jedoch nicht, wir müssen sie auch in den deutschen Markt bringen. Unser Bemühen ist es, dieses Verständnis für Innovationen zu stärken. Denn nicht nur Produkte, sondern auch Prozesse können innoviert werden: Prozessinnovationen ändern zwar wenig am Produkt, aber sie ermöglichen es, Produkte zu anderen Kosten herzustellen. Wir von Accenture haben zu dieser Problemstellung Sach- und Fachbücher geschrieben, die von vielen interessierten Wirtschaftsleuten gelesen werden, aber eine Breitenwirkung haben sie leider nicht. Der Durchschnittsleser beschäftigt sich nicht mit dem Thema Innovationen. Daraus wurde die Idee geboren, ein anderes Medium zu wählen, um diese Leute mit einer anderen Form von Text zu erreichen. Auf die Frage: „Wie kann ein durch Innovationen positiv weiterentwickeltes Deutschland aussehen?“ habe ich mit „Stromland“ eine mögliche Antwort gesucht und aufgeschrieben.

Worum geht es genau in Ihrem Roman „Stromland“?
Es gibt zwei Ebenen: Zum einen gibt es die Geschichte, die erzählt wird, zum anderen den Inhalt, der meine Vision transportiert. Die Geschichte ist schnell erzählt: Drei Studienkollegen sind unzufrieden mit dem Deutschland um das Jahr 2005 herum, jeder der drei reagiert darauf unterschiedlich: Sven Laufer, die Hauptfigur, wandert aus, der eine Kollege geht in die Politik, sein dritter Kollege macht sich selbständig. Alle versuchten in ihren neuen Positionen, den Standort Deutschland voranzubringen. Die dahinter liegende Vision ist eindeutig: Wir haben in Deutschland die Ideen, wir müssen sie „nur“ realisieren. Dieser Wirtschaftsroman zeigt, wie es in Deutschland in 15 Jahren aussehen kann, wenn wir endlich wieder anfangen, Ideen in die Tat umzusetzen.

Was können junge Führungskräfte von „Stromland“ lernen?
Das Buch an sich ist ja keine Handlungsanweisung, sondern es will eine Vision zeichnen. Lernen kann man daraus, dass man sich mit etwas, mit dem man unzufrieden ist, nicht abfinden sollte, sondern man sollte überlegen, wo für einen selbst der Weg ist, die Dinge zu ändern. Man kann lernen, dass es sehr viele Möglichkeiten gibt und dass jeder für sich entscheiden muss, welcher Weg der richtige ist. Denn sobald man aufhört, selbst zu agieren, wird man vom System getrieben. Das wiederum führt dazu, dass man sich nicht weiterentwickelt, sondern stagniert. Wir in Deutschland dürfen die Innovationsseite einfach nicht unterschätzen. Wir haben keine Rohstoffe, also müssen wir uns darum kümmern, unsere guten Ideen umzusetzen und damit mehr Arbeit zu schaffen. Jeder kann mithelfen, Arbeit in Deutschland zu schaffen. Die Alternative ist, sich woanders Arbeit zu suchen.

Ist Auswandern also die Lösung?
Es ist nicht die Lösung. Die aktuelle Auswanderungswelle, vor allem von Akademikern, ist die logische Konsequenz, wenn der Standort, also Unternehmen und Staat zusammen, nicht genügend Arbeit bereitstellen kann. Der Staat muss die Rahmenbedingungen setzen, um Ideen und Innovationen umsetzen zu können und damit Arbeit zu schaffen. Die Unternehmen müssen die Innovationen in Markterfolge umsetzen. Wenn wir das nicht hinbekommen, dann gehen noch mehr weg.

Würden Sie also John F. Kennedys Ausspruch „Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst“ in Bezug auf Deutschland umkehren?
Nein, das ist mir zu einseitig. Es sollte weder so sein, dass jeder sich nur um sich selbst kümmert, noch dass der Staat sich weiterhin um alles kümmern will, wie er es in Deutschland die vergangenen 60 Jahre getan hat. Die Balance muss wieder gefunden werden: Der Staat muss sich seinen hoheitlichen Aufgaben widmen und Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass Unternehmen und Menschen Innovationen voranbringen können. Im Gegenzug dazu sind Unternehmen und Individuen für ihre Bildung und ihre Fähigkeit, Lösungen kreativ umzusetzen, selbst verantwortlich. Es ist wie ein Dreiklang, der wiederhergestellt werden muss: Der Staat schafft die Rahmenbedingungen, die Unternehmen setzen Innovationen um, und das Individuum muss entsprechend ausgebildet und leistungswillig sein, um den Standort Deutschland nach vorne zu bringen.