Reinhard Georg Birkenstock

Zwischen Schuld und Sühne

Ben Matlock oder Perry Mason – amerikanische Gerichtssäle hat man im Kopf, wenn man an die Arbeit eines Strafverteidigers denkt. Näher an der Realität: Die Arbeitswoche des Kölner Strafverteidigers Reinhard Georg Birkenstock. Von Reinhard Georg Birkenstock

Eine Woche meines Berufslebens soll ich zu Papier bringen Kölner Strafverteidiger Reinhard Georg Birkenstockund das, was ich mir als Strafverteidiger beim Rückblick auf die eigene Arbeit so für Gedanken mache. Vorab: die Arbeitswoche eines Strafverteidigers hat sieben Tage und jedenfalls dann, wenn ein Mandant in Untersuchungshaft sitzt, der nun wirklich nicht dahin gehört, dauert der Arbeitstag eines Strafverteidigers viele Stunden, nämlich vom Aufwachen bis zum Einschlafen. Fangen wir also an.

Sonntag, 7. Dezember 2003

Es ist der zweite Advent, mit zwei Mandanten muss unbedingt heute gesprochen werden. Bei beiden wurde das Mandat in laufender Hauptverhandlung vor der Strafkammer übernommen. Im Brandstiftungsfall war der Vorgänger entlassen worden, weil er sich mit der Strafkammer auf eine Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren verständigt hatte, obwohl der Mandant jede Tatbeteiligung bestreitet. Im anderen Fall geht es um den Vorwurf der Vergewaltigung in einer Beziehung, mein Vorgänger hatte das Mandat niedergelegt.

Wir teilen uns die Arbeit. Meine als Mediatorin in meiner Kanzlei tätige Frau befasst sich mit der Sacheinlassung des Mannes, der als Außenstehender dafür verantwortlich sein soll, dass ein Unternehmer seine Fabrik in Brand gesetzt hat, indem er ihm Leute zur direkten Tatausführung beschafft habe.

Ich widme mich dem Mann, der nach einem Streit eine Freundin vergewaltigt haben soll und behauptet, es sei von beiden Seiten freiwillig geschehen. Die häufigste Frage an den Strafverteidiger: „Kann man dann überhaupt verteidigen, wenn man, gerade bei Gewaltdelikten, weiß, dass der Angeklagte schuldig ist?“.

Wie so oft, auch auf diese Frage gibt es keine generelle Antwort. Zunächst kommt es sicher darauf an, wie man verteidigt. Man muss die (möglichen) Opfer bei der Befragung nicht in den Dreck ziehen. Und: Je älter man wird, ich bin 59 Jahre alt und seit 1975 selbstständiger Anwalt, umso sokratischer wird es einem: man weiß immer mehr, dass man nichts weiß.
Vor der Tagesschau verlassen beide Mandanten das Haus.

Montag, 8. Dezember 2003

Statt des geplanten Besuchs in der JVA Rheinbach wegen der Besprechung eines Wiederaufnahmeverfahrens nach einer rechtskräftigen Verurteilung wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe Hauptverhandlung in Köln. Den Besuch nimmt statt meiner eine junge Kollegin wahr.

In der Hauptverhandlung in der Vergewaltigungssache herrscht dünne Luft. Unter anderem wegen des Verteidigerwechsels und wegen der Beweisanträge macht der Vorsitzende eine Äußerung, die der Verteidigung unterstellt, man benenne bewusst einen kranken Zeugen, um das Verfahren platzen zu lassen. Daraufhin wird er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Ein Antrag, der wenig Freude auslöst und dessen Bearbeitung sich über die ganze kommende Woche hinziehen wird.

„Strafverteidigung ist Kampf, solange es um die Schuld oder Unschuld des Mandanten geht“ schreibt Hans Dahs in seinem „Handbuch des Strafverteidigers“, das jeder, der mit dem Gedanken spielt, Strafjurist zu werden, Staatsanwalt, Richter oder Verteidiger, zumindest einmal quergelesen haben sollte.

Die Hauptverhandlung wird am Spätvormittag unterbrochen. Mittags Besprechungen: Ein Ehepaar will wissen, welcher Schadensersatz ihm zustehe nach Einstellung des Mordverdachts-Ermittlungsverfahren gegen den Ehemann, der sich als unschuldig erwiesen hatte. Die Auskunft enttäuscht. Der Staat gewährt nur wenig Entschädigung bei zu Unrecht erfolgter Strafverfolgung.

Weitere Besprechungen bis in den Abend, in den meisten geht es darum, dass ich bei feststehender Schuld für möglichst milde Strafe sorge. Strafmaßverteidigung nennen wir das, und funktional definiert Hans Dahs das in seinem Klassiker mit der gebräuchlichen Definition von Politik, nämlich mit dem Begriff der „Kunst des Möglichen“. Recht hat er auch hier. Man muss verhandeln wie ein Politiker, um bei dem Staatsanwalt oder dem Richter möglichst viel Verständnis für das Verhalten des Mandanten zu wecken und beim Mandanten muss man dafür sorgen, dass er nicht zu rechthaberisch ist.

Otto Schilly hat das einmal mit dem Wort „optimieren“ beschrieben. Man müsse den Mandanten für die Justiz, deren Vertreter für die Sache des Mandanten optimieren.

Dienstag, 9. Dezember 2003

9 Uhr 15 Hauptverhandlung gegen einen Kollegen, der der Gegenseite seines früheren Mandanten zu viel Vertrauen in dessen Anlagetätigkeit geweckt und deshalb seinem Mandanten Beihilfe zur Untreue geleistet haben soll.

Der Hauptzeuge, nämlich der frühere Mandant des von mir verteidigten Kollegen, lebt in Lichtenstein und hat sich per Telefax krank gemeldet. Da lacht das Herz des Verteidigers, wie immer, wenn er eine Position des Verfahrensrechts ausnutzen kann, um eine Verurteilung des Mandanten zu verhindern, zu erschweren oder zumindest hinauszuzögern.

In der Sache hat mich schon als Student das Zivilrecht, besonders die perfekte Redaktion des BGB weitaus mehr begeistert als das Strafrecht. Diese ewigen Abgrenzungsklausuren oder -hausarbeiten, Diebstahl oder Unterschlagung, Betrug oder Untreue, ödeten mich eher an. Als Strafverteidiger habe ich mit solchen Abgrenzungen auch eher selten zu tun. Jedenfalls weitaus weniger, als die Richter und Staatsanwälte, deren Kernaufgabe es ist, ermittelte oder in der Hauptverhandlung festgestellte Sachverhalte zu ordnen und zu subsumieren.

Der Verteidiger arbeitet weitaus ergebnisorientierter. Ob sein Verhalten als Diebstahl oder Unterschlagung gewürdigt wird, ist dem Mandanten schnuppe. Freispruch will er haben oder Einstellung wegen Geringfügigkeit, Paragraf 153 a StPO, oder eine Verwarnung mit Strafvorbehalt oder wenn es nicht anders geht, Geldstrafe oder Bewährung. Um die Höhe der Sanktion geht es dem Mandanten im Ergebnis und während des Verfahrens um das Vermeiden jeder medialen Erwähnung.

Hier hat das alles funktioniert. Nach kurzer Verhandlung ist die an der Gerichtssaaltür angebrachte Rolle mit dem Namen des von mir verteidigten Kollegen, der unter Anklage steht, verschwunden, bevor ein Gerichtsreporter sie entdeckt hat. Die Sache ist vertagt worden. Gericht und Staatsanwaltschaft schlagen eine Einstellung wegen Geringfügigkeit vor. Mein Mandant hat drei Wochen Zeit, sich dazu zu erklären.

Nachmittags Besprechung mit dem deutschen Geschäftsführer eines internationalen Konzerns in einer Steuerstrafsache, in der viele Millionen Euro im Streit sind. Klar, worum es geht: nur so viele Steuern wie unbedingt nötig nachzahlen, möglichst keine Strafe und um Gottes wegen keine Publizität. Je vermögender die Mandanten sind, umso anspruchsvoller sind sie auch. Gott sei dank liegt der BRAGO auch das Institut der Honorarvereinbarung zugrunde, so dass man sich seine Mühe auch angemessen vergüten lassen kann.

Mittwoch, 10. Dezember 2003

7 Uhr 30 Aufbruch zur Hauptverhandlung vor der großen Strafkammer des Landgerichts Siegen. Es geht um den Brandstiftungsfall. Die Strafkammer hatte eine Verständigung vorgeschlagen: Der geständige Unternehmer sollte als Mittäter und mein jetziger Mandant als Haupttäter zu Freiheitsstrafen ohne Bewährung verurteilt werden.

Nur: mein Mandant sagt, er habe an der Tat nicht mitgewirkt. Bisher hatte er geschwiegen. Meine Ankündigung, er wolle sich im nächsten Termin zur Sache einlassen, findet großes Wohlwollen, die Atmosphäre ist hervorragend. Doch auch bei bester Atmosphäre liegt ein Überzeugungskampf vor uns. Von der Sacheinlassung meines Mandanten und von der Art und Weise, wie er die Fragen des Gerichts beantworten wird, hängt entscheidend ab, ob es uns gelingt, das Gericht von seiner Unschuld zu überzeugen.

Nachmittags Verlagsbesprechung. Es geht um die Präsentation und Bewerbung meiner Rechtsprechungssammlung „Verfahrensrügen im Strafprozess“, die ich in mehrjähriger Arbeit zusammengestellt habe.
Denn weitaus mehr noch als das BGB und seine faszinierende Struktur hatte mich schon immer die Frage interessiert, wie ernst der Staat die hehren Grundsätze der Menschenrechtskonvention und des Grundgesetzes nimmt, wenn es im Strafverfahren wirklich darauf ankommt.

Aus heutiger Sicht stelle ich fest, dass ich parallel zu meinem Interesse, wenn auch aus ganz anderen Gründen, den Aufbau meiner Strafverteidigerkanzlei betrieben habe. Von 1972 an habe ich Tag für Tag als Referendar in einer Zivilkanzlei gearbeitet, wurde dort alsbald nach meinem Zweiten Juristischen Staatsexamen Juniorsozius, um innerhalb dieser Zivilkanzlei mich auch Strafverfahren zu widmen. Erst seit 1980 bin ich (nahezu) ausschließlich Strafverteidiger. Zu verhandeln habe ich also im Umgang mit Ziviljuristen gelernt, ebenso wie den Gerichtsbetrieb als Parteivertreter.

Ich bin nicht undankbar für diese Schule. Zumindest ebenso wichtig ist jedoch der ökonomische Aspekt. Wie die Wirtschaftsprüfer und die Steuerberater leben die Zivilkanzleien von Dauermandanten, von Unternehmen und auch von Familien, die immer wieder dasselbe Anwaltsbüro aufsuchen, solange man dort nicht durch grobe Schnitzer oder missbräuchliche Behandlung für Vertrauens- und Mandatsentzug sorgt.

Wir Strafverteidiger haben die „guten“ Mandanten in der Regel nur einmal. Die Ärzte begehen, wenn überhaupt, nur einmal im Leben einen Kunstfehler, die Geschäftsleute und Unternehmer in der Regel nur einmal eine Untreue- oder Steuerstraftat. Und nur von denen, die als kleine, mittlere oder auch Gewaltkriminelle immer wieder auffällig werden, kann man sein Büro nicht finanzieren, geschweige denn leben.

Sicher, auch bei ihnen muss man einen vernünftigen Ruf haben, ebenso wie bei den Gerichten und den Staatsanwaltschaften, wirtschaftlich ganz entscheidend ist aber die Akzeptanz des Strafverteidigers bei den zivilrechtlich tätigen Kollegen. Sie müssen sicher sein, dass man den von ihnen empfohlenen Mandanten wirklich optimal verteidigt. Genauso sicher müssen sie wissen, dass man ihn nur in der empfohlenen Sache verteidigt und ihn mit allen übrigen Anliegen wieder in die Kanzlei zurückschickt, aus der man empfohlen wurde.

Donnerstag, 11. Dezember 2003

Haftprüfung gegen den Betreiber eines bordellartigen Betriebes, dem vorgeworfen wird, illegal in Deutschland lebenden Frauen die Ausübung der Prostitution ermöglicht und umfangreich Steuern hinterzogen zu haben. Die Entscheidung wird auf die nächste Woche vertagt.

Nachmittags Besprechungen, Strafmaßverteidigungen, eine Kleinstsache dabei: eine Studentin soll eine Nachbarin als „Schlampe“ bezeichnet haben.

Anschließend Weiterarbeit an dem Ablehnungsgesuch von Montag. Der abgelehnte Richter und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft haben sich dienstlich geäußert. Dazu muss akribisch Stellung genommen werden. Man muss schon sehr detailliert belegen, dass ein Richter auch bei Anwendung vernünftiger Maßstäbe durch einen besonnen Angeklagten durch sein Verhalten den Anschein geweckt hat, er stehe der Sache des Angeklagten nicht unparteiisch gegenüber.

Freitag, 12. Dezember 2003

Besuch eines türkischen Mandanten in der JVA, der auf der Basis eines Geständnisses angeklagt ist, gemeinsam mit anderen eine Serie von bewaffneten Raubüberfällen auf Spielhallen begangen zu haben. Der Staatsanwalt hat beantragt, das Gericht möge die Angeklagten darauf hinweisen, dass auch Sicherheitsverwahrung in Betracht komme. Das Gericht hat die Begutachtung durch eine ganz hervorragende psychiatrische Sachverständige angeordnet. Dazu ist Stellung zu nehmen.

Nachmittags Presseanfragen wegen der Einstellung des Verfahrens im Kölner Parteispendenskandal und Vorbereitung einer Besprechung mit der Geschäftsführung eines Unternehmens der Abfallwirtschaft. „Müllskandal“ heißt das in den Zeitungen.

Auch der Umgang mit den Journalisten ist wesentlicher Teil der Strafverteidigertätigkeit. Den Mandanten gilt es, vor voreiligen Unschuldsbeteuerungen und Beschimpfungen der Justiz zu bewahren, und zugleich ist dafür zu sorgen, dass der Mandant in den Medien nicht vorverurteilt wird. Ein manchmal interessantes, aber immer ein Betätigungsfeld, das höchste Konzentration erfordert.

Samstag, 13. Dezember 2003

Frei.

Einen Tag brauche ich. Wenn es eben geht, dass ich ihn mir frei nehme. Es sei denn, der Telefon-Notdienst ruft. Gemeinsam unter anderem mit der jetzigen Justizministerin von Schleswig-Holstein, Frau Rechtsanwältin Anne Lütkes haben wir in Köln vor vielen, vielen Jahren die Gefangenenberatung für mittellose Gefangene eingerichtet – und eben den Notdienst.

Der wird von allen möglichen Personen in Anspruch genommen. Familienkrach, Nachbarschaftsärger, manchmal auch nur schlechte Laune im Suff. Aber immer mal wieder auch von solchen, die völlig ratlos sind, weil sie vorläufig festgenommen wurden. Dann heißt es, zu welcher Tages- und Nachtzeit auch immer, rein ins Auto, hin zum Polizeipräsidium, Erstberatung durchführen und dafür sorgen, dass der Mandant und seine Familie wissen, dass sie nicht ohne Beistand sind.

Wenn ich jetzt hoffe, dass mich am Wochenende der Notdienst nicht trifft, dann ist das geheuchelt, denn natürlich machen das seit langem in meiner Kanzlei die jüngeren Kollegen für den Chef mit und rufen mich nur dann an, wenn es wirklich brennt oder es sich wirklich lohnt.

Strafverteidiger sind Einzelanwälte, in aller Regel jedenfalls. Sie werden von den Mandanten und Kollegen wegen ihrer Persönlichkeit empfohlen und können an die nachstrebende jüngere Generation nur behutsam delegieren. Wenn mal eine junge Juristin oder ein junger Jurist sich dazu entschließt, in einer Strafverteidigerkanzlei Fuß fassen zu wollen, dann sollte man als Grundvoraussetzung das Interesse für die Konfliktsituationen mitbringen, die jedem strafrechtlichen Vorwurf innewohnen, sollte bereit sein, auch mit dem eigenen Mandanten den Kampf um die Wahrheit zu führen.

Man sollte die wirkliche Bereitschaft dazu mitbringen, in der ersten Zeit dem Praxissenior oder der Praxisseniorin zu assistieren und dabei zuzuschauen, wie sich Strafverteidigung im Einzelfall organisiert, wie der sachgerecht vernünftige Umgang mit den Mandanten, den Mitverteidigern, den Beamten der Polizei und der Steuerfahndung, den Staatsanwälten und den Richtern gesucht und gepflegt wird. Nicht, um irgendwann einmal zu versuchen, die große Lehrmeisterin oder den großen Lehrmeister abzukupfern, sondern um die eigene Persönlichkeit darauf zu prüfen, ob man das mit den eigenen Mitteln nicht genauso gut oder noch besser kann.

Der Einstieg ist schwer, weil wir Strafverteidiger es sehr scheuen, durch eine voreilige Zusage die finanzielle Verantwortung für das Berufsleben einer jungen Kollegin oder eines jungen Kollegen mit zu übernehmen. Wir werden uns an der vermuteten Einsatzbereitschaft, Verhandlungskompetenz, am juristischen Wissen, also doch wieder an der Note, aber ebenso daran orientieren, ob wir es der Bewerberin oder dem Bewerber zutrauen, auch in der eigenen Juristengeneration Mandanten zu akquirieren, und ob wir davon ausgehen können, dass mit dem Mandanten und mit denen, die die Mandanten geschickt haben, sachgemäß und sorgfältig umgegangen wird.

Sonntag, 14. Dezember 2003

Vorbereitung der letzten Woche vor Weihnachten und Besprechung des Entwurfs für die Sacheinlassung in der Brandstiftungssache.